Weihnachtswundernacht 4

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Weihnachtswundernacht 4
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Thomas Klappstein (Hrsg..)


Erzählungen für die schönste Zeit des Jahres

Mit dabei sind:

Annekatrin Warnke, Christian Döring, Fritz Pawelzik, Albrecht Gralle, Klaus-André Eickhoff, Adrian Plass, Jürgen Werth, Martin Schultheiß, Christiane Ratz, Arno Backhaus, Klaus-Günter Pache, Carsten „Storch“ Schmelzer, Nelli Löwen, Eckart zur Nieden, Rainer Buck, Pierre Weiss, Rebekka Gohla, Corinna Meinold, Mickey Wiese, Fabian Vogt, Christina Brudereck, Christoph Zehendner, Petra Piater


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-953-5

© 2015 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia sergo 77

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort des Herausgebers

1. Advent auf dem Zwischendeck

ANNEKATRIN WARNKE

2. Teilen

CHRISTIAN DÖRING

3. Joes Erscheinung – Ein Engel im Chaos

THOMAS KLAPPSTEIN

4. Weihnachten mitten im November – wie wir im kalten Chicagoer Winter zu unserem Familienspruch kamen

FRITZ PAWELZIK

5. Torgaans Lieblingslied

ALBRECHT GRALLE

6. Das Leben, ein Kinderkrippenspiel

KLAUS-ANDRÉ EICKHOFF

7. Liebe Weggefährten am Ende des Jahres

ADRIAN PLASS

8. Existenziell berührt

JÜRGEN WERTH

9. Marokkanische Weihnacht

MARTIN SCHULTHEISS

10. Frei gemalt

CHRISTIANE RATZ

11. Politcally incorrect: Die Weihnachts-Geschichte – alles andere als normal

ARNO BACKHAUS

12. Hingehen! Hinsehen! Ankommen!

KLAUS-GÜNTER PACHE

13. Was vom Feste übrig blieb

CARSTEN „STORCH“ SCHMELZER

14. Der Funken Hoffnung aus einer anderen Welt

NELLI LÖWEN

15. Ich sehe was, was du nicht siehst

ECKART ZUR NIEDEN

16. Die Traumfrau

RAINER BUCK

17. Weihnachtswunder in der kanadischen Wildnis

PIERRE WEISS

18. Daheim in der Fremde

REBEKKA GOHLA

19. Der Christbaum

CORINNA MEINOLD

20. Weihnachten im Todestrakt

MICKEY WIESE

21. Fette Beute

FABIAN VOGT

22. Das Christkind

CHRISTINA BRUDERECK

23. Ausgerechnet die Hirten

CHRISTOPH ZEHENDNER

24. Wei(h)a, was ’ne Nacht

PETRA PIATER

Die Autorinnen und Autoren


Vorwort

Ein trüber Sonntagnachmittag am ersten langen Mai-Wochenende. Ostern ist vorüber und die ersten schönen, sonnigen Frühlingstage haben bereits Lust auf die warme Jahreszeit gemacht. Die erste Grillfete gab’s auch schon. An Advent und Weihnachten denke ich in diesen Momenten nicht wirklich. Doch das Vorwort für dieses Buch, den vierten Band der Weihnachtswundernacht, steht noch auf meiner Agenda. Da kommt mir dieser etwas dunklere Sonntagnachmittag im Mai ganz recht. Wettermäßig rücken das Weihnachtsfest und die vorgeschaltete Adventszeit etwas näher. Wenngleich das satte Grün der ausschlagenden Bäume nicht hundertprozentig dazu passt. Die äußeren Bedingungen zu der Zeit, als das Weihnachtswunder seinen Ursprung hatte, bei der Geburt Jesu Christi vor ca. 2000 Jahren, waren wahrscheinlich ähnlich wie an diesem Tage, an dem ich diese Zeilen schreibe. Vielleicht gab es keinen Regen, aber sonst könnte es passen.

Doch wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, diese Zeilen lesen, hat sich die Welt schon wieder weitergedreht, haben die Jahreszeiten schon wieder gewechselt und wir stehen auf der Schwelle in eine andere Zeit. Sind Sie schon bereit für den Weg durch die Vorweihnachtszeit? Die kommenden Wochen haben ihr eigenes Tempo, sind oft von Stress bestimmt. Bremsen Sie ab. Der Advent hat eigentlich seine eigenen, oft leisen Klänge. Doch sie werden meist von Hektik übertönt. Dieses Buch soll Ihnen helfen, wenigstens ab und an zur Ruhe zu kommen. Kleine literarische Oasen, die zum Nachdenken, Meditieren, gerne auch Diskutieren, und zum Schmunzeln anregen können.

Es liegen wieder 24 Texte von tollen Autorinnen und Autoren vor mir, die aufgeschrieben haben, was in und durch so eine Weihnachtswundernacht alles passieren kann. Fiktive Geschichten, auch persönlich erlebte Storys oder Impulstexte. Zum vierten Mal. In unterschiedlichen Facetten und Stilen. Man kann täglich eine Geschichte lesen oder auch mehrere auf einmal und dann einige Tage pausieren. Wie man Zeit oder Lust hat. Dabei kann es natürlich angehen, dass einen eine Geschichte einmal nicht so sehr berührt oder erreicht. Dafür geht einem anderen Menschen genau bei diesem Text gerade ein Licht auf, das er schon lange ersehnte und das ihn auf seinem Weg stärkt.

Eine Reihe Autorinnen und Autoren begleiten diese Weihnachtswundernacht bereits seit dem ersten Band. Neue sind hinzugekommen. Einigen der „Alten“ haben sich auch neue Möglichkeiten eröffnet. Jan Hanser zum Beispiel, den jemand nach seiner Veröffentlichung im ersten Band als „die Schreibentdeckung des Jahres“ bezeichnet hat. Von ihm erschien im Frühjahr 2015 sein erster Roman Die Jagd nach der silbernen Feder, im selben Verlag wie dieses Buch. Dieses Mal hat er dafür gesorgt, dass der erst 16-jährige Pierre Weiss als Autor debütieren kann.

Ein anderer Autor, Fritz Pawelzik, ist letztmalig mit einer Geschichte vertreten. Wenige Tage, nachdem ich ihn noch einmal persönlich getroffen habe und er mir fröhlich einen Text für dieses Buch zusagte, ist er in die Ewigkeit abberufen worden. Freud und Leid nah beieinander, auch im Advent. Dass seine Geschichte noch Eingang in dieses Buch gefunden hat, ist ein Privileg.

Während ich die Korrekturfahnen Ende Juni lese, werde ich von der traurigen Nachricht überrascht, dass ein Autor der ersten Stunde, Carsten „Storch“ Schmelzer, ebenfalls verstorben ist. Jung, mit erst 43 Jahren. Ein literarischer und theologischer Weggefährte, dessen Verlust mich sehr traurig stimmt. Seine Geschichte ist daher noch wertvoller.

Ich überlege, ob ich vor der Geschichte von Mickey Wiese eine Warnung aussprechen soll – phasenweise nichts für schwache Nerven und bei allem doch sehr weihnachtlich. Wenngleich sie keinem „weihnachtlichen Schmuseideal“ entspricht. Aber diese Linie verfolgt das Buch auch gar nicht …

Alle Autorinnen und Autoren eint das Ansinnen, einen besonderen, speziellen Advent zu erleben und eine Weihnachtszeit, die voller zu entdeckender Wunder steckt. Dank an alle, die mitgemacht haben und die sich jetzt zwischen zwei Buchdeckeln literarisch begegnen. Ihnen als Lesern wünsche ich wieder anregende Momente während unseres gemeinsamen literarischen Weges durch die Adventszeit. Gesegnete Adventstage und -wochen, eine frohe Weihnachtszeit und zumindest ein echtes Weihnachtswunder.

 

THOMAS KLAPPSTEIN


1. Advent auf dem Zwischendeck

„Bitte, Maria – du darfst nicht sterben! Halte durch! Wir haben es fast geschafft!“

Durch das schmutzige Gesicht des 15-jährigen, zitternden Jungen zogen seine Tränen helle Furchen. Jakob hatte bisher niemals geweint. Er hatte gelernt, harte Strafen und Schläge einzustecken, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Aber jetzt musste er in Marias Augen sehen, dass ihr Lebenslicht erlosch. Das durfte nicht sein! Sie hatten sich doch gerade erst vor ein paar Tagen gefunden! Für Jakob war Maria der erste Mensch, der ihm Liebe geschenkt hatte. Er war in einem Waisenhaus aufgewachsen, in der Nähe der großen Stadt Köln. Die Stadt freilich hatte er bis vor wenigen Monaten nie gesehen. Er kannte nur die grauen Mauern des Waisenhauses. Sie riegelten die festungsähnlichen Gebäude mit dem ungepflegten Garten voller Disteln und Dornenhecken nach außen völlig ab.

Das Leben zwischen diesen Mauern war für Jakob ein ständiger Albtraum. Er war klein und schmächtig – das ideale Opfer für Beppo und seine Bande. Die Jungs machten sich einen Spaß daraus, Jakob das Leben schwer zu machen. Wenn sie ihn nicht heimlich verprügelten – denn natürlich durften die Aufseher ihre Untaten nicht mitbekommen – dann versteckten sie seine Schulbücher oder seine Hausaufgaben. Wenn er dann vom Schulmeister mit dem Stock gezüchtigt wurde, feixte die Bande grinsend in der letzten Bankreihe.

Ungefähr an seinem letzten Geburtstag hatte Jakob beschlossen, aus dem Waisenhaus zu fliehen. Genau kannte er seinen Geburtstag nicht. Ihm war gesagt worden, dass man ihn am 8. Juli 1871 vor der eisernen Pforte der Anstalt gefunden habe. Als winziger Säugling hatte er nackt auf einem Bündel Lumpen gelegen. Bei seiner Flucht war er knapp fünfzehn. Es war nicht einfach gewesen, die „Festung“, wie er das Heim bei sich nannte, zu verlassen. Alle Fenster waren mit Außengittern gesichert, alle Türen nach draußen abgeschlossen – und dann noch diese unüberwindliche Mauer!

Jakob hatte sich eines Morgens auf dem Fuhrwerk des Milchmanns zwischen den großen Kannen versteckt. Da kam es ihm zugute, dass er so klein und schmächtig war. Unbemerkt von den Aufsehern, war er in die Freiheit gerollt. In Köln hatte Jakob sich dann mit Diebstählen über Wasser gehalten. Schließlich musste er essen, um zu überleben! Weil er im Waisenhaus gelernt hatte, schnell wegzurennen und sich gut zu verstecken, wurde er nie erwischt. Aber natürlich machte er sich Gedanken, was im Winter aus ihm werden sollte, wenn er nicht mehr im Freien leben konnte – schon gar nicht mit den dünnen Lumpen, die er am Leib trug.

Deshalb horchte er auf, als er zum ersten Mal von der „neuen Welt“ hörte. Er belauschte zwei Bauernburschen, die mit ihrem armseligen Handkarren offensichtlich nur auf der Durchreise in Köln waren. Die zwei wollten nach Amerika, einem wunderbaren Land, wo niemand aufgrund seiner Herkunft oder Religion verfolgt wurde, einem Land, wo es für jeden Arbeit gab. Jakob hatte beschlossen, dieses Land zu suchen, um es für sich zu erobern. Während er weiter zuhörte, erfuhr er, dass Amerika nur mit dem Schiff zu erreichen war.

Vierzehn Tage sollte die Reise über das große Wasser dauern, die Dampfschiffe fuhren ab Hamburg über den weiten Ozean. Hamburg! Das lag über 300 Meilen von Köln entfernt, Richtung Norden! Dort wollte er nun hin.

Jakob brauchte mehr als vier Monate, bis er zu Fuß am Hamburger Hafen angekommen war. Staunend wanderte er am Quai entlang. Er war so überwältigt, dass er für einen Moment den eisigen Seewind nicht spürte, der ihm durch sein löcheriges Hemd und um die nackten Beine pfiff. Sicher – er hatte auch in Köln schon Schiffe gesehen. Aber das waren nur Boote gewesen im Vergleich zu diesem imposanten Dampfschiff, das ihn über den Atlantik bringen sollte!

Und dann wurde dem Jungen bewusst, was er bisher verdrängt hatte: Er würde Geld brauchen, um die Überfahrt zu bezahlen. Selbst die Unterbringung in der untersten Klasse, im Massenquartier im Zwischendeck, war ja für ihn unerschwinglich! Verzweifelt hockte er sich frierend auf ein zusammengerolltes Tau, stützte den Kopf in die Hände und schloss mutlos die Augen.

Da strich ihm plötzlich eine Hand sanft über den Kopf und eine freundliche Frauenstimme fragte: „Warum bist du so traurig? Kann ich dir helfen?“

Jakob war völlig verwirrt. Noch nie hatte jemand freundlich mit ihm gesprochen, ihm gar Hilfe angeboten! Er blickte auf – und dachte, er sähe einen Engel. Die junge Frau war vielleicht fünf Jahre älter als er, ihre wundervollen blonden Haare waren zu zwei dicken Zöpfen geflochten und wie Schnecken an den Seiten aufgesteckt. Sie trug eine weiße Bluse, eine warme, bestickte Jacke und einen langen bunten Rock – und sie hatte das schönste Lächeln der Welt.

So also hatten sie sich vor vier Wochen kennengelernt, die beiden Waisen Maria und Jakob. Maria hatte ihn mitgenommen zu ihrer Tante, die eine Gaststube im Hafenviertel führte. Dort war es gemütlich warm und obendrein hatte es eine heiße Suppe gegeben – russische Borscht mit viel Gemüse. Marias Tante war schon vor Jahren aus Russland ausgewandert. Sie hatte es kommen sehen, dass in ihrer Heimat die Juden bald verfolgt würden. Mittlerweile war sie aus Überzeugung zum christlichen Glauben übergetreten. Während einer Judenverfolgung waren Marias Eltern vor drei Jahren getötet worden. Da hatte sich das Mädchen ganz alleine auf den gefährlichen und beschwerlichen Weg von St. Petersburg aus nach Hamburg aufgemacht. Es war ein Wunder, dass sie heil dort angekommen war und ihre Tante bald gefunden hatte. Die hatte Maria mit offenen Armen empfangen, sie aufgepäppelt und war dann sehr traurig gewesen, dass ihre Nichte am 1. Dezember aufbrechen wollte in die neue Welt. Die Passage auf dem Zwischendeck des Dampfschiffes war schon gebucht und bezahlt. Dafür hatte Maria ihren Lohn als Schankhilfe und alle Trinkgelder eisern gespart. Im Sparstrumpf war sogar ein ordentlicher Betrag übrig geblieben, um die erste Zeit in der Neuen Welt zu überleben.

Und nun waren sie schon seit drei Wochen auf diesem stampfenden, rollenden Schiff eingepfercht. Eigentlich sollte die Überfahrt ja nur gut vierzehn Tage dauern, aber schwere See und heftige Sturmböen verlangsamten die Reise entsetzlich. Wie hatte Jakob sich gefreut, als Maria ihm angeboten hatte, seine Passage ebenfalls zu bezahlen.

„Du wirst mir das Geld in Amerika zurückgeben“, hatte sie gesagt, „du weißt doch: Es gibt dort gute Arbeit für alle!“

Anfangs hatten Jakob die beengten Zustände auf dem Zwischendeck auch nicht gestört. Dieses Deck war eine Art Frachtraum für Passagiere – für die, die sich die Kabinen der ersten, zweiten oder dritten Klasse nicht leisten konnten. Dicht an dicht standen metallene Stockbetten, deren Eisenfüße am Boden festgeschraubt waren. Hunderte von Passagieren mussten in einem Raum essen, schlafen und hinter Vorhängen ihre Notdurft verrichten. Die Enge war drangvoll, der Gestank bereits nach drei Tagen ganz erbärmlich. Zumal viele von der Seekrankheit geplagt wurden und es oft nicht schafften, rechtzeitig an Deck zu gelangen.

Nun – Jakob war ja schon Einiges gewöhnt im Leben und so war er mit den Unbequemlichkeiten der Reise gut zurechtgekommen. Aber dann war Maria krank geworden. Sie bekam hohes Fieber und schrecklichen Durchfall und es gab keinen Arzt an Bord. Maria war schwächer und schwächer geworden – und Jakob wusste jetzt, dass sie in seinen Armen sterben würde.

„Versprich mir, dass du in New York eine geweihte Kerze anzündest“, flüsterte sie mit schwacher Stimme in sein Ohr. „Und dann bittest du Gott, dass in Zukunft auf jedem Auswandererschiff auch ein Arzt an Bord ist. Versprichst du mir das?“

Maria wusste genau, dass Jakob mit Gott nichts zu tun haben wollte. Was sollte das für ein Gott sein, der kleine Jungen in grausamen Waisenhäusern ihrem Schicksal überließ, der Maria nicht davor geschützt hatte, aus ihrer Heimat flüchten zu müssen, der sie jetzt sterben ließ? Jakob war klar, was Maria auf diese Fragen antworten würde. Er hatte in den letzten Tagen oft genug versucht, mit ihr über Gott zu streiten. „Er ist der Gott, der vom Himmel gekommen ist, um mit seinen Menschen zu leiden – und für sie. Der Gott, der in einer Futterkrippe lag, der schon als Baby auf der Flucht war, der Gott, der geschlagen wurde und getötet. Der Gott, der Armut, Einsamkeit und Verzweiflung erlitten hat für uns.“

Das hatte Maria wieder und wieder versucht, ihm klar zu machen. Jakob wollte das nicht hören. Jetzt aber versprach er Maria natürlich, in New York eine Kerze anzuzünden und dieses Gebet zu sprechen. Ihren letzten Wunsch würde er respektieren.

„Und wenn Gott dein Gebet erhört, dann hörst du auf, dich gegen ihn zu wehren?“ Jakob schluckte – und versprach auch das. Maria lächelte ihn ein letztes Mal voller Liebe an und starb.

Drei Tage später – am Heiligen Abend des Jahres 1886 – fuhr das Auswandererschiff in den New Yorker Hafen ein. Jakob stand an Deck, zart rieselten weiße Schneeflocken auf seine hängenden Schultern. Plötzlich fingen die Menschen um ihn herum an zu jubeln. Aus der Hafeneinfahrt schien Jakob ein gigantischer Engel entgegen zu schweben, der einen Arm zur freundlichen Begrüßung erhoben hatte. Mit einer riesigen Fackel erleuchtete das himmlische Wesen die Dunkelheit. Das schwarze Wasser funkelte und glitzerte als wäre es übersät mit Diamanten. Der Anblick war so großartig, dass Jakob anfing, an Wunder zu glauben – trotz allem.

Auch als er später erfuhr, dass es sich bei der Erscheinung um die erst kürzlich eingeweihte Freiheitsstatue handelte, gab er diesen Glauben nicht wieder auf. Am zweiten Weihnachtstag zündete er in der Kapelle der Einwandererhalle eine Kerze an und betete, wie Maria es gewollt hatte.

Ein Jahr später wurden ausgebildete Schiffsärzte auf jedem Auswandererschiff gesetzlich angeordnet.

ANNEKATRIN WARNKE


2. Teilen

In einer Zeit, in der Schnelllebigkeit immer mehr Tradition frisst, versuchen wir, das Wenige zu bewahren. Am Samstag nach Totensonntag steige ich unsere Bodentreppe hoch, um die beiden alten großen Weihnachtskartons herunterzuholen. Jedes Jahr, wenn wir im Januar alles wieder zusammenpacken, nehmen wir uns vor, alles in neuen Kartons zu verstauen. So langsam jedoch haben wir kapiert, dass nichts daraus wird, und der erste gute Vorsatz im neuen Jahr gleich dahin ist. Aber am Samstag nach Totensonntag, da freue ich mich immer wieder, die alten, vergilbten Kartons doch wieder herunterschaffen zu können.

Gemeinsam mit meiner Frau und unseren Kindern befreie ich den Herrnhuter Stern, den Bergmann und natürlich darf auch dieses Jahr der große Engel nicht fehlen. Mein Großvater hat ihn geschnitzt und sein Engel wartet jedes Jahr aufs Neue mit uns zusammen auf die Geburt Jesu. Niemanden stört es, dass dem Engel seit Jahren die Spitze des rechten Flügels fehlt. Anfangs hatte ich immer versucht, sie wieder anzukleben. Aber sie hielt nie lange und eines Tages meinte meine Große: „Ach Papa, lass ihn doch so, er darf trotzdem mitfeiern!“ Mir kam es vor wie eine Erlösung.

Während wir unser Wohnzimmer schmücken, schwelgen wir meist in Erinnerungen. Oft wollen die Kinder etwas von ihrem Urgroßvater hören: „Warum hat er sich so viel Mühe gemacht und den Engel selbst geschnitzt? Hätte er ihn gekauft, hätte er sich sicher nicht mit ihm so abmühen müssen.“

„Wisst ihr, als mein Opa, also euer Urgroßvater, nach Deutschland kam, da hatte er gerade mal einen Koffer und einen Rucksack dabei, eure Urgroßmutter an der Hand und vier Kinder. Mehr hatten sie nicht. Und so zogen sie in ihre kleine Wohnung ein, in die es hineinregnete.“

Falk will wissen: „Warum kamen sie nach Deutschland? Wir sind doch Deutsche?“

Ich überlegte einen Moment. Sollte ich wirklich mit den alten Geschichten beginnen?

 

„Als meine Großeltern 1945 in Serrahn ankamen, da waren sie seit Monaten unterwegs. Sie mussten ihre Heimat Bessarabien verlassen, weil die politisch Mächtigen das damals so beschlossen hatten. Von Bessarabien hab ich euch doch schon öfter erzählt. Ihr wisst, das ist das Land, das in der heutigen Ukraine und in Moldawien lag.“

„In der Ukraine ist heute immer noch Krieg“, rief Falk aufgeregt dazwischen.

„Das ist schon wieder ein neuer Krieg“, fuhr ich fort, „meine Großeltern mussten damals ihre Heimat verlassen und lernten den Krieg zur Genüge kennen. Auf ihrer Flucht quer durch Europa mussten sie mit ansehen, wie ihre Tochter verhungert ist.“

„Verhungert? Aber sie hätten ihr doch etwas von ihrem Essen abgeben können“, meinte Falk und schien die Welt nicht mehr zu verstehen.

„Damals hatten die Flüchtlinge zum Teil so wenig zu essen, dass sie sich auf fremde Höfe geschlichen haben, um von den Komposthaufen fremder Leute Kartoffelschalen zu stehlen“, erzählte ich weiter: „Einmal hetzten die sogar einen Hund auf meinen Großvater, aber er konnte sich gerade noch so über den Zaun retten. Viele Leute jagten die Familie eurer Urgroßeltern weg. Geholfen haben ihnen nur sehr wenige. Aber es war ja auch eine Zeit, in der alle nur sehr wenig hatten. Ja, und dann kamen sie in den Kreis Güstrow und fanden ihr geliebtes Dorf Serrahn, direkt an dem schönen See, an dem wir im Sommer immer Urlaub machen. Zunächst war natürlich alles ganz fremd für sie. Sie brauchten eine Zeit lang, um sich einzuleben und sich einzurichten. Alles war ganz primitiv und so schöne Weihnachtssachen um ihre Stube zu schmücken, wie wir sie hier heute haben, hatten sie natürlich nicht. Vielleicht war das der Grund, weshalb mein Großvater in der Adventszeit 1945 diesen Engel geschnitzt hat. Er wollte doch für seine Kinder auch eine geschmückte Weihnachtsstube haben.“

Ganz still war es im Wohnzimmer geworden. Ich überlegte, ob es richtig gewesen war, die alten Geschichten wieder auszupacken. Falk holte tief Luft, ich sah ihm an, wie er alles in seinem kleinen Kopf verarbeitete. Aber als er dann meinte: „Na, ein Glück, dass es heute nicht mehr solche armen Leute gibt“, musste ich ihm widersprechen: „Doch Falk, auch heute gibt es mitten unter uns Flüchtlinge. Auch sie sind aus ihrem Zuhause weggelaufen. Viele vor neuen Kriegen. Und viele, weil es in ihrer Heimat nicht genug zu essen gibt oder es für sie dort zu gefährlich ist, an unseren Gott zu glauben. An den, weshalb wir überhaupt Weihnachten feiern und es einen Heiligen Abend gibt.“

Falks Augen wurden ganz groß.

„Heute, hier?“, fragte er.

„Ja, Falk. So viele Fremde wie zurzeit, kamen noch nie nach Deutschland. Sie verlassen ihre Länder, weil sie vor Krieg und Armut weglaufen oder weil sie an den Gott glauben, an den auch wir glauben und dafür verfolgt und getötet werden.“

Falk machte noch größere Augen. Ich sah ihm an, dass es mächtig in seinem Kopf brodelte.

„Papa, meinst du die, die im Asylbewerberheim wohnen?“, wollte Falk nun wissen und man sah ihm an, dass er mächtig aufgeregt war.

„Genau, die meine ich. Sie alle haben aus ihrer Not heraus ihr Zuhause verlassen. Hier sitzen sie nun im viel zu engen Asylbewerberheim und merken, dass viele sie hier überhaupt nicht haben wollen“, antwortete ich und fühlte mich dabei ziemlich hilflos.

Falk, in seiner Unbeschwertheit, wie sie eben nur ein Achtjähriger haben kann, fragte mich: „Wollen wir sie denn hier haben?“ Mein Kleiner war nicht mehr klein. Ganz unverhofft konnte er unbequeme Fragen stellen.

„Weißt du Falk, das Problem ist, viele scheuen sich davor, die vielen Fremden ‚Willkommen‘ zu heißen. Wir haben selbst genug zu tun und haben oft keine Zeit, da …“

Mein Kleiner, der mir plötzlich so groß vorkam, meinte: „Aber über Weihnachten haben wir doch Zeit. Lass uns doch einfach nach Heiligabend ins Asylantenheim gehen. Ich hab gesehen, da wohnen auch viele Kinder. Ich würde sogar ein paar Süßigkeiten mitnehmen, um mit den Fremden zu teilen.“

CHRISTIAN DÖRING