Spurensuche, Lebensorte, Lebenswege

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Spurensuche, Lebensorte, Lebenswege
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SPURENSUCHE
Lebensorte, Lebenswege
Lebensgeschichten
von Autorinnen der Gruppe „WortArt“

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei den Autorinnen

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

„Verstehen kann man das Leben nur rückwärts.

Leben muss man es vorwärts.”

Søren A. Kierkegaard (1813 – 1855), dän. Philosoph.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Sigrid Günther

Rückbesinnung

Gottesleugnung

Lebensentscheidung

Urlaub im Wasserschloss in Podelwitz an der Freiberger Mulde vom 24. bis 28.08.2008

Christine Kayser

Sommer 1966

Mein Leipzig

Das Flüstern der Bäume

Eva Lübbe

Erinnerung

Im Traum

Oma werden

Im Frühjahr

Hühner

Oktober

Damals und bald

Über den Wolken

Gedankenaustausch

Die Zauberlehrlinge

Grenzen

Helga Rahn

Insel im Oktober

Großstadtfrühling

Zerbrochen

Der Baum, ein Freund

Leipzig, Januar 2015

Von Licht und Dunkelheit

Monika Trinkaus

Brücke über dem Strom der Zeit

Einfach nur leben

Zwischenzeit

Rosemarie Zimmermann

Nachkriegsweihnachten

Fräulein Uetz – eine besondere Erinnerung

Meine Lehre von 1958 bis 1961

Isolde Haase

Schicksalsjahre

Ines Rahn

Liebe Sara

Autoren

Zum guten Schluss

Sigrid Günther
Rückbesinnung

Heute ist der 31.12.2005, abends bald 22 Uhr. Also ein Silvestertag. Tag der Erinnerung, eigentlich auf das verflossene Jahr.

Für mich soll es diesmal ein Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte sein. In diesen zig-Jahren habe ich Erlebnisse gehabt, die mich erst viel später sehr nachdenklich gemacht und meine Seele tief berührt haben.

Durch diese „Glaubenserfahrungen” ist mir bewusst geworden, dass da Einer mich begleitet und Seine Hand über mir gehalten hat und noch hält.

Es ist nicht so, dass ich übermäßig fromm bin. In einem christlichen Elternhaus groß geworden, bin ich zwar gläubig, aber nicht streng gläubig erzogen worden. Beten fällt mir oftmals schwer und mein Glaube hat manche Krise durchgemacht.

Meine Mutter hat das Christsein uns Kindern vorgelebt, weniger durch Worte, als vielmehr in Taten. Sie war alleinerziehend und mit uns Kindern sehr geduldig (meine Schwester und ich waren keine Engel). Mein Vater starb, als ich 7 und meine Schwester 5 Jahre alt waren.

Unsere viel ältere Schwester hat meiner Mutter besonders viel Sorgen bereitet. Sie kam mit einem Kind nach Hause, vernachlässigte ihre Mutterpflichten und war dann auch noch dem Alkohol verfallen. Trotz aller schweren Schicksalsschläge ist meine Mutter, die außerdem zwei Weltkriege miterleben musste, in ihrem Wesen immer ausgeglichen und heiter geblieben.

Jetzt ist nun der Zeitpunkt gekommen, wo es mich einfach treibt, diese meine Erfahrungen mir von der Seele zu schreiben.

Gottesleugnung

„Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen, und ging hinaus und weinte bitterlich.”

Wenn ich diese Worte aus dem Matthäusevangelium 26, Vers 75 lese oder höre, werde ich immer wieder an das Erlebnis erinnert, das ich in meiner Schulzeit – in der 6. oder 7. Klasse in den Jahren 1960/1961 hatte. Auf dem Stundenplan stand das Fach „Geschichte”, das nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern gehörte. Vielleicht lag es auch mit am Lehrer, den ich nicht mochte.

Meine Mitarbeit war dementsprechend, eben nicht gerade hervorragend. Der Lehrer hatte mich wieder mal auf dem Kieker.

Als ich seine von ihm gestellte fachliche Frage nicht beantworten konnte, fragte er mich plötzlich ganz provozierend vor der ganzen Klasse, ob ich denn an Gott glauben würde. Ich war wie geschockt, die ganze Klasse mucksmäuschen still und alle starrten gespannt auf mich. Dann erst nach einer für mich langen Pause, habe ich mit einem leisen „Nein” geantwortet.

Diese Begebenheit hat mich mein ganzes Leben beschäftigt. Natürlich nicht ständig. Aber jedes Mal wenn ich den Bibeltext vor mir sehe (ich mache meine tägliche Bibellese) muss ich daran denken. Aber ich weiß auch, dass mir Gott verziehen hat, denn er hat mich immer wieder gute Wege geführt und mich in meinem Leben vor manchen Gefahren bewahrt.

Lebensentscheidung

Ich hatte keine leichte Schulzeit aufgrund meiner Weltanschauung, weil ich immer dem Gespött meiner Mitschüler und auch einzelner Lehrer ausgesetzt war.

Die schlimmste Krise musste ich 1962 durchmachen.

Ich ging in eine 27. POS in Leipzig. Es wurde damals angestrebt, dass jede Klasse vollzählig an der Jugendweihe teilnehmen sollte.

Ein unserer Familie sehr nahe stehender Pfarrer aus der Thonberger Gemeinde riet meiner Mutter, dass sie mich doch zur Jugendweihe schicken solle, um diesen Repressalien zu entgehen. Er würde mich dann trotzdem ein Jahr später konfirmieren, was damals noch nicht so üblich war.

Aber für mich war es unvorstellbar, zwei verschiedene Bekenntnisse ablegen zu müssen. Das bedeutete ja, den Mantel nach dem Wind zu hängen. Ich habe es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können.

Als ich meiner Mutter meine Kümmernisse mitteilte, sagte sie mir: „Wie du dich auch entscheidest, ich respektiere das, denn dies ist eine ganz wichtige Entscheidung für’s weitere Leben, die du nur selber treffen kannst.” Ich bin meiner Mutter heute noch dankbar, dass sie mir diese schwere Entscheidung überlassen hat.

Ich habe dann sehr mit mir gerungen, denn ich war in unserer Klasse die Einzige, die keine Jugendweihe mitmachen würde. Ich steckte in einer tiefen Krise.

Meine Entscheidung musste ich einem Lehrer mitteilen, der für die Organisation der Jugendweihe verantwortlich und ein eifriger Verfechter der sozialistischen Gesellschaft war. Ich kann mich sogar jetzt noch an sein Aussehen erinnern. Er war von untersetzter Gestalt, schwarze Haare, ein affenähnliches Gesicht, aus dem man seine 1.000 %ige Überzeugung herauslesen konnte. Vor diesem Lehrer hatte jeder Schüler Respekt oder besser gesagt Furcht.

 

Und vor diesem Lehrer musste ich hintreten, große Angst im Herzen, und habe ihm gesagt, dass ich nicht an der Jugendweihe teilnehmen werde. Kaum hatte ich ausgeredet, als er mich derart anschrie (für sein Geschrei war er in der ganzen Schule bekannt), dass alle Schüler und Lehrer im Schulgebäude dieses Geplärre mitbekamen. Ich kann heute nicht mehr sagen, was seine Worte waren. Nach diesem Disput war ich erst einmal erleichtert.

Aber diese Entscheidung hatte für meine spätere berufliche Laufbahn Folgen.

Noch während meiner Schulzeit (es muss in der 10. Klasse gewesen sein) ging ich auf Lehrstellensuche. Anfangs begleitete mich meine Mutter. Ich hatte eine Stelle im VEB Hochbauprojektierung am Augustusplatz gefunden und musste mich nur nochmal wegen einer Unterschrift unter meinen Lehrvertrag dort einfinden.

Bevor diese Formalität erfolgte, fragte mich die dortige Mitarbeiterin, ob ich denn Jugendweihe gehabt hätte. Als ich verneinte, entließ sie mich mit den Worten: „Ja, dann weiß ich nicht, ob es mit der Stelle klappt.”

Ich war natürlich geschockt und vollkommen niedergeschlagen, als ich es meiner Mutter erzählte. Sie war entsetzt, denn damit hatte sie auch nicht gerechnet, weil es so gut wie sicher war.

Als ich die Sache meinem Klassenlehrer vortrug, hat er sich am gleichen Tag mit der Mitarbeiterin von der Hochbauprojektierung in Verbindung gesetzt, um noch was zu retten. Aber leider vergeblich.

Nun ging die Suche von Neuem los. Dadurch, dass meine Mutter viel Außendienst hatte, kam sie mit vielen Firmen in Kontakt. So landete ich im Kontor einer kleinen Privatfirma. Dort wurde ich wie in einer Familie aufgenommen. Es war eine schöne Zeit. Vielleicht hätte es mir in den großen VEB-Betrieb gar nicht gefallen.

Ich denke mir, dass alles so seinen Sinn hat, auch wenn es manchmal krumme Wege sind, die wir nicht verstehen wollen, aber im Nachhinein die positive Seite erkennen.


Urlaub im Wasserschloss in Podelwitz an der Freiberger Mulde vom 24. bis 28.08.2008

Sonntag, 24.08. Anreisetag

Der Tag begann mit ziemlichen Regen, aber als ich 9.45 Uhr reisefertig war, hellte es auf. Schön, nun kann der Urlaub beginnen! So bin ich ganz entspannt mit meinem „Rundgenutschten” (damit meine ich mein Auto) die Prager- und Muldentalstraße bis Grimma gefahren, weiter auf der B107 nach Schönbach und dann links in die Straße nach Podelwitz eingebogen. Erstaunlicherweise bin ich keiner Umleitung begegnet. Na ja, man muss auch mal Glück haben im Leben. Als ich so gegen 10.45 Uhr im Schloss eingetroffen war, konnte ich noch nicht ins Zimmer, was ich fast ahnte. Ab 12 Uhr war dann das Zimmer beziehbar. Aber ich nicht faul, habe meinen Rucksack geschnappt und bin losgetrabt. In der Ferne sah ich schon die extrem spitztürmige Kirche von dem etwa 1,5 km entfernten Nachbarort Collmen. Die Landstraße führte ständig bergan, glücklicherweise war es nicht warm, sonst wäre ich zerflossen..

Als ich dann unentschlossen vor den verschlossenen Türen der Collmener Kirche stand, kamen springlebendig zwei kleine Mädchen angehüpft, die vielleicht so etwa 6 und 8 Jahre alt waren. Die Ältere von beiden fragte mich gleich, ob sie mir denn die Kirche zeigen solle. Das nahm ich natürlich gerne an, schon mit dem Hintergedanken, vielleicht auf der Orgel spielen zu können. Sogleich holten sie den Kirchenschlüssel und brachten noch ein etwa 12-jähriges Mädchen mit.

Die Bitte der Mädchen, doch mal die Orgel zu spielen, musste ich leider ablehnen, weil ich keine Noten mithatte, denn ohne Noten bin ich hilflos. Aber dieses Problem war auch gleich behoben. Sie sind mit mir zum Kantor nicht weit vom Pfarrhaus gestürmt, um diesen erst einmal um Erlaubnis zu bitten. Wie sich herausstellte, war dieser der Posaunenwart Arno S., den ich durch meine Schwester (sie blies lange Jahre Posaune), nur namentlich kannte. Er konnte sich sogar noch an meine Schwester erinnern. Die Welt ist doch manchmal ein Dorf. Er gab mir gern die Genehmigung und so konnte ich jederzeit den Kirchenschlüssel holen.

Nach Podelwitz zurückgekehrt, musste ich mich erst einmal stärken. Ich hatte seit 7.30 Uhr noch nichts wieder gegessen und es war mittlerweile 12.30 Uhr.

Anschließend besichtigte ich die im Schloss befindliche Heimatstube. Einfach herrlich, die vielen antiken Sachen. Kindheitserinnerungen und vergangene Zeiten wurden wieder lebendig. Ich kam auch sofort mit anderen begeisterten Besuchern ins Gespräch. Nach einem vielleicht 1 ½ stündigen Rundgang luden in einem wohnlich-altertümlichen eingerichteten Zimmer weißgedeckte Tische mit brennenden Kerzen zum Verweilen ein. Ich konnte trotz meines vollen Magens einfach nicht widerstehen und probierte den leckeren Kuchen und dazu gleich zwei Tassen Kaffee, den mir Frau Knochenbrei – die gute Seele des Schlosses – servierte. Eine Familie setzte sich ebenfalls an meinen Tisch und es entspann sich – wie kann es anders sein – ein Gespräch zwischen uns.

Gleich danach packte ich die Noten in meinem Rucksack und machte einen 1 ½ stündigen Verdauungsgepäckmarsch nach Collmen über die Dörfer Chommichau und Zschadraß, um mich an der dortigen Orgel auszutoben. Nun konnte ich den Mädchen, die nach einer Stunde in die Kirche kamen, doch noch ein bisschen Orgelmusik bieten. Auch der Vater der beiden forderte mich auf, am liebsten jeden Tag zu kommen.

Gegen 18.15 Uhr im Quartier angekommen, habe ich erst einmal ausgepackt und dann das noch zu Hause geschmierte Fettbemmchen verzehrt. Ich konnte nicht umhin, noch mal das Schloss, bewaffnet mit Fotoapparat und Sonnbrille, zu verlassen. Die Abendstimmung draußen war doch zu verlockend.

So, nun ist es schon wieder kurz nach 22 Uhr.

Jetzt mach ich es mir aber gemütlich bei einem Glas Sekt.

Das habe ich mir redlich verdient.

Christine Kayser
Sommer 1966

Ein Sonntag, wie immer. Die ganze Familie schläft fest und wie üblich, sehr lange. Durch die nur angelehnte Tür des Elternschlafzimmers ist leichtes Schnarchen zu vernehmen. Es ist Mutter. Der Vater schläft ruhig.

Die „Große“ wird durch einen Sonnenstrahl geweckt. Im Kinderzimmer herrscht noch Ruhe. Ihr Bruder liegt unter seiner Zudecke. Er hat sich bis über beide Ohren eingerollt. Ein wild zerzauster Haarschopf lugt hervor. Der Junge liegt da wie tot. Auch die zwei Schwestern bewegen sich noch nicht. Eng umschlungen liegen sie da. Das Bettzeug ist total zerwurstelt. Zwei kleine Füße hängen heraus. Der Nachttopf steht neben dem Bett. Manchmal ist er fast voll, aber heute nicht. Sicher hat die Kleine wieder mal ins Bett gemacht. Sie will nachts nicht aufs Töpfchen gehen. – Wegen der Mäuse.

Die „Große“ passte nicht mehr ins Kinderzimmer und so wurde ihr im Korridor unter der Dachschräge eine Schlafnische eingerichtet. Sie findet es romantisch und toll. Endlich ein neues Bett, ein eigener Schrank mit zwei Türen und einem Spiegel in der Mitte. Sie kann ihr Glück kaum fassen. Jede Woche nimmt sie alle Sachen heraus und sortiert sie ganz ordentlich wieder ein. Dann lässt sie die Schranktüren eine Weile offen und freut sich über den schönen Anblick. „Habe ich es jetzt gut.“ Sie denkt laut zurück: „Schön war es schon, abends mit kalten Füßen in ein vorgewärmtes Bett der bereits schlafenden Geschwister zu kriechen.“ Nicht so angenehm fand sie es manchmal im Bett der Kleinen, wenn sie plötzlich nachts spürte, wie es um sie herum feucht-warm wurde. Doch die Müdigkeit ließ sie weiter schlafen. Aber morgens! Das Nachthemd war pitschnass und roch. Damals war Winter und es war kalt im Zimmer. „Jetzt ist alles anders.“ Ein Lächeln umspielt ihren Mund und Ihre Gedanken eilen voraus. Nun hält sie nichts mehr in ihrem Bett. Langsam schleicht sie auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und begibt sich ins Bad. Nach einer Katzenwäsche zieht sie sich an. Frühstücken kann sie noch nicht. Vom Vortag der alte Malzkaffee genügt. „Hm, bitter.“ Sie schreibt einen Zettel: „Bin mal zum Feld, nehme Hella mit.“ Leise schließt sie die Haustür. Freudig kommt die Hündin angesprungen und wirft sie fast um. „He, nicht so stürmisch, komm, wir gehen.“

Beide laufen zum Tor hinaus. Die Sonne lacht und gibt ihr Bestes. Der Himmel strahlt blau, ist fast wolkenlos. Sie laufen über Feldwege. Es riecht nach Gras und Erde. In ihrem Innern jauchzt das Herz. Sie ist von der Schönheit der Natur ergriffen. Tief atmet sie auf, lacht. Hella lacht auch. Sie hat das Maul weit offen und zeigt ihre weißen Zähne. Voller Lebensfreude springt und tollt sie über den Acker. Ein verschreckter Hase rennt im Zickzack davon und sie hinterher „Lass das, komm her!“ Sie folgt „Toben darfst du, aber keine Hasen fangen.“ Und Hella versteht. Sie legt sich hin und bekommt jetzt Streicheleinheiten, die sie dankbar genießt. Mit ihrer Zunge leckt sie die Hand ihrer jungen Herrin.

Das Mädchen entdeckt die Rübenhacke der Mutter am Feldrain „Ich habe Lust, Rüben zu verziehen. Mutter wird sich freuen – und mich loben.“ Sie blickt an sich herunter. Das Kleid, welches sie trägt, ist ein Modellkleid und laut Expertise hochmodisch. Es war ein Geschenk der Eltern zur Jugendweihe. Ihr gefiel es damals einfach nicht. Getragen hatte sie es noch nie. So etwas würde sie sich niemals kaufen. Damals machte sie „gute Miene“ und bedankte sich brav. Nun trägt sie es zum ersten Mal auf dem Feld, denn im Schrank war nichts Rechtes zu finden.

Mit der Rübenhacke macht sie sich voller Eifer über die Rüben her. Es geht ganz gut. Ab und zu jedoch ärgert sie sich: „Wieder mal zu viel weggehackt.“ Nun drückt sie ein Pflänzchen, dass am Boden liegt, ganz fest in die Erde, damit es wieder anwachsen kann. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Nur sie und Hella sind auf dem Feld. Sie stutzt: „He, du.“ Ein kleines Etwas, was sie noch nie gesehen hat, sitzt plötzlich vor ihr. Das reckt sich und spreizt die Arme, kleine Pfötchen zeigen Krallen.

Das seltsame Etwas gibt komische Geräusche von sich. Es hat niedliche, spitze Zähne und ein weißes Unterbauch- und Brustfell. Alles andere ist bräunlich. Weil dieses Tierchen so niedlich ist, will sie es fangen, um es zu streicheln. Das Tierchen flieht. Hella merkt nichts. Die Sonne wird heiß. Ihr Kleid liegt in einer Furche, mitten im Rübenfeld. In einem BH aus weißer Spitze und einem Höschen, die Rübenhacke in der Hand arbeitet sie fleißig weiter. Sie will noch einige Reihen schaffen.

Die Zeit vergeht dabei. Sie denkt laut: „Bald gehe ich nach Hause.“ Doch irgendwie fühlt sie sich beobachtet, sieht aber niemand. Sie erschrickt, als ein Mann auf sie zukommt. Schnell stürzt sie zu ihrem Kleid, schnell hat sie es an. Er ruft: „Keine Angst Mädchen, ich tue dir nichts. Da, hinter dem Hügel, sind meine Kameraden. Sie gucken mit Fernglas. Ich wollte dir das sagen.“ Er bietet sich an, ihr beim Rübenverziehen zu helfen. Sie lehnt ab. Er sagt: „Ich mache das gerne.“ Sie erwidert: „Ich auch.“ Er geht nicht, lächelt, kniet sich nieder und hilft. Sie ist etwas verlegen und wagt sich nicht, ihn anzusehen.

Nun erzählt er von seiner Familie. Dabei erfährt sie, dass seine Schwester Lehrerin ist. Von seinen Eltern spricht er voller Hochachtung. Mit leiser Wehmut denkt er an sein Zuhause zurück Später, als ihre Mutter kommt, traut sie sich, ihn heimlich zu mustern. Er ist blond, hat kurze Haare, blaue Augen, weiße Zähne. Die Uniform ist ordentlich und seine blank geputzten Stiefel bedeckt nur ein wenig Staub vom Feld. Er versteht sich gut mit ihrer Mutter. Diese freut sich, dass er so fleißig ist. Sie bietet Zigaretten an. Er dankt: „Ich rauche nicht.“ Sie: „Gut so, bist ein guter Soldat vielleicht der Beste?“

Er lacht verlegen und verzieht emsig Rüben. Der Abend naht. Sie verabschieden sich. Er muss zurück. Es ist nicht weit. Die Felder grenzen an ein Wäldchen. Darinnen befinden sich die Kasernen. Der Ort nennt sich: „Heiterblick“ – am Stadtrand Leipzigs gelegen, von der Natur erschaffen und reichlich bedacht. Nur die Kasernen sind grau, dafür aber hinter Mauern und Bäumen versteckt.

Die Mutter geht mit Tochter und Hund nach Hause. Ein Bauer steht am Zaun und ruft. „Na, Eva, seid Ihr wieder fleißig gewesen.“ Und schon beginnt er, zu flirten: „Wo sind denn deine anderen hübschen Töchter?“ „Ach Walter, die sind doch noch zu klein fürs Feld. Meine Große ist da eher geeignet.“ Lachend geht sie weiter.

 

Die nächsten Tage verbringen sie wieder auf dem Feld. Viktor, der Soldat kommt täglich und hilft. Seine blauen Augen strahlen und ein Feuer scheint darin zu lodern. Die jungen Leute necken sich. Die Mutter merkt es nicht, als er heiser haucht: „Ich liebe dich.“ Das Mädchen freut sich so über diese schönen Worte. Es gibt jemand, der sie liebt! Sie strahlt.

Tage vergehen und die Arbeit auf dem Feld ist zu Ende.

Abschied. Viktor will sie wieder sehen. Sein Blick ist sehr traurig. Ihre Hand hält er ganz lange fest und sieht ihr dabei tief in die Augen. Seine Stimme zittert, als er leise spricht: „Bitte, ich warte jeden Tag auf dich!“ Sie nickt: „Ich komme.“ Sein Blick ist ungläubig. Sie: „Wirklich.“ Schweren Herzens gehen sie auseinander. Es ist, als ob sie ahnt, dass sie sich nie wieder treffen werden. Sie grübelt. „Wer weiß, was da passiert mit uns?“ Zu gerne hätte sie es gewusst. Das Unerklärliche ist so geheimnisvoll und magisch, fast gefährlich. Sie denkt an ihn und kämpft mit sich. „Etwas zieht mich an, und etwas hält mich zurück.“

Sie versucht ihre Gedanken zu verdrängen, doch so einfach ist das nicht. Währenddessen wird die Zeit vom Alltag verschluckt. Doch immer wieder muss sie an ihn denken. Eines Tages geht sie mit ihrer Schwester spazieren. Ihr Weg führt an einer kleinen Gärtnerei vorbei. Ein buntes Blumenfeld begrüßt sie. Es ist Mittagszeit und ruhig. Nirgends ist ein Mensch zu sehen. Doch sie laufen unbeirrt weiter. Dieses Mal werden keine Blumen gestohlen. Die Zeit der Erdbeeren ist auch vorbei. Hier waren sie größer und schmeckten viel süßer, als die im Garten der Mutter. Besonders im Dunkeln, bei Mondschein, lohnte sich das Naschen. Nur Mutter durfte davon nichts wissen.

Am Ende der Gärtnerei dehnten sich die gut bestellten Felder aus. Bald würde die Ernte eingebracht: das überreife Getreide, der Mais, bestens gewachsen. Das gibt gutes Futter für das Vieh. Vorwitzige Kornblumen lugen hier und da versteckt am Feldrain heraus. Heute aber bleiben sie unberührt. Schließlich haben die Mädchen den Eingang der Kasernen erreicht. Beide sind jetzt aufgeregt, denn sie wissen nicht recht, wie sie sich verhalten sollen. „Da gibt es einen kleinen Laden, lass uns dort Bonbons kaufen.“ Doch bis dahin kommen sie nicht. Neugierig werden die beiden Mädchen gemustert. Lauter junge Burschen tummeln sich auf einem Sportplatz und spielen Fußball. Mutig fragt das Mädchen: „Wo ist Viktor?“

Einer von ihnen ruft: „Ich bin Viktor.“ – Ja, es gibt viele, die so heißen. Doch die Mädchen kennen nur den Vornamen. Sie werden zur Kommandantur geschickt. Dort ist man verwundert und nicht gerade erfreut. Mädchen sind hier verboten. Beschämt verlassen sie das Gelände. Viktor ist längst in seiner russischen Heimat.

Aber vergessen konnte sie ihn nie mehr.

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