Politik ohne Gott

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Politik ohne Gott
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POLITIK

OHNE GOTT

Wie viel Religion verträgt Demokratie?

Herausgegeben von

Stefana Sabin und Helmut Ortner


© 2014 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe

info@zuklampen.de · www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Rudolf Blazek · Frankfurt/​Main,

www.blazekgrafik.de

Satz: thielenVERLAGSBUERO · Hannover

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-86674-378-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

STEFANA SABIN UND HELMUT ORTNER

Kirche, Staat und die Privatsphäre Eine Vorrede

DETLEV CLAUSSEN

Missglückte Säkularisierung Neue Religiosität mit Zukunft

EVELYN FINGER

Das elfte Gebot Über Religion lässt sich in der Demokratie gut streiten

RUPERT VON PLOTTNITZ

Die angstvolle Neutralität Grundgesetz und Rechtsprechung in der Bundesrepublik

DIRK KURBJUWEIT

Friede den Wehr-Christen Warum Religionen Spott ertragen müssen

RONALD FUNKE

Programm mit Gottes Segen? Die Rolle der Kirchen in den öffentlich-rechtlichen Medien

TORSTEN BULTMANN

Kirche in der Schule Religionsunterricht und Religionsfreiheit

GERD LÜDEMANN

Theologie zwischen freier Wissenschaft und religiöser Vorgabe Ein Erfahrungsbericht

INGRID MATTHÄUS-MAIER

Der sogenannte Dritte Weg Die Kirche als Arbeitgeber

CARSTEN FRERK

Den Seinen gibt’s der Herr vom Staat Über Kirchensteuer, Dotationen und »konsensuale Gespräche«

RALPH GHADBAN

Al-islam dîn wa dawla Islamische Lebensform und säkularer Staat

WOLFGANG KLOTZ

Mit Hammer, Sichel und Kreuz Religion, Nation, Kirche, Staat in Mittel- und Südosteuropa

MATTHIAS RÜB

Mit Gott und Schwert Barack Obama und das Ende von Amerikas Freiheitsmission

MOSHE ZUCKERMANN

Staatskirche – Kirchenstaat Jüdische Religion in Israel

OTTO KALLSCHEUER

Politik ohne Gott? Eine Fortschrittsutopie von gestern

ANHANG

JOHANN-ALBRECHT HAUPT

Die Privilegien der Kirchen (Auszug aus dem Gesetzbuch)

Zu den Autorinnen und Autoren

STEFANA SABIN UND HELMUT ORTNER

Kirche, Staat und die Privatsphäre

Eine Vorrede

Demokratien sehen die Trennung von Staat und Kirche vor und garantieren zugleich die Freiheit der Religionsausübung; sie erkennen die religiöse Vielfalt an und bemühen sich – nicht zuletzt durch staatliche Maßnahmen – den gesellschaftlichen Zusammenhalt über religiöse Grenzen hinweg zu erhalten und zu schützen.

Hierzulande darf niemand wegen seines Glaubens diskriminiert werden. Deutschland versteht sich als eine pluralistische, also multiethnische und multireligiöse Gesellschaft. Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige müssen miteinander auskommen. Alle dürfen glauben, niemand muss. Religionsfreiheit bedeutet Glaubensfreiheit ebenso wie die Freiheit, nicht zu glauben. Auch deshalb ist der Glaube – welcher auch immer! – keine öffentliche Angelegenheit, sondern gehört zur Privatsphäre, die ihrerseits geschützt ist. Schon Jesus hatte die Privatheit gepredigt: »Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler. Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber geh in deine Kammer, wenn du betest, und schließ die Tür zu.« (Matthäus 6 : 5 – 6. Einheitsübersetzung)

Die aufklärerische Säkularisierung hatte den Glauben zur Privatsache gemacht und die Kirche aus öffentlichen Angelegenheiten weitgehend hinausgedrängt. Aber die erst vor kurzem geführte Debatte um die Einbeziehung christlicher Werte in die Europäische Verfassung zeigt, wie gefährdet die säkulare Gesellschaft ist. Auch in demokratischen Ländern fordern Religionsgemeinschaften wieder mehr politischen und gesellschaftlichen Einfluss, zum Beispiel auf die Gesundheits-, Schul- und Medienpolitik, und Streit flackert auf, wenn es um das Tragen des traditionellen muslimischen Kopftuchs oder das Einhalten von religiösen Ritualen wie der Beschneidung geht. Solche Auseinandersetzungen zeigen immer wieder, wie instabil die säkulare Realität der Gesellschaft tatsächlich ist.

So schließen bundesdeutsche Politiker jeder Couleur ihren Amtseid regelmäßig mit der bewährten Formel »So wahr mir Gott helfe« ab. In den Niederungen des politischen Alltags mag eine Dosis göttlicher Eingebung mitunter durchaus hilfreich sein – nach der Verfassung wäre es genauso möglich, den Eid ohne religiöse Beteuerung zu leisten: »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.« Punkt. Ohne »So wahr mir Gott helfe«.

Auch in deutschen Gerichtssälen wird viel geschworen unter Berufung auf Gott. Diese Beschwörungsformeln sind ein Hinweis auf die Stabilität alltäglicher Verhaltensmuster, zu denen der Gottesbezug wie selbstverständlich dazugehört – und das obwohl die Kirchen leer bleiben!

Während kirchlich gebundene und organisierte Religiosität ihre Bedeutung als gesellschaftliche Bindekraft verloren hat, ist das Sinnstiftungsangebot im postmodernen Supermarkt der Religionen gut sortiert. Und dieser Supermarkt ist inzwischen global. Vielleicht auch als Reaktion auf das bewusste, manchmal geradezu aggressive Auftreten religiöser Gruppen ist immer öfter von einer Zivilreligion die Rede und wird das christliche Abendland als Legitimation für die Dominanz der beiden großen christlichen Kirchen beschworen. Damit wird aber der Unterschied zwischen kultureller und religiöser Tradition rhetorisch verwischt und die Verfassungsstaatlichkeit als Nebenprodukt beider minimiert. Und so wird die Kirchensteuer weiterhin für selbstverständlich gehalten.

Gerade die immer wieder neu verhandelte Verpflichtung des deutschen Staates, die christlichen Kirchen für Enteignungen, die über zweihundert Jahre zurückliegen, zu entschädigen, erregt die säkularen Gemüter und disqualifiziert das deutsche Modell der Trennung von Staat und Kirche als eine »hinkende Trennung«, wie der Theologe Ulrich Schulz schon Anfang des 20. Jahrhunderts fand. Tatsächlich hinkt diese Trennung heute mehr denn je. Anders als die soziologischen Klassiker der Moderne meinten, ist die Macht der Religion und ihrer Institutionen zwar beschränkt, aber nicht gebrochen. So wird heute weniger von Säkularisierung als vielmehr von einer Renaissance der Religionen gesprochen. Galt die moderne Gesellschaft als säkular, so ist die postmoderne Gesellschaft zu einer postsäkularen mutiert!

Denn nicht nur genießen in Deutschland, anders als im laizistischen Frankreich, die christlichen Kirchen durch völkerrechtliche Konkordate und Kirchenverträge geschützte Sonderrechte – ihre Einflussnahme ist umso beharrlicher, je mehr ihre reale gesellschaftliche Bedeutung abzunehmen scheint. Es geht um Deutungshoheit, nicht zuletzt um finanzielle Privilegien. Ob kirchliche Feiertage, Sonntagsarbeit oder Religionsunterricht, ob Sexualmoral, Schwangerenberatung oder Sterbehilfe – die Kirchen wollen bei Themen, die für heutige Lebensverhältnisse relevant sind, mitentscheiden, und die Politik hört ihnen verlegen zu und scheint zu resignieren, statt ihren Einfluss gemäß der Verfassung einzudämmen.

 

Zwar wird im Namen der Religion das Miteinander propagiert, aber tatsächlich findet eine rabiate Auseinandersetzung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, auch zwischen Gläubigen und Andersgläubigen statt. Witze, Karikaturen, Bücher, in denen religiöse Praktiken hinterfragt oder auch nur beschrieben werden, gelten oft schon als Beleidigungen, und eine parallele Rechtsprechung, die sich auf religiöse Traditionen beruft, ist auf dem Vormarsch. Dabei bleiben gerade jene Stimmen stumm, die den schwer erkämpften Säkularismus verteidigen sollten.

Vielleicht führt die »Wiederkehr der Götter«, wie Friedrich Wilhelm Graf die neue Religiosität nennt, zur Etablierung einer Volksreligion, die nach ähnlichen Ritualen der Eventisierung funktioniert wie die Politik. Vorerst aber wird die Verschränkung von Politik und Religion immer unübersichtlicher, und das Spannungsverhältnis von Politik und Religion ist zu einem zentralen Thema öffentlicher Auseinandersetzung geworden. Welche Sprengkraft Religion in sich birgt, zeigen die radikalen Bewegungen, die im Namen einer Religion Gesellschaften und ganze Staaten destabilisieren. So stellt sich die Frage nach der Trennung von Staat und Kirche immer neu – und mit immer größerer Dringlichkeit. Die integrationsbedingte Pluralisierung der religiösen Geographie hat die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Staat und Kirche in eine noch deutlichere Schieflage gebracht, und das nicht nur hierzulande. Die Demokratien sind gefordert, sich gewissermaßen religionspolitisch neu zu orientieren.

Es geht nicht um die Austreibung Gottes, nur darum, die Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen, damit die Privatsache Gott nicht in die öffentliche Politik zurückkehrt.

Die Essays in diesem Band wollen die realexistierende Säkularisierung überprüfen und die Interessenkonflikte beschreiben, denen Demokratien heute ausgesetzt sind. Zwar geht es dabei vor allem um die deutsche Lage, aber Ausblicke auf die USA, den Balkan und Israel zeigen, wie brisant das Verhältnis zwischen Kirche und Staat, Religion und Politik auch woanders ist. Keineswegs antireligiös, plädiert dieser Band für den säkularen religionspluralistischen Staat.

DETLEV CLAUSSEN

Missglückte Säkularisierung

Neue Religiosität mit Zukunft

Abgestorbene Zellen von Religiosität inmitten des Säkularen aber werden zum Gift.

Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, 1964

An einem 1. April 2014, auf einer Gartenparty für eine pensionierte Grundschullehrerin in der Nähe Frankfurts, gerate ich in ein Gespräch mit einem Pädagogen im Rentenalter: »Ich habe in der letzten vierzig Jahren mehr islamische Schüler gehabt als christliche.« Weiß der Mann überhaupt, was er sagt? Er weiß, was er sagen will: »Meine besten Schüler sagen mir, was wir Deutschen uns von den Muslimen gefallen lassen, ist doch reiner Wahnsinn!« Ich kenne ihn, auch um 1968 nicht der hellste im Kopfe, begann er seine Karriere als linker Lehrer und wurde im Laufe der Jahrzehnte immer normaler. Zu dieser Existenzform gehört die konformistische Rebellion gegen »political correctness«, die man in diesen Kreisen der Alt-68er inzwischen als linke Übertreibung einzuschätzen weiß.

Das Missglückte an der Säkularisierung lässt sich im Alltag an allen Ecken und Enden spüren. Die Schule erfüllt ihre aufklärerische Aufgabe nicht. Wie sollte sie auch, mit solchen Lehrern? Der Mann ist ja kein Einzelfall. Auch Thilo Sarrazin wurde zu seinem Sachbuchbestseller »Deutschland schafft sich ab« inspiriert durch seine an der Grundschule lehrende Ehefrau Ursula. Rund dreihundert Jahre nach Einführung der Schulpflicht in Preußen fühlt man sich heute an die Milieutheorie des 18. Jahrhunderts erinnert. Die eindringliche Frage »Wer erzieht die Erzieher?« stellt sich neu. Nach hundert Jahren Aufklärung kritisierte der junge Marx in der 3. Feuerbachthese: »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß.«

Gesellschaftliche Erklärungen für Konflikte zu suchen, ist in den letzten zwanzig Jahren aus der Mode gekommen. Die gegenwärtige Wirklichkeit wird aus der Vorvergangenheit erklärt und kulturalistisch interpretiert. Am umstrittenen »Multikulturalismus« wird dies besonders deutlich. Die verzerrte Wahrnehmung der Gesellschaft ist keineswegs auf den rechten Teil der Gesellschaft beschränkt, der die ethnisch heterogene Zusammensetzung der Bevölkerung verleugnet; auch sein linker Widerpart, der das Stichwort »Multikultur« erfunden zu haben behauptet, akzeptiert schon in diesem schlechten Begriff Herkunft und Tradition als Schlüsselkategorien zur Erkenntnis von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Beide Seiten streiten sich naiv um Art und Weise einer möglichen Integration, die ein homogenes gesellschaftliches Ganzes voraussetzt. Ein an der Vergangenheit orientiertes Geschichtsbewusstsein verdinglicht Kultur zu einem ontologischen Begriff, der von der herkömmlichen Religion durchdrungen und legitimiert wird.

Der 11. September 2001 hat den Prozess verzerrter Wahrnehmung von Gesellschaften globalisiert. Samuel Huntingtons grobschlächtige Theorie »clash of civilizations« wurde noch einmal trivialisiert und sackte ins Alltagsbewusstsein ab. Die Fiktion schien realitätsmächtig zu werden, dass sich weltweit der Islam und der (christliche) Westen, das gute alte Abendland, gegenüberstünden. In einem Titanenkampf der Werte, selbst eine verdinglichte Kategorie, müsse der unheroisch gewordene Westen seinen Mann stehen – diese Weltsicht setzte sich in den Köpfen der Medienkonsumenten nicht nur im Westen durch. Der 2005 von den Medien provozierte und von islamistischen Gruppen geschürte Streit um die Mohammed-Karikaturen zeigte die neue Aufteilung der Welt in Christen und Muslime. Nur Indien, China und Japan passen nicht in diesen Manichäismus. Also rechnet man China und Indien einfach zum Anti-Westen, Japan zum Westen, weil es im Kalten Krieg politisch zum Westen gehörte. Die neue religiöse Zauberformel geht überhaupt nicht auf, übt aber enorme Anziehungskraft aus. Menschen bezeichnen sich inzwischen als Christen, die das letzte Mal bei ihrer Taufe in der Kirche waren und den Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament nicht benennen können. Ihr defizitäres religiöses Wissen misst sich an einem phantasierten machtvollen Islam, dem jeder Mensch zugerechnet wird, der irgendwie mit einer Herkunft aus Ländern geschlagen ist, in denen viele Moscheen stehen. In dieses Modell passt auch das fiktionale Selbstverständnis von einem christlich-jüdischen Abendland, das schlicht tausend Jahre Judenfeindschaft und Antisemitismus verleugnet.

Auf die Säkularisierung hatten die Erben der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert, dem sogenannten »long century« (1770 – 1914), große Hoffnung gesetzt. Kaiser Napoleon machte in seinem Machtkampf mit der katholischen Kirche mit der Säkularisierung ernst. Er enteignete den größten Grundbesitzer Europas, der überall mit den feudalen Mächten im Bunde war. In den meisten modernen bürgerlichen Gesellschaften entbrannte in diesem langen Jahrhundert ein Kulturkampf zwischen Laizismus und Kirchentreuen, der mit meist faulen Kompromissen endete, die in der zweiten Hälfte des sogenannten »short century« (1917 – 1989) wieder aufgekündigt wurde, als eine Welle des Fundamentalismus – von den USA ausgehend – einen weltweiten »backlash« mit antimodernen Antlitz auslöste. Der Evangelikalismus schrieb vor allem den Kampf gegen die Abtreibung auf seine Fahnen, die Homoehe wirkte auf die Evangelikalen wie ein rotes Tuch. Die katholische Kirche fühlte sich von ultrakonservativen Abspaltungen bedroht und sah sich gegenüber dem Evangelikalismus ins Hintertreffen geraten. Im größten katholischen Land der Welt, Brasilien, schrumpft der katholische Einfluss, die neuen pentecostalen Kirchen haben wachsenden Zulauf und sammeln Millionen – Anhänger und Reais. Mit diesem Geld und den gekauften Stimmen lässt sich enormer Druck auf den Gesetzgeber ausüben. Massenmediale Kreuzzüge im christlichen Gewand bedrohen die mühsam errungenen Freiheitsrechte, die formalen Voraussetzungen eines selbstbestimmten Lebens.

Um das Missglücken der Säkularisierung erkennen zu können, muss man einen selbstkritischen Blick auf die europäische Gesellschaftsgeschichte zurückwerfen. Der falsche Stolz, besonders gegenüber der islamischen Welt, man habe im Gegensatz zu ihr eine Reformation, Aufklärung und Säkularisierung durchgemacht, behindert eine gesellschaftskritische Erkenntnis in die Dialektik der Aufklärung, die auch die Geschichte der Säkularisierung bestimmt. Wer Aufklärung nur im umgangssprachlichen Sinne als einen Bildungsprozess zwischen Individuen versteht, wird ihrer Dialektik nicht auf die Spur kommen. Als materialer Prozess entzaubert Aufklärung die Welt. Von der Religion bleiben ihres religiösen Gewandes entkleidete Werte übrig, die schon sprachlich bei der zentralen ökonomischen Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft Anleihe nehmen – am Wert. Das Werk des neben Durkheim größten Soziologen der bürgerlichen Gesellschaft, Max Weber, wird von einem heroischen Duktus bestimmt: Gegen die Entzauberung der Welt ist kein religiöses Kraut gewachsen; in Gestalt einer allumfassenden Rationalität wird die Säkularisierung sich durchsetzen und ein neues Zwangsgebäude schaffen – ein »stahlhartes Gehäuse« der Hörigkeit. Nicht das Tor der Emanzipation steht am Ende der bürgerlichen Epoche, sondern der gnadenlose Knast eines arbeitsteiligen, gottlosen Fachmenschentums. Diese geschichtliche Perspektive eröffnet einem neuen Irrationalismus Tür und Tor: Ein neuer säkularisierter Glaube an Charisma und Dezisionismus nimmt in Webers Soziologie das »kurze Jahrhundert« vorweg.

Das lange 19. Jahrhundert lehrt den Nachgeborenen das Schwinden der Religion; es geschieht in jeder Gesellschaft auf vergleichbare, doch unterschiedliche Weise. Die objektive Bedeutung der Religion bestand im christlichen Europa in ihrem institutionellen Charakter – sie war nicht nur Glaubens-, sondern auch eine Herrschaftsform, die Heiden und Juden auch aus ihrer weltlichen Hierarchie ausschloss. Die deutschen Lande als Hauptschlachtfeld der Religionskriege ließen nur den faulen Kompromiss des Territorialfürstentums zu – »eius regio, cuius religio«. Von wegen christliches Abendland, kleinstaatlicher Flickenteppich! Zum Ärger der Päpste hatten sich die englischen Könige längst eine Nationalkirche geschaffen, die der Politik untergeordnet war – dieser Säkularisierungsprozess war eine wesentliche Voraussetzung für den Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft im United Kingdom, begleitet im 17. Jahrhundert vom Bürgerkrieg und der englischen Aufklärung, die für Voltaire zum Vorbild der französischen wurde. Sein »Écrasez l’infâme!« bezeichnet die Frontstellung der Aufklärung gegen die feudale Organisation der Kirche, die mit der staatlichen Form der Herrschaft konkurriert. Im Land der Französischen Revolution hat der Laizismus keineswegs gesiegt. Die fundamentalste Opposition schlägt dem Präsidenten im Jahre 2014 mit massenhaften Protesten gegen die Homoehe ins Gesicht.

Aber geht es denn Deutschland besser? Vor vierzig Jahren war »Laizismus« ein ebenso unbekanntes Fremdwort wie »Identität«, das einem jeder Redakteur aus dem Manuskript gestrichen hätte. Kein Lehrer wäre damals auf die Idee gekommen, seine Schülerschaft in christliche und muslimische aufzuteilen. Die Arbeitsmigranten wurden nach ihrer Herkunft sortiert, nicht nach Religion und Kultur. Das war grob, aber nicht ganz falsch: Jugoslawen, Türken, Italiener, Spanier … Die schlimmste politische Sünde dieser Zeit bestand in der Verleugnung Deutschlands als eines Einwanderungslandes. Es ließ sich in der Illusion leben, Deutschland wäre säkular. Der Blick auf den Steuerbescheid hätte einen schon eines Besseren belehren können: Kirchensteuer. Aber auch Kirchenaustritt erspart einem nicht, an den Kosten der Säkularisierung beteiligt zu werden. Der angeblich säkulare Staat finanziert Bischöfe und gewährt Steuervergünstigungen, die als Entschädigungszahlungen für die Enteignung kirchlichen Grund- und Bodenbesitzes seit über zweihundert Jahren gerechtfertig werden.

Ein bewusster laizistischer Kampf ist, anders als in Italien und Frankreich, in Deutschland nie geführt worden. Der Kulturkampf hatte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts am Gegensatz von lutheranischem Christentum als preußischer Staatsreligion und katholischem Süden nach der Reichsgründung 1871 entzündet. Die Modernisierung der deutschen Gesellschaft führte zu einer massiven Entchristlichung der Bevölkerung, aber nicht einmal in der Weimarer Republik zu einer konsequenten Säkularisierung. Bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten galt Deutschland als das am wenigsten christliche Land Europas. Das Verhalten der Kirchen im Nationalsozialismus lässt sich nur als schändlich und opportunistisch bezeichnen. Die wenigen mutigen Mitglieder der Bekennenden Kirche blieben schrecklich isoliert und wurden nach dem Krieg von der offiziellen Kirche stiefmütterlich behandelt, wenn nicht gar verleugnet. Als Spezialinstitutionen für Schuld und Sühne wurden die evangelische und katholische Kirche nach 1945 in Westdeutschland privilegiert, in Ostdeutschland in den Dienst des säkularen Staates gestellt, der mit ihren Institutionen konkurrierte. So konnte die Kirche nicht zum Taufbecken, aber zum Sammelbecken oppositioneller Kräfte werden. Die Leute gingen nicht aus tief religiöser Überzeugung in die Kirche, sondern, wie Marek Edelmann es für Polen formulierte, »um den Kommunisten eins reinzuwürgen«.

 

Die fortschreitende Säkularisierung beider deutscher Gesellschaften ließ die Kirchenmitgliedschaften kontinuierlich schrumpfen; aber die ökonomische Privilegierung staatlich anerkannter Kirchen in der BRD erlaubte weiterhin einen mächtigen Einfluss auf das Alltagsleben. Bis heute treten sie als oft alternativlose Träger von christlichen Krankenhäusern auf, sitzen in den Aufsichtsräten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, an den Universitäten finanziert der Staat theologische Lehrstühle und in Bayern blickt noch jedes Schulkind – egal ob gläubig oder ungläubig – auf ein Kruzifix im Klassenzimmer. Das politisierte Christentum, das den konservativen Teil der Gesellschaft dominiert, formierte sich seit 1945 als christliche Partei als Reaktion auf den moralischen Bankrott des Nationalsozialismus und als antikommunistische Glaubensgemeinschaft, die nach dem Ende des Kalten Krieges in eine Legitimationskrise geriet. Die von Helmut Kohl propagierte »geistig-moralische Wende« zu Beginn der 80er Jahre kopierte nur republikanische Strategien, die zur »Reagan-Revolution« geführt hatten – der geglückte »backlash« auf das weltweite Protestjahrzehnt um 1968.

»In God we trust!« heißt es in »God’s own country«. In den Vereinigten Staaten wird der Kampf um eine säkularisierte Gesellschaft offen ausgetragen. Religion spielt im öffentlichen Leben eine wichtige Rolle; der soziale Kitt wird durch den Dollarschein symbolisiert. Der Gott, in den vertraut wird, ist ein säkularisierter. Wer einmal die Washington Cathedral besucht hat, in der viele weihevolle Staatsfeste abgehalten werden, erlebt ein merkwürdiges Phänomen. Aus der Vereinigung protestantischer Gemeinden hervorgegangen, ist die Kirche seit dem Zweiten Weltkrieg ein Ort religionsübergreifender Gottesdienste geworden. Es kommt nicht darauf an, an wen Du glaubst, sondern dass Du glaubst. Nichts verkörpert deutlicher den Gang der Säkularisierung: Aus der objektiven Religion wird subjektive Religiosität. Dieser Prozess ist irreversibel.

Das verstärkt aggressive Auftreten religiöser Gemeinschaften wird verzerrt wahrgenommen, wenn es als Wiederkehr der Religion interpretiert wird. Die neue Religiosität ist eine Reaktion auf die missglückte Säkularisierung – daher ihr antiaufklärerischer Impetus.

Betriebsmittel aller Säkularisierung ist die aufgeklärte Rationalität, die aber in der bürgerlichen Gesellschaft an ihre Grenzen stieß. Deswegen mussten die Verteidiger bestehender Ordnung irrationale Hilfsmittel einsetzen, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Selbst ein strikter Verfechter wissenschaftlicher Rationalität wie Max Weber propagiert als »klassenbewusster Bourgeois« in der Politik Irrationales: Dezisionismus und Charisma. Die neue Religiosität des 21. Jahrhunderts widerlegt nicht Max Webers bürgerliche Theorie von der Entzauberung der Welt: Sie zeigt nur die Grenzen der Aufklärung auf. Seine heroische Vorstellung vom Bürgertum schöpfte Weber aus dem »long century«; seine verdüsterten Ausblicke auf die Zukunft im stahlharten Gehäuse der Hörigkeit resultierten aus seiner Erfassung der wissenschaftlich-technischen Dynamik der modernen Gesellschaft. Rückblickend resümierte Adorno schon vor fünfzig Jahren: »Die bürgerliche Gestalt von Rationalität bedarf von je irrationaler Zusätze, um sich als das zu erhalten, was sie ist, fortwährende Ungerechtigkeit durchs Recht.«

Das »short century«, das man von heute aus als das Amerikanische Jahrhundert bezeichnen könnte, wurde geprägt durch den unaufhaltsamen Siegeszug technisch-wissenschaftlichen Fortschritts. Durch ihn wurde ein attraktiver »American Way of Life« möglich, der nach dem Zweiten Weltkrieg global als erstrebenswertes Ziel moderner Menschen schien. Der Aufstieg einer neuen Intelligenz, neuer akademisch ausgebildeter Mittelschichten, begann das traditionelle Bürgertum zu verdrängen. Erziehung und Ausbildung wurden zu zentralen politischen Zielen in der Systemkonkurrenz – auch in Ländern der so genannten Dritten Welt, die Anschluss an die technisch-wissenschaftliche Entwicklung suchten. In diesem globalen gesellschaftlichen Verwerfungsprozess, der nach Eric Hobsbawms kluger Beobachtung zur Folge hatte, dass es 1968 weltweit erstmals mehr Studenten als Bauern gab, entstand eine Protestbewegung, die von Berkeley bis Berlin, von Prag bis Tokio, von Mexico City bis Paris reichte. Alle intellektuellen Protagonisten der neuen Religiosität der 70er und 80er Jahre erlebten in dieser Zeit die später als »cultural wars« bezeichneten Konflikte an der Universität – die meisten sogar in den USA.

Die Zeit nach »68« ist die Geburtsstunde der neuen Religiosität, die mit dem endgültigen Zusammenbruch des Kommunismus 1989 in ihr Erwachsenenalter eintrat. In den frühen 70er Jahren kam die Protestgeneration als Lehrer in den Schulen an. An dieser Schnittstelle zwischen Familie und Öffentlichkeit eröffnete sich ein gewaltiges Konfliktfeld, in dem traditionelle Eltern von den »68ern« gelernt hatten, wie man Bürgerprotest wirksam in Szene setzen kann. Wie schon am Beginn des »short century« wurde in den USA Darwins Evolutionslehre von fundamentalistischen Eltern zum Anlass genommen, die Gottlosigkeit wissenschaftlicher Ausbildung zu attackieren. Durchschlagskraft erreichten diese neureligiösen Protestbewegungen durch eine Umstrukturierung des amerikanischen Protestantismus. Während viele Pastoren und Priester den Weg in die sozialen Protestbewegungen der 60er Jahre gesucht hatten, begannen Fernsehpriester die zurück gebliebenen Schafe zu sammeln. Diese neue Religiosität ist ökonomisch durchrationalisiert, die Spendenaufkommen gewaltig. Geworben wird mit Erweckungserlebnissen (»Glossolalie«), Massentaufen mit Eventcharakter und im TV übertragenen Wunderheilungen. Seit der Amtszeit Ronald Reagans stand auch das Weiße Haus fundamentalistischen Predigern offen.

Die Eroberung einer Massenbasis geschieht nach einem einfachen Schema. Wer etwas gegen Abtreibung und Homoehe hat, muss nicht sechsmal am Tag beten. Fundamentalistische Organisationen politisieren dieses Gefühl, das sie mit dem traditionell empfindenden Teil der Gesellschaft teilen. Im Fall des offenen gesellschaftlichen Konflikts hoffen sie, durch ihre Aktionen die schweigende Mehrheit mit sich zu ziehen. Zivilen Ungehorsam und Widerstandsrecht reklamieren sie jetzt für sich selbst. Im besten Fall versuchen sie mithilfe dieser Mehrheit politische Ämter zu erobern, die es ihnen erlauben, die institutionelle Säkularisierung zurückzunehmen. Die Halbherzigkeit, mit der die Säkularisierung in allen modernen Gesellschaften betrieben wurde, lässt jedes Establishment alt aussehen, das von fundamentalistischen Identitätspolitikern bedroht wird. Die globale Gleichzeitigkeit von Rechristianisierung, Reislamisierung und Rejudaisierung hat Gilles Kepel in seiner vergleichenden Studie »Die Rache Gottes« aufgezeigt. Die neue Religiosität lässt sich nicht mit dem Rückgriff auf die Vergangenheit erklären. Zu ihrer Erkenntnis ist nicht Islamwissenschaft, sondern kritische Gesellschaftstheorie nötig.

Zur Aufklärung über die weltweite neue Religiosität haben die akademischen Wissenschaften nur wenig beigetragen. Die Selbsterkenntnis, dass viele der neureligiösen Aktivisten im universitären Milieu, auch und gerade in den westlichen Ländern, erzogen worden sind, wird meist abgewehrt. Dabei steckt im neureligiösen Subjektivismus der gleiche Ungeist wie in den synkretistischen Kulten der Postmoderne – ein Kulturrelativismus, der zur Identitätspolitik zwingt, wenn man seine Interessen durchsetzen will. Der beschränkte Rationalismus der bürgerlichen Wissenschaft, der im »wissenschaftlichen Sozialismus« nachgeäfft wurde, ist auf technisch-naturwissenschaftliches Wissen eingeschränkt worden. In den Kulturwissenschaften dominiert inzwischen eine Kombination von Positivismus und interpretativer Willkür: Diskurs und Paradigmenwechsel in atemloser Verfolgungsjagd. Die Wahl der wissenschaftlichen Verfahrensweise orientiert sich nicht an Gegenstand und Sachverhalt, sondern an Imponierfähigkeit und Karrieremöglichkeit. Fernsehprediger, Terrorismusexperten und Universitätsprofessoren trennen nicht Welten.

Gott ist tot; aber um seinen Leichnam streitet man sich überall. Das Ende der drei Welten, 1989/​1990, hat eine Neuverteilung der religiösen Zurechnungen gebracht, die aber das Weltbild vom Kampf der Kulturen nur verzerrt wiedergibt. Schon Max Webers Säkularisierungsvorstellung aus seiner Religionssoziologie am Ende des »long century« war eurozentrisch verzerrt. Er verband Säkularisierung, Aufklärung und Herrschaft universaler Rationalität. Aus allen Weltreligionen versuchte er eine Wirtschaftsethik herauszudestillieren; das konnte nur zu einem schiefen Weltbild führen. Die Organisationsweise des Islams ist keine kirchlich-hierarchische, die chinesischen Religionen sind keine dem Christentum vergleichbaren, sondern eher Philosophien. Der aus verballhornten Theorien Max Webers zusammengeklaubte Vorwurf, die islamische Welt sei so rückständig, weil sie weder Reformation noch Aufklärung gehabt hätte, passt zu einem neuen Weltbild, das aus alten Katholiken Reformatoren macht und aus protestantischen Amtsinhabern Aufklärer. An diesem Punkt wirken die »abgestorbenen Zellen von Religiosität« als das Gift ethnisch-kultureller Überlegenheitsgefühle.