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Tiefraumphasen

SF-Erzählungen

fantastic episodes XI

Tiefraumphasen

© 2014 Begedia Verlag für diese Ausgabe

© der Geschichten bei den Autoren

Umschlagbild – Alexander Preuss

Covergestaltung – Casandra Krammer

Korrektur und Lektorat – Armin Rößler

ebook-Bearbeitung – Michael Quay

ISBN – 978-3-95777-010-3

Besuchen Sie unsere Webseite:

http://verlag.begedia.de

André Skora | Frank Hebben | Armin Rößler [Hrsg]

Tiefraumphasen

Nichts trägt in gleichem Maß wie der Traum dazu bei,

die Zukunft zu gestalten.

Heute Utopia, morgen Fleisch und Blut.

Victor Hugo

Vorwort

Ein deutscher Kritiker charakterisierte den Cyberpunk als die »Poesie des Verfalls«. Einer von William Gibsons meist zitierten Sätzen, »the street finds its own uses for things«, hat den Grundton angeschlagen für eine postmoderne Science Fiction, in der die Ideale des Golden Age, der Traum von einer utopischen Transformation der Menschheit durch Wissenschaft und Technik, in der Gosse gelandet sind. Von sterilen Laboren, in denen weißbekittelte mad scientists die neuzeitlichen Büchsen der Pandora öffnen, hat der Cyberpunk die Schauplätze der SF in die Hightech-Slums der nahen Zukunft verlagert. Er schildert das Leben in den Substraten einer Welt, die in Auflösung begriffen ist – zerrieben zwischen anonymen kommerziellen Mächten und politischer Willkür; zersplittert in Subkulturen, für die der Unterschied zwischen legal und illegal unbedeutend ist, irreal geworden durch die Übersättigung des Alltags mit Medien, Netzwerken, Drogen, virtueller Realität.

Dennoch hat der Cyberpunk die Berührung mit einem der klassischen Topoi der SF, dem Weltraum als Flucht- und Zielpunkt aller Zukunftsträume, nicht ganz verloren und ihn auf seine Art interpretiert. Schon in William Gibsons Epitom Neuromancer finden sich gegenüber den klassischen Vorbildern zweckentfremdete Weltraumhabitate, darunter eine Kolonie von Rastafaris, die den Traum von der Eroberung des Alls zu einer manifestierten Hippie-Phantasie umfunktioniert hat. In Ridley Scotts Filmklassiker Blade Runner, ebenfalls eine der bahnbrechenden stilistischen Leistungen des Cyberpunks, ist die Werbung für das Leben in offworld-Kolonien eine ständige Verlockung im Hintergrund, die durch die tragische, hoffnungslose Auflehnung der Replikanten, künstlichen Arbeitssklaven für die Expansion des Menschen ins All, konterkariert wird. Schon vorher, in seinem ersten SF-Film Alien, hat Scott einen Grundzug des Cyberpunks in den Weltraum getragen und damit stilprägend gewirkt: Es ist die Aura einer schmutzigen Zukunft, die zwar gegenüber unserer Welt technisch weit fortgeschritten ist, aber zugleich etwas zutiefst Verschlissenes und Verbrauchtes ausstrahlt. Die Mannschaft des Frachters Nostromo in Alien hat die Mentalität von Truckern, agiert nur in etwas größerem Maßstab. Die Weltraumfahrer haben hier nichts mehr Zukunftsweisendes, Heroisches außer dem nackten Überlebensinstinkt an sich. Man mag darüber streiten, ob sich so etwas wie Space-Cyberpunk als eigenes Subgenre in der SF identifizieren lässt, sicher aber gibt es Storys, die durch Versetzung typischer Cyberpunk-Elemente an außerirdische Schauplätze eine existenzielle Zuspitzung des Cyberpunk erreicht haben: zur Bedrohung durch anonyme Mächte, zu Grenzüberschreitungen zwischen Mensch und Maschine, zum rohen Überlebenskampf zwischen Dreck und Trümmern kommt nun auch noch die Isolation im All, die Entfremdung von der kosmischen Heimat und der eigenen Spezies, das Erlebnis der Macht- und Perspektivlosigkeit angesichts des Unendlichen.

In der vorliegenden Anthologie unternehmen Newcomer und gestandene Autoren der deutschen SF neue und überraschende Vorstöße in diese schmutzige Zukunft. In bester dystopischer Tradition der Science Fiction, die als Medium düsterer Prophezeiungen fast immer mehr überzeugt hat denn als Überbringerin froher Botschaften, präsentieren die Autoren ein Universum, das menschliche Allmachtsphantasien zerschmettert hat. Der Aufbruch ins All hat zu keinem Fortschritt unserer Art geführt: Wir sind immer noch dieselbe zerrissene, aggressive, unreife, korrupte Spezies wie bisher, und das All hat uns nur unsere Kleinheit und Bedeutungslosigkeit bewiesen. Der Cyberpunk ist, wofür diese Geschichten einen weiteren Beleg liefern mögen, zwar als dedizierte literarische Bewegung längst Geschichte, als anhaltender Inspirationsfaktor aber, der in immer neuen Varianten aufgegriffen wird, weiterhin eine der vitalsten Unterströmungen der zeitgenössischen Science Fiction.

Michael K. Iwoleit, August 2014

Karla Schmidt

Dämmerzone

1.

Ich liege, Hände hinter dem Kopf verschränkt, in meinem Sessel und betrachte die wenigstens sechs oder sieben Monate alten Proteinspritzer an der Decke über mir. Die Sonification ist wegen der harten Strahlung auf den jammernden Gesang des Unterriesen rechts von uns, wegen des Profits auf das gleichmäßig wummernde Gold unter uns und wegen potenzieller Landestellen auf die Darstellung von Fließbewegungen und Oberflächenstrukturen eingestellt. Ich mag es, wenn die Brücke vom Knacken, Knurren und Wispern des Weltraums aus allen Nähten platzt. Ohne Ton kommt emotional einfach nichts rüber. Die Spritzer an der Decke wische ich nicht weg, weil sie mich an die Zeit erinnern, als ich allein geflogen bin, Vorschriften mir egal waren und ich noch zugleich essen und manövrieren konnte, ohne mir sinnlose Nörgeleien anhören zu müssen. Die Flecken sehen aus wie zwei schlaksige Aliens in Raumanzügen. Reines Wunschdenken. Es gibt keine Aliens da draußen. Nur uns.

»Leiser!«

Die KI reagiert sofort und regelt die zuckenden, wobbelnden Klänge auf kaum sechzig Dezibel runter. Jorge steht hinter mir, unter jedem Arm einen Helm. Er legt sie vorsichtig auf die Konsole.

»Dynamische Prozesse werden für menschliche Wahrnehmung durch Klang weitaus besser repräsentiert als durch visuelle Reize«, sage ich betont sachlich.

»Es ist aber gefährlich, wenn die Lautstärke ...«

»Jajajaja! Mann, entspann dich doch mal!« Ich seufze. Jorge ist einfach noch sehr jung und sehr pflichtbewusst. Das ändert sich mit der Zeit von ganz allein. »Was meinst du, sollen wir runtergehen?«, frage ich versöhnlicher. »Nur so zum Spaß?« Natürlich könnten wir alle erforderlichen Daten auch von hier aus sammeln.

Die Smoot hängt weniger als sechstausend Meter über einem annähernd runden Brocken, der irgendwo zwischen verdammt großer Asteroid und fast schon Zwergplanet rangieren dürfte. Wir haben ihn, gemäß dem Unterriesen, um den er kreist, und dem Hauptelement, aus dem er besteht, Acrux 79 getauft. Das Ding ist so schwer, dass es sogar eine Atmosphäre hat. Wir folgen seiner Dämmerzone in die Richtung, die wir entsprechend der Drehachse Süden nennen. Wir brauchen eine möglichst massive Stelle, wo die Arme des Kriechers im porösen Kalkschaum nicht einsacken und stecken bleiben.

Jorge grinst. »Na schön, wenn du unbedingt willst. Gehen wir runter.« Er stülpt sich einen Helm über, ich höre das Zischen, mit dem der Halsring schließt. »Aber erst, wenn du ordentlich angezogen bist«, klingt es aus dem Helmlautsprecher. Sein Sichtschirm ist auf Verspiegelung gestellt. Wenn ich ihn anschaue, sehe ich mich selbst.

Jorge setzt sich in den zweiten Pilotensitz, seine Hände hängen in der Luft, bereit für ein paar einfache Steuergesten, die die Smoot nach unten bringen werden. Er wartet, dass ich mich bereit mache.

Doch plötzlich habe ich Zweifel, ist da so ein merkwürdiges Gefühl, das mir sagt, es wäre besser ... ja, was eigentlich? Worum geht‘s hier denn? Unter uns hängt ein gigantischer interstellarer Gold-Nugget, der so dicht um seine Sonne kreist, dass ihn noch niemand entdeckt hat. Aber ist das überhaupt glaubwürdig? Bei der Resonanz, die das Ding erzeugt? Warum ist er noch nicht geclaimt worden, warum gehört so was keinem?

»Worauf wartest du?«, fragt Jorge und lässt die Hände sinken.

Vielleicht liegt es an dem unregelmäßigen Flüstern, das ich hinter den Spacesounds zu hören meine, an dem Gefühl, dass es etwas Unnatürliches hat. Kein Wunschdenken diesmal, nur irrationale Angst. Vielleicht, weil das, was vor uns liegt, so groß ist, dass es unser Leben für immer verändern wird. Es ist einfach unheimlich.

»Hast du das hier eigentlich schon der Korpo gemeldet?«

Jorge lächelt. »Was denkst du denn? Vertragsgemäß dreimal versiegelt und draufgespuckt.«

»Natürlich.«

Jorge wirft mir einen Seitenblick zu, er scheint mein Unbehagen zu bemerken.

»Frau Somma Sanktus Zwo? Du willst doch nicht etwa einen ganzen Planetoiden verheimlichen und dir in die eigene Tasche stecken?«

Sein Grinsen ist so unsicher, dass ich mir sicher bin, er meint die Frage ernst. Natürlich will ich das nicht. Das wäre absurd. In ein paar Monaten werden die ersten Fabriken hier auftauchen und mit dem Abbau beginnen. Und dann kriegen wir unsere verdiente Provision, mehr als wir jemals wieder ausgeben können. Tatsächlich. Wir haben das große Los gezogen.

Jorge deutet auf einen flüssigen Goldsee, der sich rechts von uns am hellen Horizont entlangzieht.

»Siehst du den?«, sagt er ehrfürchtig.

Der See dürfte die Größe einer Millionenstadt haben.

»Ja.«

Die Oberflächentemperatur auf der Tagseite beträgt um die zwölfhundert Grad Celsius, und auf der Nachtseite herrschen Minusgrade. Die großen Temperaturschwankungen haben tiefe Risse und schwarze, aufgeschäumte Formationen hervorgebracht, wie bei einem Marshmallow, den man zu lange über dem Feuer dreht. Man müsste das Gold nur abpumpen. Und aufhalten könnte man sich in der Dämmerzone, in mobilen Domes. Oder am Südpol, wo nur alle Jubeljahre mal ein Sonnenstrahl hinfällt.

 

»Die Provision können wir vergessen.« Der Gedanke kommt ebenso klar wie plötzlich, und ich bin mir absolut sicher, dass ich recht habe.

»Wieso?«

»Jorge, hier tauchen bald nicht nur die Fabriken auf, sondern auch Kriegsschiffe, andere Korpokratien, die Acrux 79 für sich beanspruchen wollen. Es gibt auf jeden Fall Ärger.«

»Unsinn! Die Korpocodes wurden noch nie geknackt. Und was wäre denn die Alternative? Willst du hier hocken bleiben wie die Henne auf dem goldenen Ei? Oder einfach abhauen, so tun, als gäbe es hier gar nichts?«

»Gut, wie machen wir das also am besten?«, sage ich mehr zu mir selbst. »Wir lassen erst mal ein paar Sonden raus, dann geht das schon mal schneller. Ordentliches Kartografieren gehört schließlich auch zum Job.« Ich zwinkere Jorge zu, auch wenn das kaum helfen wird, ihn von meiner Idee zu überzeugen. »Und falls wir Gebiete finden, in denen das Zeug halbwegs lose rumliegt, nehmen wir, was wir tragen können. Und dann nichts wie weg.«

Jorge ist schockiert. »Als Labelflüchtlinge!? Für den Rest unseres Lebens?«

Er hat recht. Und er hat nicht recht. Wahrscheinlich liegt hier sowieso kein Gold in handlichen Brocken herum. Es wird ja Tag für Tag wieder eingeschmolzen.

»Ach, ich weiß auch nicht. Gehen wir halt erst mal runter.« Ich greife nach meinem Helm.

2.

Keinen Ton hat die KI von sich gegeben, keine blinkende Anzeige hat uns gewarnt, kein Energieschirm hat den Angriff aufgehalten, kein automatisches Abwehrfeuer wurde initiiert. Ich meine, die Smoot ist nur ein kleiner Erkunder, aber trotzdem, völlig blind und wehrlos sind wir ja nun nicht. Was immer uns getroffen hat, war unsichtbar, unhörbar.

»Die müssen eine Wahnsinnswavemaschine haben, wenn die sich dem Hintergrund so perfekt anpassen können.«

Jorge schaut mich fragend an. Er sitzt neben mir im Cockpit des Kriechers, lächelt. Es gefällt mir nicht, wie das gezackte Metall aus seiner Schläfe ragt, wie sein Auge, halb aus der Höhle gedrückt, mich aus einem seltsamen Winkel anstarrt. Ich kriege jedes Mal einen Schrecken, wenn ich ihn so sehe.

»Na, die uns die Hülle weggefetzt haben«, erkläre ich. »Materialermüdung war das jedenfalls nicht.«

Jorge grunzt abfällig. Ich bin ganz froh, dass er wenigstens nicht spricht. Es reicht schon, dass er von Zeit zu Zeit einfach so auftaucht.

»Jorge, etwas hat uns angegriffen. Etwas Intelligentes.«

Genau. Was also, wenn wir viel mehr entdeckt haben als einen Brocken Gold? Was, wenn wir hier draußen endlich anderes Leben gefunden hätten? Oder besser: es uns. Ich weiß, Wunschdenken. Aber in dem Fall wäre es nebensächlich, dass Jorge dabei draufgegangen ist und ich es wahrscheinlich auch nicht mehr lange mache. Das wäre es doch wert, oder?

»Und anders lässt sich das sowieso gar nicht erklären«, sage ich müde. Ich würde gerne nach hinten gehen, die Liege ausklappen, ein bisschen schlafen. Die KI und der Kriecher finden auch ohne mich eine Möglichkeit, in der Dämmerzone zu bleiben, relativ nah an der Nachtseite, wo die Temperaturen uns nicht großartig schaden. Der Kriecher hat die Arme eingefahren und zieht eine Staubfahne hinter sich her, während er dicht über einem weiten Plateau dahinrauscht. Was für ein verdammtes Glück, dass es hier eine Atmosphäre gibt, auf der er gleiten kann. Langsamer unterwegs zu sein, wäre unangenehm, mit solch einer potenten Sonne im Nacken. Die nächsten paar hundert Kilometer muss ich mir darüber jedoch keine Gedanken machen. Und ich würde wirklich gerne schlafen.

Nur kann ich eben nicht. Wenn ich die Augen schließe, erlebe ich alles noch einmal, bekomme es nicht aus dem Kopf, vergesse nicht, wie ich nach meinem Helm greife, immer noch zögerlich, ich vergesse nicht das Rütteln, Rattern, Quietschen beim Eintritt in die Atmosphäre. Und wie über mir plötzlich alles rot und dunkel ist, und das Gefühl, mein Gesicht steht in Flammen. Das ist keine Hitze, sondern Kälte, die so brennt. Ich vergesse nicht, wie ich nicht atmen kann, wie Jorges Kopf neben mir hin und her pendelt, der Helm zerbrochen, das Metall in seinem Kopf, der vorwurfsvolle Blick. Ich vergesse nicht das graue Gewebe, das auf Jorges Wange klebt. Und in den Haaren. Und wie ich gegen den zunehmenden Druck des Sturzes meine Arme nach oben zwinge, mit dem Helm, den ich wunderbarerweise noch immer in den Händen halte, den ich aufsetzen muss, unbedingt, unbedingt. Und es schaffe. Wie ich vom Sessel rutsche, als die Nase der Smoot sich nach unten richtet, wie ich aufwärts über das Deck krieche. Und über mir keine Proteinspritzeraliens mehr, sondern nur noch dunkler und roter Himmel und keine blasse Ahnung, wie weit die Oberfläche noch entfernt ist. Ich verliere das Bewusstsein, komme wieder zu mir, liege flach auf dem Deck, wir fallen noch immer. Ich ziehe mich auf meinen Sessel, aktiviere die Schalung. Nicht, weil ich denke, dass ich dann überleben werde. Ich hoffe einfach nur, dass es angenehmer sein wird, hier zu sterben als da unten auf dem nackten Metall. Dann warte ich. Es ist ein merkwürdiger Gedanke, dass dieser schon ziemlich lang andauernde Zustand des Fallens innerhalb eines einzigen Moments beendet sein wird. Ich weiß nur nicht, wann. Ob jetzt ... oder jetzt ... oder jetzt.

Woran ich mich nicht erinnern kann, ist der Aufprall.

Ich bin nur irgendwann langsam aus dem Sessel geglitten, wie ein Tropfen, der sich sammeln muss, schwerer und schwerer wird, bis er sich löst, und dann bin ich runtergefallen, nicht weit, vielleicht einen Meter oder nur einen halben. Meine Knie und Handschuhe sind durch die schwarze Oberfläche von Acrux 79 gebrochen, haben sich in den Gesteinsschaum darunter gesenkt. Ich kann nicht viel sehen, alles ist in rötlichen Dämmer getaucht. Ich stehe auf, wandere herum, ohne zu wissen, wozu. Ziemlich viel später merke ich: Dass ich so schlecht sehen kann, liegt an dem Blut in meinem Helm. An den Zähnen. Sie sind beim Aufprall alle zertrümmert worden. Noch Tage später spucke ich Blut, Gewebe, Bruchstücke aus.

Die Smoot hat sich tief in den Grund gebohrt, aber nicht zu tief, um den Kriecher zu befreien. Ich bin dankbar, dass ich Jorge nicht finden kann, dass ich ihn nicht noch mal so tot und mit Metall im Kopf sehen muss.

»Ein Schlafmittel«, bitte ich die Kriecher-KI.

Sie antwortet: »In deinem Blut zirkulieren bereits ausreichend Schlafmittel.«

Dumme Maschine. Sie reichen eben nicht.

3.

»Du könntest, wenn du wolltest«, sagt Jorge.

Neuerdings spricht er auch wieder. Als hätte er sich irgendwie von dem Schock und den Verletzungen erholt. Obwohl das Metall natürlich immer noch in seinem Kopf steckt. Er hat sich zu mir ans Fußende der Liege gesetzt.

»Was könnte ich?« Ich reibe mir die schmerzenden Augen.

»Sterben. Darauf läuft es doch sowieso hinaus. Wozu also warten?«

»Das wäre aber gegen die Vorschrift zu überleben«, entgegne ich und unterdrücke ein hysterisches Kichern.

»Dein Grinsen ist fürchterlich, so ohne Zähne«, sagt Jorge.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Hundertundvier Minuten«, sagt die Kriecher-KI.

Warum schlafe ich nie länger als ein oder zwei Stunden?

Der Kriecher stoppt ruckartig, ich halte mich am Rand der Liege fest. Jorge winkt zum Abschied und verblasst vor meinen Augen. Ich bin hellwach.

»Was ist los?«

»Abfallendes Gelände.«

Ich habe das dringende Bedürfnis, mich zu strecken, meine Arme und Beine so lang zu machen, wie es nur irgend geht, was in meinem Kubus voller Instrumente und Ausrüstungskisten nicht so leicht möglich ist.

»Außentemperatur, Strahlung?«

»Im tolerierbaren Rahmen.«

Ich stülpe mir den Helm über, lasse mich kurzentschlossen nach draußen schleusen. Vorsichtig, um nicht durch die Kruste zu brechen, gehe ich ein paar Schritte. Hinter dem Kriecher die dunkle Ebene, durchzogen von erstarrten Goldadern, die auf die Sonne warten. Über mir ein ovaler Abgrund aus nacktem Himmel. Keine Sterne natürlich, nicht mal die hellsten, nur Acrux glüht weit in die Atmosphäre hinauf. Rechts von mir ist das Rot intensiver und erinnert mich daran, nicht zu lange auszuharren, mich weiter mit der Zone zu bewegen.

Links und vorne ein Abgrund. Verkohlte Formationen werfen kilometerlange Schatten, die mir den Weg weisen. Na schön. Ich muss gegen den lächerlichen Drang ankämpfen, mir den Helm von Kopf zu reißen und mich einfach da runterzuwerfen. Stattdessen kehre ich in den Kriecher zurück.

»Spinne«, sage ich zur KI.

Der Kriecher fährt die Arme aus, und wenige Minuten später klettern wir kopfüber und in verbissenem Schweigen den Steilhang hinab.

»Sonification«, verlange ich. »Unspezifisch, Fächersuche.« Wir kennen das schon, alle paar Stunden dasselbe Ritual. Ich will wissen, was uns vom Himmel gerissen hat.

Acrux fängt an zu wispern wie ein uraltes Gespenst, 79 keckert, und weit, weit im Süden singt irgendetwas in einem beißend hellen Sopran. Dort muss ich hin.

4.

Irgendwann später. Vielleicht sogar so viel später, dass die Fabriken schon bald kommen? Mich aufnehmen, retten, meine Rezeptoren reparieren, mich endlich wieder schlafen lassen? Darum höre ich nicht auf Jorge, wenn er mich auslacht, weil ich immer noch lebe. Wegen der Hoffnung.

Die Luft im Kriecher ist stickig, keine Ahnung, wie oft sie schon wiederaufbereitet wurde. Der Sauerstoffgehalt sinkt. Natürlich liege ich meistens, bewege ich mich so wenig wie möglich, während der Kriecher um den Planeten eilt, immer vor der Sonne weg und mit einem Drall nach Süden, der größer wird, je weiter wir uns vom Äquator entfernen.

»Du solltest wirklich endlich richtig schlafen«, sagt Jorge. Er läuft rastlos im Cockpit hin und her, zwei Schritte in die eine, zwei in die andere Richtung. Ich nehme seine Bewegungen nur aus dem Augenwinkel wahr.

»Haha«, antworte ich und drehe mich mit dem Gesicht zur Wand. »Wahnsinnig komisch.«

»Du siehst aus wie eine Gottesanbeterin, wenn du im Halbschlaf mit den Armen so vor dir rumruderst«, sagt Jorge vorwurfsvoll.

Ich wiege kaum mehr fünfzig Kilo, und ich habe jetzt ständig leichtes Fieber. Ein Mittel, das Schlaf herbeiführen könnte, gibt es nicht, weil es Rezeptoren im Gehirn erreichen müsste, die nicht mehr vorhanden sind. Die Unfähigkeit zu schlafen führt zu Wahnbildern und physischen Begleiterscheinungen. Begründung: Das Hirn kann ohne Schlaf sein Zellvolumen nicht verringern, um Stoffwechselabfälle abzutransportieren. Ich habe jetzt wirklich eine Menge Müll im Kopf.

Theorie: Die kurze Periode ohne Helm während des Absturzes ist schuld. Entweder war es etwas in der Atmosphäre oder es liegt an der Strahlung, jedenfalls sind die Rezeptoren in meinem Hirn hinüber. Und Schlafmittel bekomme ich auch nicht mehr. Reine Verschwendung.

Irgendwann werde ich also endgültig liegen bleiben. Ich wünschte nur, es wäre so, dass mich dann nicht der Tag, sondern die Nacht einholt. Es ist einfach kein schöner Gedanke. Weltraumkälte und die Hoffnung auf einen letzten Blick nach draußen, das wäre mir lieber.

»Willst du nicht endlich einfach Ende machen? Das ist doch eine völlig nutzlose Quälerei.«

»Jorge, halt‘s Maul. Wenn du die ganze Zeit quatschst, kann ich erst recht nicht schlafen.«

Jorge verzieht sich nach draußen, vielleicht ist er beleidigt. Ich sehe ihn durch den Frontschirm, wie er auf einer Goldader hin und her schlittert. Im Grunde macht er es richtig. Draußen sein, Helm ab, Luft auf der Haut. Er ist schon drüben, auf der anderen Seite. Er hat keine Probleme mit dem Schlafen, mit dem Atmen, mit Schmerzen. Was hält mich also hier noch auf? Ich fange an zu zittern, mein Herz rast, ich bekomme keine Luft, meine Arme schlagen um mich, mein Kopf knallt gegen die Wand, einmal, noch mal, völlig unkontrolliert, tut verdammt weh.

Und dann plötzlich etwas ganz Himmlisches. Bevor ich weg bin, begreife ich: Das ist eine Injektion! Die KI knockt mich aus!

Keine Ahnung, was sie mir gibt. Aber ich bin auf dem Weg. Der beste Turn, den ich je erlebt habe.

Als ich zu mir komme, liege ich auf dem Boden und weine vor Enttäuschung, dass es schon wieder vorbei ist. Dennoch. Ich fühle mich beinahe ausgeruht. Eine helle Sinuskurve flirrt durch die Kabine.

»Was ist das für eine Sonification?«

»Deine Hirnwellen«, erklärt die KI. «Derzeit bist du vollständig wach.«

 

»Was hast du mit mir gemacht?«

»Ich bin erst jetzt darauf gekommen.« Schwingt da ein Anflug von Stolz in der sonst neutralen Stimme? Oder liegt das nur an der typisch menschlichen Art, in alles irgendetwas rein zu interpretieren?

»Eine einfache Narkose. Sie funktioniert unabhängig von den

Schlafrezeptoren.«

Ich rapple mich auf, setze mich ins Cockpit.

»Genial!« Ich blicke mich vorsichtig um. Von Jorge ist weit und breit nichts zu sehen, weder draußen noch im Kriecher. »Das heißt, du bringst mich durch, richtig?« Keine Ahnung, warum ich die Stimme so verschwörerisch senke.

»Nein. Ich kann dich nur gelegentlich in Narkose versetzen, um dir eine Pause zu verschaffen. Aber das ist kein Schlaf.«

»Na schön. Und wie viel Zeit kannst du mir auf diese Weise verschaffen?«

»Kein Zeitaufschub. Wie gesagt, nur ab und zu etwas Ruhe.« Der Drang zu flüstern, lässt nach.

»Prognose?«

»Vier bis sechs Wochen.«

Ich schweige, versuche, das mental zu verstoffwechseln.

Der Klang der Sinuskurve rutscht eine Quarte nach unten.

»Was bedeutet diese Frequenz?«

»Du trittst in eine Dämmerphase ein, die in einen Traumzustand überleitet.«

Während ich wach bin? Das ist doch verrückt.

»Kommst du raus?« Jorge streckt mir eine Hand entgegen, lächelt. »Ich habe einen abschüssigen Goldfluss entdeckt. Wir könnten Schlitten fahren. Ohne Helm.«

»Was?«

Ich schrecke hoch. Die Traumphase ist vorbei.

5.

Die letzten vierundzwanzig Stunden verteilen sich auf:

Narkose: dreihundertsechzig Minuten.

Wachphase: siebenundvierzig Minuten.

Dämmerzustand: tausenddreiunddreißig Minuten.

Wir sitzen fest. Das hier ist nicht nur ein Abhang, den wir überwinden müssen, sondern wir stehen auf einem Überhang.

Die KI sagt, sie schafft das nicht allein, sie ist nur eine KI, ihr fehlt die Intuition, das Gefühl für den nächsten Schritt, das auch in ausweglosen Situationen einen Weg finden kann. »Wir können manuell klettern. Wenn wir uns beeilen ...« Die KI sagt Nein. Jorge auch.

»Du bist ein Zombie«, sagt er vorwurfsvoll. »Du hast nicht ansatzweise die Vigilanz, um das schaffen zu können.« Die KI pflichtet ihm bei.

Das Universum als Ganzes ist perfekt ausbalanciert, zu allem, was es gibt, gibt es auch ein Gegenteil, und wenn es das nicht gibt, gibt es auch das andere nicht. Kein Licht ohne Schatten und so weiter. Ich muss ein bisschen lachen. Jorge und die KI haben ja nicht unrecht. Wenn der Schlaf ausfällt, gibt es auch kein Wachsein. Nicht wegen der übermäßigen Erschöpfung, sondern wegen der Perversion. Was keine Ruhe findet, ist weder lebendig noch tot. Es hängt irgendwie dazwischen.

»Alternativen?«

»Erstens – ich kann dich in ein künstliches Koma versetzen und den Kriecher so weit ins Gestein graben, dass du die Tagphasen überstehst.«

»Wie lange geht das gut?«

»Wenn die Muskeln regelmäßig stimuliert werden, Lagewechsel,

Ernährung ... ein paar Monate oder Jahre.«

»Gefahren?«

»Ich kann nicht garantieren, dass dein Bewusstsein ausgeschaltet wird. Du könntest wahnsinnig werden.«

»Und zweitens?«

Die KI scheint zu zögern, Jorge springt für sie ein: »Auf den Tod warten, der angesichts der Tatsache, dass deinem Körper die physiologische Fähigkeit zu schlafen abhanden gekommen ist, in nicht allzu ferner Zukunft eintritt. Und drittens – nicht auf den Tod warten, sondern ihn selbst herbeiführen. Dafür gibt es verschiedene Optionen. Eine Injektion. Ohne Schutzanzug nach draußen gehen. Oder einfach hier auf die Sonne warten. Ich finde, wie gesagt, die zweite Option ganz reizvoll.«

Eine Weile muss ich weg gewesen sein, denn als ich plötzlich mit einer Idee aufschrecke, hat Jorge es sich auf meiner Liege bequem gemacht und spielt an dem Metallstück herum, das aus seinem Kopf ragt.

»Jorge, du könntest es für mich machen!«

Wann immer ich ihn sehe, wirkt er vollkommen klar und ausgeruht. Er ist die Ruhe selbst.

Jorge grinst. »Mit dem Auge? Ich kann doch kaum geradeaus gucken.«

»Das kann die KI ausgleichen.«

Jorge schweigt, betrachtet die Decke über sich.

»Was sagst du?«

»Ich muss darüber nachdenken.«

Er steht auf, gleitet durch den Sichtschirm nach draußen und schlendert gefährlich dicht am Abgrund entlang. Wenn er das kann mit dem Auge, dann kann er auch den Kriecher nach unten bringen.

Ich drehe die kosmischen Stimmen lauter. Das Murmeln gibt mir das Gefühl, nicht so allein zu sein. Es stimmt, wir haben bisher kein Leben auf anderen Planeten gefunden. Trotzdem ist Leben da draußen, ich weiß das genau. Das ganze verdammte Ding, das man Universum nennt, ist lebendig. Es kann gar nicht anders sein.

Wir haben jetzt nicht mehr viel Zeit, um in die Wand zu kommen, wenn wir der Sonne weiter davonlaufen wollen. Wenn Jorge in zwei Stunden nicht zurück ist, muss ich die KI bitten, uns einzugraben.

»Weißt du, was dein Problem ist?«

Ich fahre zusammen. Jorge hat dicht an meinem Ohr gesprochen, ich spüre seinen Atem im Nacken, heiß und nach Verwesung stinkend.

»Im Grunde hast du unendlich viel Raum zur Verfügung, aber du bist niemals wirklich ein Teil von ihm. Du steckst dein ganzes Leben in Schiffen, Habitaten, Anzügen. Du bewegst dich endlos durch den Raum und bist trotzdem ständig eingesperrt. Darum sage ich, nimm die zweite Option. Stell dich endlich dem Raum.

Geh da raus und atme!«

»Jorge, gibt es eine Hölle?«

Er lacht auf. »Falls ja, bist du gerade mittendrin.«

»Wie ist es auf der anderen Seite?«

Jorges Stimme wird ganz weich, lockend. »Es sind alles bloß Wellen, weißt du. Du kannst sie nicht nur hören, sondern auch sehen, schmecken, fühlen. Sie durchdringen dich. Wird dir wirklich gefallen.«

Es klingt wirklich schön ... aber ... nein!

Jorge ist ein Produkt meines erschöpften Gehirns. Er ist eine ausschließlich für mich sichtbare Manifestation von Wunschdenken. Fragt sich nur, warum ich ihm dann nicht endlich mal den Splitter aus dem Kopf entferne und seine aus den Fugen geratenen Gesichtsproportionen geraderücke.

»Das sagst du nur, um es mir leichter zu machen.«

»Stimmt.«

»Bitte, Jorge. Tu‘s für mich. Wenn es schiefgeht, stürzen wir eben ab, und dann hast du deinen Willen.«

»Eigentlich könnten wir auch einfach über den Rand marschieren. Wenn du einen Absturz von mehreren Kilometern Höhe überlebst, sollte das hier doch ein Klacks sein, oder?«

»Machst du es?«

Jorge lächelt und schüttelt den Kopf, bevor er, aufreizend langsam, in die Wände hineindiffundiert.

»Na schön, du Arsch. Dann schaffe ich es eben allein«, knurre ich.

Ich taste mich vorwärts, mit dem ersten Bein, dem zweiten, kippe den Kriecher in die Wand. Ich bin hellwach, hochkonzentriert.

6.

Ja, ich weiß, der Zeitverlust, und die Tagzone ist bedrohlich nahe. Es ist heißer geworden, brütend, dumpf, fiebrig. Aber noch nicht lebensgefährlich. Und ich habe wieder festen Grund unter mir, es geht weiter, Stunde um Stunde um Stunde. Jorge ist bisher nicht wieder aufgetaucht. Jorge kann mich mal!

Der Kriecher ist voller Lärm, intensiv, dröhnend, bohrend, und ich vertreibe mir die Zeit damit, alle möglichen Muster da rein zu hören, mir Stimmen auszudenken, die zu mir sprechen. Ob ich schlafe oder träume oder nicht, ist mir mittlerweile egal.

Irgendwann bemerke ich, dass Jorge zurückgekehrt ist. Er schweigt, grimmig und mit verschränkten Armen. Vielleicht, weil ich immer noch lebe.

Und zwischen dem ganzen Geknatter und Geschnatter höre ich plötzlich, vollkommen klar, eine Frauenstimme: »Wir haben hier was«, sagt sie. »Eine kleine Einheit, am Boden unterwegs. Aus Nordwest.«

Und eine Männerstimme antwortet: »Hey ho, lebt da etwa noch wer?«

»Nicht, dass der uns noch was anlockt«, sagt die Frau.

»Wieso, weiß doch niemand, dass die hier sind.«

»Trotzdem. Kümmert euch drum.«