Was fehlt?

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Rainer Bucher

Renate Oxenknecht-Witzsch (Hg.)

Was fehlt?

Leerstellen

der katholischen Theologie

in spätmodernen Zeiten:

ein Experiment

Rainer Bucher

Renate Oxenknecht-Witzsch (Hg.)

Was fehlt?

Leerstellen

der katholischen Theologie

in spätmodernen Zeiten:

ein Experiment



Gedruckt mit Unterstützung der

Karl-Franzens-Universität Graz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2015 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de Umschlag: Hain-Team (www.hain-team.de) Satz: Patrick Kummer, Eichstätt Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-429-03880-9 (Print) 978-3-429-04830-3 (PDF) 978-3-429-06247-7 (ePub)

Inhalt

Renate Oxenknecht-Witzsch/Rainer Bucher

Vorwort

I. Anfragen von außen

Raúl Fornet-Betancourt

Zum Nachdenken über die Frage: „Was fehlt?“

Ferdinand Rohrhirsch

Was fehlt? Leer- und Lehrstellen der Theologie in und für spätmoderne Zeiten.

Philosophisch-theologische Anmerkungen aus der Beratungsperspektive

Klaus Wiegerling

Quid est homo?

Der Mensch in Zeiten seiner körperlichen Transformation

II. Grundsätzliche Selbstanfragen

Maria Elisabeth Aigner

Die Leerstelle als Anfrage – pastoralpsychologische Streiflichter

Birgit Hoyer

Theologie ohne Gott.

Annäherung durch Unterbrechung im Nachdenken von Eberhard Jüngel

Renate Wieser

Zurück- und nicht Zurechtbiegen.

Über die Notwendigkeit der Ausbildung eines reflexiven theologischen Habitus

Hans-Joachim Sander

Sieben Fehlanzeigen – Oder: Wie man der gefährlichen Profession und kritischen Berufung der Theologie ausweichen kann

Michael Rasche

Leerstellen der Theologie – Leerstellen der Sprachlichkeit.

Möglichkeiten einer hermeneutischen und dekonstruktiven Theologie

III. Exemplarische Leerstellen

Ottmar Fuchs

Ist „Gott“ ein „A…“?

Zur „Lücke“ ungeschönter alltagsprachlicher Gotteskritik

Michael Schüßler

„Leerstelle“ Wahrhaftigkeit?

Was man mit Foucaults Parrhesia (nicht nur) jugendpastoral entdecken kann

Regina Ammicht Quinn

Der Frauenkörper als Aushandlungsort.

Vom nötigen neuen theologischen Sprechen über Schwangerschaftsabbrüche

Stefanie Knauß

Fragmente, Körper, Blicke – Auseinandersetzung mit Kultur als Leerstelle in der Theologie

Joachim Kügler

Was fehlt der Bibelwissenschaft?

Einige Gedankensplitter ausgehend von der Offenbarungskonstitution Dei Verbum

Maria Neubrand

Christsein ohne Bibel?

Was in der Bibelwissenschaft und Pastoral heute fehlt

Sabine Demel

Kirchenrecht im Dienst der christlichen Freiheitsordnung

IV. 50 Jahre theologische Existenz: Perspektiven des Geehrten

Alexius J. Bucher

Defiziterfahrungen in biographischer Hinsicht.

Ein theologiekritischer Rückblick

Alexius J. Bucher

Priesterliche Existenz zwischen Predigt und Vorlesung.

Predigterfahrung in biographischer Analyse

Alexius J. Bucher

Predigt – Gottesdienst im Rahmen der Tagung „Was fehlt? Lehrstellen der Theologie in der späten Moderne“

Stichwortverzeichnis

Autorinnen und Autoren

Vorwort
I.

Der Theologie geht es als wissenschaftlicher Disziplin auf den ersten Blick gar nicht schlecht. Sie funktioniert kirchlich wie universitär leidlich gut. Die einschlägigen Empfehlungen des Deutschen Wissenschaftsrates aus dem Jahre 2010 haben ihre Stellung eher gestärkt und nicht die Verabschiedung der christlichen, sondern die Integration neuer Theologien, etwa der islamischen, in das Wissenschaftssystem empfohlen.

Deshalb lautete die Frage des hier dokumentierten Symposiums auch nicht diagnostisch „Woran leidet die Theologie?“ oder therapeutisch „Was hilft der Theologie?“, sondern „Was fehlt der (katholischen) Theologie?“. Diese Frage konstatiert keine Krise, sondern sucht eine und setzt dabei voraus, diese Frage weder für sinnlos zu halten, noch vor möglichen Konsequenzen der Antworten Angst zu haben. Ein Experiment ist diese Frage aber allemal.

Nun ist offenkundig, dass die Frage nach Leerstellen einen Horizont voraussetzt, innerhalb dessen sie erkennbar werden. Es geht darum, wie man sich Theologie auch vorstellen könnte, darum, über das gegebene Design der Theologie hinaus zu denken und jenen „Möglichkeitsraum“ zu öffnen, der sich nicht an dem orientiert, was ist und nahe liegt, sondern an dem, was sein könnte und begründet sein sollte. Solche Erwartungshorizonte können entweder zu eng sein, dann wiederholen sie wohlfeile Wünschbarkeiten, oder zu weit, dann zeichnen sie Kreise, die von niemandem zu durchschreiten sind.

Dazwischen sollte das Symposium angesiedelt sein. Es ging um Beiträge und Statements, in denen essayistisch, experimentell, gewagt ausgelotet wird, was der katholischen Theologie in unseren Breiten gegenwärtig bezogen auf ihren Gegenstand und bezogen auf ihre grundlegende Aufgabe im Volk Gottes fehlt. Die vorliegenden Beiträge spiegeln in Thematik und Genus diese Bandbreite wider.

Es war eine der guten Erfahrungen des Symposiums, dass es gelang, die inhaltlich wie stilistisch bisweilen provokativen Antworten bei ihren Stärken zu nehmen: deren grundlegende war, tatsächlich etwas aufzubrechen und hervorzurufen. Dafür sei nicht nur den Referentinnen und Referenten, sondern auch allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Symposiums herzlich gedankt.

II.

Ein wissenschaftliches Symposium zum Thema „Was fehlt? – Leerstellen der Theologie in spätmodernen Zeiten“ zu Ehren von Prof. Dr. em. Alexius J. Bucher in Zusammenarbeit mit dem Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz, dem Institut zur interdisziplinären und interkulturellen Erforschung von Phänomenen sozialer Exklusion (ISIS) und der Fakultät für Soziale Arbeit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt bildete einen guten Rahmen, Leerstellen der Theologie nicht nur aus der Sicht der Theologie, sondern im interdisziplinären Diskurs zu suchen und zu erfragen.

 

Die Kooperation gilt vor allem dem geehrten Alexius J. Bucher. Das Seminar „Armut-Ethik-Befreiung“, das im Rahmen des von Raúl Fornet-Betancourt begründeten Philosophischen Dialogprogramms im April 1995 stattfand, war der Startpunkt einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen der Fakultät für Soziale Arbeit und dem Geehrten. In seinem damaligen Beitrag „Kirche fordert Armut – Armut fordert Kirche“ thematisierte er die weltweite Armut als Herausforderung für die Kirche, eine heute noch aktuellere Herausforderung.

Diese Zusammenarbeit setzte sich im Rahmen des 1998 gegründeten Instituts ISIS, zunächst unter der Vorstandschaft von Prof. Dr. Horst Sing (Fakultät für Soziale Arbeit) und Alexius J. Bucher und inzwischen unter der Vorstandschaft von Prof. Dr. Dr. Raúl Fornet-Betancourt und Dr. Monika Pfaller-Rott (Fakultät für Soziale Arbeit) in weiteren Tagungen fort.

III.

Für die Zusammenarbeit mit ISIS und die Unterstützung des Symposiums danken wir Raúl Fornet-Betancourt sehr, der nicht nur dem Geehrten, sondern auch der Fakultät für Soziale Arbeit seit über dreißig Jahren in Lehre und Forschung durch zahlreiche Tagungen und Veröffentlichungen verbunden ist.

Die Herausgeber danken sehr herzlich zudem Herrn Dipl. Theol. Patrick Kummer MA, Eichstätt, der mit großer Sorgfalt die redaktionelle Arbeit besorgte und eine verlagsgerechte Druckvorlage erstellte. Frau Ingrid Hable MA, Graz, las Korrektur, auch hierfür unseren besten Dank.

Eichstätt/Graz, im Juni 2015


Renate Oxenknecht-Witzsch Rainer Bucher

Anfragen von außen

Zum Nachdenken über die Frage: „Was fehlt?“

Raúl Fornet-Betancourt, Aachen/Bremen

1.Vorbemerkung

„Was fehlt?“ Leerstellen der Theologie in spätmodernen Zeiten, so lautet der Titel des Symposiums, das zu Ehren von Alexius J. Bucher abgehalten wird.

Zur Frage und Aufgabe dieses wissenschaftlichen Austausches aus festlichem Anlass geben die Organisatoren in der „Einführung“ zum Programm folgende erklärende Hinweise: „Es fällt nicht leicht, in den Rücken der eigenen Arbeit zu gelangen und blinde Flecken des eigenen Tuns zu identifizieren. Aber mehr und mehr drängen sich Fragen und Problemkreise auf, die ahnen lassen, dass und wo Theologie hinter dem zurückbleibt, was sie angesichts ihrer Verpflichtung gegenüber Tradition und Gegenwart leisten könnte und sollte. So verwirrend plural Tradition und Gegenwart erscheinen mögen: Das Symposion will diese Zonen eines theologischen Defizits erkunden und sich ebenso vorsichtig wie mutig den momentanen Leerstellen der wissenschaftlichen Theologie annähern. Die Philosophie ist hierfür der Theologie seit langem eine bewährte Gesprächspartnerin. Dieses Symposion geht davon aus, dass auch in spätmodernen Zeiten Theologie mehr denn je auf eine Philosophie verwiesen bleibt, die ‚an der Zeit ist‘“1.

Dieser Text, so meine ich, bringt die Aufgabe des Symposiums deutlich und genau auf den Punkt. Zu meiner eigenen Vergewisserung darf ich sie kurz zusammenfassen: Vor dem Hintergrund neuer Fragen und Probleme handelt es sich um den Versuch der Identifizierung von blinden Flecken, um die Erkundung möglicher „Leerstellen“ der heutigen wissenschaftlichen Theologie. Diese Aufgabe soll zugleich, wie der zitierte Titel des Symposiums nahezulegen scheint, als der Versuch verstanden werden, Antworten auf eben die Frage, „was heutiger Theologie fehlt“ zu wagen oder zumindest Perspektiven für die Suche nach Auswegen vorzubereiten.

Aber der Text benennt nicht nur die Aufgabe und die Bedeutung, die ihre Erörterung für die Zukunft der Theologie hat. Eine aufmerksame Lektüre zeigt zudem, dass der Einführungstext noch einen methodischen Hinweis für die Behandlung der gestellten Aufgabe gibt, indem er auf die Philosophie als „bewährte Gesprächspartnerin“ der Theologie setzt. Mit der kulturgeschichtlichen Bemerkung über die „spätmodernen Zeiten“ gibt der Text darüber hinaus noch einen kontextuellen Hinweis zum Verständnis der geistigen und geschichtlichen Situation, in deren Rahmen die Aufgabe zu sehen ist.

Die Formulierung der Aufgabe, die Hinweise zu deren Behandlung sowie die damit verbundenen Erwartungsperspektiven lassen zudem aber ebenfalls erkennen, dass der Einführungstext philosophische und theologische Voraussetzungen impliziert, die sich meines Erachtens sowohl für eine tiefere Einsicht in den Sinn der Frage als auch für eine breitere Suche nach Potenzialen noch möglicher Orientierung als nachteilig erweisen können, und zwar deshalb, weil sie, wie es mir erscheinen will, eurozentrisch sind.

Mir ist allerdings bewusst, dass auf den ersten Blick dieser Vorwurf unvermittelt, ja völlig deplaziert erscheinen mag. Mit dieser Veranstaltung halten wir doch ein „deutschsprachiges“ Symposium ab, das sich zur Aufgabe gemacht hat, über die Situation der Theologie im gegenwärtigen Kontext einer (europäischen) „spätmodernen“ Gesellschaft nachzudenken. Und dennoch soll hier der Eurozentrismusvorwurf für keine billige Polemik stehen. Mein Motiv dafür ist vielmehr die begründete Überzeugung, dass das Fragen christlicher Theologie, zumal wenn sie sich als katholisch bekennt, kontextuell sein soll, nicht aber regional bzw. provinziell sein darf.

Fragen katholischer Theologie sollten ja den weltgeschichtlichen, offenen Horizont der Katholizität, zu der die „Ecclesia“ christlichen Glaubens berufen ist und beruft, niemals aus den Augen verlieren. Mehr noch: Katholizität, hier verstanden als qualitative kommunikative Bewegung auf Universalität hin, muss Element und Medium ihres Fragens sein. Zwar: Schon aufgrund des „Sitz im Leben“-Prinzips, das für die Lebendigkeit und Authentizität der katholischen Theologie allgemein als notwendig anerkannt wird, sollte diese bei der Auseinandersetzung mit Fragen vom kontextuellen Zusammenhang ausgehen, dabei aber die kontextuelle Auseinandersetzung gleichzeitig im Bewusstsein davon führen, dass sie aus Tradition in der Denken und Handeln normierenden Verpflichtung der Katholizität steht. Und das bedeutet eben: Katholische Theologie hat kontextuelle Theologie zu sein, wohl aber im Bewusstsein davon, dass sie immer schon Theologie einer zur Katholizität berufenen und berufenden Gemeinschaft ist.

Das Fragen katholischer Theologie wird daher immer dann verengt, wenn es mit den Fragen resignierter Welt und Geschichte aus ihrer Vereinsamung heraus lesender Theologen verwechselt wird. Das Fragen katholischer Theologie, gleich wo es sich kontextuell artikuliert, ist vielmehr Bestandteil des Geschehens der Katholizität im Werden und vor dieser muss es sich in jedem Kontext verantworten. Die auf das Unendliche hinweisende Weite, die das Fragen katholischer Theologie trägt, bedeutet deshalb für die Theologen die Pflicht zu überprüfen, ob die Art und Weise, wie sie Fragen kontextuell verstehen und formulieren, Verengungen mit sich bringen.

Also: In der Absicht dazu beizutragen, über die im Mittelpunkt des Symposiums stehende Frage von einem umfassenderen Erfahrungshintergrund aus nachzudenken, um so vielleicht auch ihre fundamentale Bedeutung als Grundfrage christlicher Existenz deutlicher in den Vordergrund zu rücken, möchte ich zunächst auf die angesprochene Problematik des Eurozentrismusverdachts bei den Voraussetzungen, die nach meinem Verständnis dem Einführungstext zu Grunde liegen, kurz eingehen.

Meinerseits, so muss ich dazu gleich hinzufügen, werde ich dabei die Sicht der interkulturellen Philosophie voraussetzen. Da ich hier allerdings auf diese Voraussetzung nicht eingehen kann, darf ich nur die zwei Gründe benennen, weshalb die interkulturelle Philosophie in eben diesem Zusammenhang vorausgesetzt wird. Zum einen, weil ein wesentliches Anliegen der interkulturellen Philosophie darin besteht, mit den Menschen und ihren Kulturtraditionen zu lernen, die Fragen der Menschheit in ihren pluralen Formen zu verstehen, dabei jedoch immer nach dem möglichen gemeinsamen Grund derselben fragend; zum anderen, weil interkulturelle Philosophie Kontextualität und Universalität nicht als konträre Erfahrungen, sondern als zwei sich gegenseitig bereichernde Momente einer einzigen geschichtlichen Bewegung versteht. Kontextualität bedeutet für sie doch kein rein räumliches Geschehen, sondern die regressive Methode, durch die philosophisches Denken sich in die Geschichte der memoria passionis et liberationis der Menschheit einschreibt.

Memoriale Tiefe, nicht räumliche Ausdehnung bringt das Denken auf dem Weg zur Universalität.

Aber ich komme zum ersten Punkt, der in meinen Überlegungen – wie ich vorausschicken möchte – eigentlich nur als Hintergrundvorbereitung für die im dann folgenden zweiten Punkt dargelegten Betrachtungen gedacht ist. Dazu darf ich auch gleich klarstellen, dass es sich ausdrücklich um Betrachtungen zum Nachdenken über den Sinn der Frage „was fehlt?“ handelt.

Also: Bei der Aufgabe, mit der uns das Symposium konfrontiert, beschränke ich mich auf den Versuch, zur denkerisch vorbereitenden „Einstimmung“ auf den Sinn der Frage „was fehlt?“ beizutragen. Das ist die Intention der folgenden zwei Punkte meiner Ausführungen. Vielleicht muss sich Theologie doch erst fragen, ob sie in ihrer heutigen Verfassung die Frage „was fehlt“? überhaupt sinnvoll stellen kann. Wenn diese Vermutung stimmt, dann wäre der hier intendierte Versuch nicht abwegig, sondern tatsächlich der Anfang der Arbeit an der gestellten Aufgabe.

2.Welche Voraussetzungen sind gemeint und warum kann man sie als eurozentrisch betrachten?

Im Wesentlichen meine ich zwei Voraussetzungen: Erstens geht es um die Zeit- und Geschichtsauffassung, die der Hinweis auf die „spätmodernen Zeiten“ voraussetzt. Hierzu zwei Anmerkungen:

1) Im Kontext einer mitteleuropäischen katholischen Ortskirche mag richtig und sinnvoll sein, wenn katholische Theologen die kulturphilosophische Kategorie „Spätmoderne“ zeitdiagnostisch gebrauchen, um den sozialen, kulturellen und geistigen Wandel, den die Entwicklung der Geschichte in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, zusammenfassend zu charakterisieren. Nur: Dabei sollte klar sein, dass man mit dem Titel „Spätmoderne“ eigentlich nur die Entwicklung der hegemonialen kapitalistischen Gesellschaften des so genannten „globalen Nordens“2 benennen kann. Es ist doch eine Kategorie, die regionale Erfahrungen reflektiert, und dies zudem mit regionalen wissenschaftlichen Mitteln tut. Daher wäre es eine unzulässige Extrapolation, diese Kategorie als den Spiegel nehmen zu wollen, in dem sich die Situation der historischen Gegenwart der Menschheit insgesamt widerspiegelt. Ein explizites Bewusstsein von der phänomenologischen bzw. lebensweltlichen Grenze der Aussagekraft der Kategorie „Spätmoderne“ ist umso wichtiger für den Sinn des Fragens katholischer Theologie, als heute die historische Gegenwart der Mehrheit der Katholiken nicht unter den Bedingungen „spätmoderner Zeiten“ gelebt wird.

2) Im vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist aber, dass diese als mögliche Gefahr monierte Tendenz zum extrapolierenden Gebrauch der Kategorie „Spätmoderne“ im Grunde genommen erst dadurch möglich wird, dass man annimmt, dass „spätmoderne Zeiten“ für ein „weiter sein“, für die „neueste“ Entwicklungsstufe im Bewusstsein der Menschheit stehen; eine Annahme, die zugleich besagt: Auch wenn „Spätmoderne“ heute noch nicht die Gegenwart aller Menschen prägen würde, so wäre sie das Bild der Zukunft, auf die der Lauf der Geschichte der Menschheit hinsteuert. Das ist für mich der springende Punkt, weil er die angesprochene implizierte Zeit- und Geschichtsauffassung verdeutlicht. Und, wie gesagt, mein Verdacht ist, dass sie europäisch modern und eurozentrisch ist, weil dabei nur jene Zeitauffassung berücksichtigt wird, die sich mit der mitteleuropäischen, kapitalistisch organisierten Moderne durchsetzt und die Zeit nicht nur linear versteht, sondern auch und vor allem der Logik der beschleunigenden Chronologie des programmierten „Fortschrittes“ unterwirft. Die Erfahrung der „Memoria-Zeit“, die so grundlegend sowohl bei anderen Kulturen als auch bei der christlichen Tradition ist, findet hier keinen Platz. Mehr noch, sie muss im Lichte der Zeit des „Fortschrittes“ als ein Störfaktor erscheinen.

 

Im Zusammenhang dieser Anmerkung sei noch nebenbei ein Aspekt erwähnt. Zwei Mal wird im Einführungstext auf eine gewisse Opposition bzw. auf eine relativ deutliche Grenzlinie zwischen „Tradition“ und „Gegenwart“ angespielt, die aus meiner Sicht ebenfalls nur vor dem Hintergrund der Voraussetzung der europäisch modernen linearen Zeitauffassung verständlich ist. Setzt man dieses Verständnis nicht voraus, so ist nicht evident, dass man von Tradition und Gegenwart als von zwei verschiedenen Größen sprechen muss. Für Kulturen zum Beispiel, die ihre Mitte in der memoria haben, ist die Gegenwart Zeitigung von Tradition und umgekehrt. Aus der Sicht dieser Kulturen, die seit der mitteleuropäischen Moderne als „traditionelle“ Kulturen abschätzig apostrophiert werden, muss man daher eher von einer gegenseitigen Beziehung der Notwendigkeit zwischen Tradition und Gegenwart sprechen. Tradition drängt notwendig auf Gegenwart hin und Gegenwart bleibt geschichtlich notwendig auf Tradition verwiesen.3

Zweitens spreche ich vom Wissenschaftsverständnis, das für mein Dafürhalten die Voraussetzung für den Hinweis auf die Verwiesenheit „wissenschaftlicher“ Theologie auf Philosophie und für die damit implizit formulierte Forderung nach einem interdisziplinären Gespräch zwischen beiden Disziplinen bildet. Hierzu auch ein kurzes Wort.

Zweifellos drücken dieser Hinweis und die damit verbundene Forderung ein berechtigtes Anliegen aus. Das ist nicht meine Frage. Worauf ich kritisch aufmerksam machen möchte, ist ein anderer Aspekt, der sich, wie gesagt, aus dem hier implizit wirkenden Wissenschaftsbegriff ergibt. Auch wenn uns heute das vorgebrachte Anliegen des interdisziplinären Gesprächs nicht nur logisch, sondern zudem gar wünschenswert erscheinen mag, so muss doch andererseits bedacht werden, dass es nur unter den Bedingungen eines bestimmten Wissenschaftsbegriffes und seiner Kultur wissenschaftlichen Arbeitens als sinnvoll und notwendig erscheint.

Auch an dieser Stelle hätte man methodische und inhaltliche Relativierungen und/oder Einschränkungen zumindest andeuten sollen. Es sei denn, wie mein Verdacht eben unterstellt, man lässt sich dabei doch von einer Auffassung von Wissenschaft leiten, zu deren Selbstverständnis gerade die Vorstellung gehört, dass menschliche Erkenntnis, will sie „exaktes“ Wissen hervorbringen, sich in methodisch autonomen und so auch mit in ihrem Erkenntnisinteresse reduzierten Rationalitätsformen arbeitenden „Fachdisziplinen“ spezialisieren muss. Nach dieser Auffassung, die ich für eine moderne europäische halte, ist Wissenschaft, worauf bereits Martin Heidegger4 hingewiesen hat, Forschen, und zwar spezialisiertes, disziplinmäßiges Forschen. Und das besagt weiter, dass wissenschaftliche Forschung ihr Wissen durch Isolieren und Abstrahieren gewinnt, was wiederum bedeutet, dass ihr Wissen einseitig ist, wie Max Weber zugegeben hat.5

Im Horizont der Vorherrschaft dieses Wissenschaftsbegriffes muss daher der Gedanke der Interdisziplinarität entstehen. Und er entsteht gerade als der Gedanke einer Perspektive für die Reparatur der Fragmentierung menschlicher Erkenntnis. Dort aber, wo Wissenschaft diese neuzeitliche mitteleuropäische „forschende“ Wendung nicht mitvollzieht, ist dieser Gedanke alles andere als selbstverständlich.6 Der Rekurs darauf sollte also erklärt und sein Anliegen im Spiegel anderer ganzheitlicher Wissenschaftskulturen überprüft werden.7

Aber im Rahmen dieser Bemerkung ist es nicht nötig, weiter auf das nach meiner Leseart hier vorausgesetzte Wissenschaftsverständnis einzugehen, zumal mit meiner diesbezüglichen kritischen Anfrage keine grundsätzliche Debatte über den heute vorherrschenden Wissenschaftsbegriff intendiert wird, sondern lediglich diese punktuelle These zur Diskussion gestellt werden soll: Die Erörterung der Frage, die im Mittelpunkt des Symposiums steht, verlangt die Überwindung des Verstehenshorizonts, der die Forderung nach einem interdisziplinären Gespräch zwischen Philosophie und Theologie nötig macht, weil die Frage „was fehlt?“, wenn wir sie richtig stellen, weder nach Wissenssegmenten noch nach Realitätssegmenten noch nach der Möglichkeit der Akkumulation fragt. Aber wissen wir, was wir fragen, wenn wir fragen, „was fehlt?“? Das ist mein zweiter Punkt.