Philosophien der Praxis

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4.4. Das Naturrecht und die Begründung von Moralität

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wie Thomas das Gute als das im Allgemeinen Sinne Erstrebenswerte vom Guten im moralischen Sinne abgrenzt. Grundsätzlich ist klar, dass viele naturgesetzliche Vorschriften bzw. Verstöße gegen sie, wie sie eben zusammengestellt wurden, keine spezifisch moralischen Normen im Sinne von Anweisungen zu gerechtem Handeln oder von universalen Verboten bedeuten. Verstöße gegen einige von Thomas angeführte Beispiele – Selbsterhaltung, Wissenserwerb, gemeinschaftliches Leben – würde man im Normalfall nicht im moralischen Sinn als schlecht ansehen. Genauso wenig ist es automatisch moralisch gut, wenn wir uns fortpflanzen oder mit anderen zusammenleben. Wenn Thomas selbst alle diese Handlungen auf „moralische“ im Unterschied zu „zeremoniellen“ Handlungsregeln zurückführt (I-II, 100, 1), zeigt dies, dass er den Begriff „moralisch“ in einem sehr weiten Sinn gebraucht, der keine Konzentration der Ethik auf besonders verpflichtende Verhaltensnormen bedeutet. Der Zusammenhang seiner Naturgesetzlehre mit dem, was man heute moralische Normen nennen würde, ist also nicht unmittelbar klar (vgl. Grisez 1965, 185f.).

Das hängt mit der eudaimonistischen Perspektive zusammen, die Thomas von Aristoteles übernimmt: Anders als utilitaristische und deontologische Ethiken, denen zufolge bestimmte Taten im moralischen Sinn geboten oder verboten, andere aber indifferent sind, ist Thomas zufolge jede einzelne Handlung eines Menschen (I-II 18, 9) gut oder schlecht, insofern sie zum Leben dieses Menschen bzw. zum höchsten Ziel des menschlichen Lebens beiträgt, glücklich zu werden, oder eben nicht. In dieser Perspektive ist es für ihn weniger wichtig, die Besonderheit normativer Ansprüche herauszuarbeiten, als diejenigen Werte darzustellen, die für ein glückliches Leben im Allgemeinen wichtig sind. Andererseits steht es natürlich auch für Thomas als christlichen Theologen außer Zweifel, dass bestimmte Handlungen, nämlich Sünden, mit einer guten Lebensführung prinzipiell unvereinbar sind. An dieser Stelle kann es freilich nur um die Frage gehen, inwieweit sich die Schlechtigkeit solcher Handlungen anhand des Naturgesetzes aufweisen lässt. Die theologische Begründungsdimension, die bei Thomas selbst eine wichtige Rolle spielt, lasse ich aus methodischen Gründen außer Acht.

Eine erste Möglichkeit, dem Naturgesetz zuwider zu handeln, besteht für Thomas darin, dass jemand Güter als Lebensziel wählt, die damit überhaupt nicht vereinbar sind, zum Beispiel Reichtum. Denn Reichtum ist kein wirkliches, dem Naturgesetz entsprechendes, sondern nur ein vermeintliches Gut, das nicht geeignet ist, das gesamte Leben unter eine sinnvolle Zielperspektive zu stellen (I-II 2, 1). Jede Handlung, die von einem derartigen Ziel motiviert ist, ist für Thomas |30|bereits eine Sünde. Thomas interessiert sich also nicht nur, wie viele moderne Philosophen, für Handlungen, die in ihrer Art schlecht und daher kategorisch verboten sind; in erster Linie ist Sünde für ihn vielmehr dadurch charakterisiert, dass der Handelnde Absichten verfolgt, die selbst nicht intrinsisch gut sind. Daher kann für Thomas nahezu jede Handlung in gewissem Sinne schlecht sein, wenn sie mit den natürlichen Zielen prinzipiell nicht vereinbar ist.

Neben dieser allgemeinen Charakterisierung schlechten Handelns kennt Thomas bestimmte Handlungstypen, die prinzipiell verboten sind. Mord und Diebstahl sind in diesem Sinne moralisch schlechte Taten und können durch kein noch so gutes Ziel gerechtfertigt werden (I-II, 18, 8. 19, 10 [est secundum naturam mala occisio]. 73, 3; vgl. auch Quodlibet 8, 6, 4 u. 9, 7, 2)). Hierfür liefert Thomas eine Begründung anhand des Naturgesetzes, die auf dessen innere Komplexität rekurriert. Sowohl das Tötungs- als auch das Diebstahlsverbot werden, ebenso wie andere Regeln des Dekalogs auf die allgemeinere Regel zurückgeführt, dass man niemandem schaden bzw. Übles tun darf (I-II, 100, 5 c.a. u. ad 4). Auch das Gebot, Geliehenes zurückzugeben, ist für Thomas eine eigentümliche Schlussfolgerung (conclusio propria) aus der naturgesetzlichen Regel, man müsse im Handeln der Vernunft folgen (I-II, 94, 4). Derartige Ver- und Gebote sind demnach naturgesetzliche Regeln zweiter Ordnung (secundaria praecepta), die aus den allgemeinsten Prämissen des Naturgesetzes durch eine logische Ableitung gewonnen werden (I-II, 94, 6).

Beispiele für solche allgemeinsten Prämissen sind offenbar die beiden Regeln, niemandem Schaden zuzufügen und nach der Vernunft zu handeln. Wie sie mit der bis jetzt geschilderten Struktur des Naturgesetzes zusammenhängen, ergibt sich, wenn man in der in Summa theologiae 94, 2 zu findenden Liste bei denjenigen natürlichen Zielen ansetzt, die typisch für den Menschen als rationale Wesen sind, und zwar konkreter bei der natürlichen Notwendigkeit eines Lebens in Gemeinschaft (I-II, 94, 2 c.a). Hiermit ist der Ansatzpunkt bezeichnet, aus dem heraus Regeln wie das Verbot von Tötung und Diebstahl oder das Gebot, Geliehenes zurückzugeben, ihre Gültigkeit erlangen. Denn die zur Begründung dieser Gebote fundamentale Regel, niemandem zu schaden, ist offensichtlich dem hier genannten Verbot, Mitmenschen zu verletzen, eng verwandt. Allen in diesem Abschnitt als Begründung spezifisch moralischer Normen genannten Regeln ist gemeinsam, dass es sich bei ihnen um Regeln des sozialen Zusammenlebens handelt.

Dieser Zusammenhang des Naturgesetzes der Vernunft mit unserer sozialen Verfasstheit erklärt sich, wenn man sich die Bedeutung klarmacht, die das soziale Leben für den Aristoteliker Thomas von Natur aus für den Menschen besitzt: Die menschliche Gemeinschaft ist der Ort, wo aus den ganz allgemeinen Regeln des Naturgesetzes konkrete Normen des Zusammenlebens werden, die es überhaupt erst möglich machen, dass einzelne Menschen ihr Leben selbst bestimmen (I-II 95–96). Die soziale Natur des Menschen bringt es mit sich, dass die fundamentalen Regeln des sozialen Lebens ein ursprünglicher Bestandteil seiner praktischen Vernunft sind, wie sie sich im Naturgesetz ausdrückt. Diese |31|Bedeutung der sozialen Dimension zeigt sich auch daran, dass Thomas den Vorrang des Gemeinwohls (bonum commune) vor dem Wohl des Einzelnen ausdrücklich betont und hierin den entscheidenden Ansatzpunkt für die Gesetzgebung sieht (I-II, 90, 2. 96, 1). Diese Gesetzgebung hat ihrerseits den Regeln der Gerechtigkeit zu entsprechen, die für Thomas so zentral ist, dass er die sogenannte allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) zur inhaltlichen Leitlinie aller natürlichen Tugenden erhebt (II-II, 58, 5; formale Bedingung der Tugenden ist aber natürlich die Klugheit (prudentia) s. I-II, 73, 1 ad 2). Von hier ergibt sich der Sinn menschlicher Gesetze überhaupt:

Denn das menschliche Gesetz ist auf die zivile Gemeinschaft hingeordnet, die die der Menschen untereinander ist. […] Eine solche Kommunikation unterliegt aber der Vernunft der Gerechtigkeit, die spezifisch auf die Leitung der menschlichen Gemeinschaft hingeordnet ist. Daher legt das menschliche Gesetz keine anderen Vorschriften vor als die der Akte der Gerechtigkeit. (I-II, 100, 3)

Man kann daher die Grundregel der Gerechtigkeit, „jedem sein Recht zuzuteilen“ (ius suum cuique distribuere; II-II, 58, 1), die das naturgesetzliche Grundgebot für die Entwicklung gerechter Gesellschaften darstellt, als soziale Parallelnorm zu der Anweisung ansehen, niemandem zu schaden, wobei beide Gebote den Sinn des jeweils anderen zu erläutern imstande sind: Während das Verbot der Schädigung des Mitmenschen gewisse Handlungen kategorisch ausschließt, ermahnt das Gebot der Gerechtigkeit dazu, für jeden Menschen Lebensmöglichkeiten zu schaffen, die seinen natürlichen Anlagen entsprechen. Auch Thomas zufolge wird dabei das aufgrund der Gerechtigkeit zuzuteilende Recht einem Menschen bereits insofern geschuldet, als er „etwas in eigener Weise Existierendes, von den anderen Verschiedenes“, also insofern er Mensch ist (II-II, 57, 4 ad 2; s. hierzu: Honnefelder 1989, 88). Dieser Gedanke wäre für eine moderne Rekonstruktion des Naturgesetzes als Grundlage einer Sozialphilosophie weiter auszubauen (s. Korff 1987). Jedenfalls begründet das Naturgesetz nicht nur eine individuelle Moral, sondern fordert, die sozialen Grundlagen dafür zu schaffen, dass alle einer Gesellschaft zugehörigen Menschen den Regeln ihrer natürlichen Vernunft entsprechend leben und sich entwickeln können.

Moralische Ge- und Verbote hängen demzufolge nach der thomasischen Naturgesetzlehre nicht einfach von einer metaphysischen Grundlage ab (vgl. Ashley 2004, 16), sondern sind stets sozial vermittelt. Das macht sie aber nicht vollkommen abhängig von den konkreten Gemeinschaften, in denen Menschen leben. Denn in den genannten Grundregeln, „niemandem zu schaden“ und „jedem das Seine zuzuteilen“, drückt sich aus, was das Grundgebot, „das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen“ im Hinblick auf moralische Fragen bedeutet. Daher sind auch gewisse Grundpfeiler des Zusammenlebens für Thomas gleichsam apriorische Vernunftgebote, so dass Regelungen gegen Diebstahl und Mord oder zur Sicherung des Tausch- und Geschäftsverkehrs in jeder Gesellschaft eine Rolle spielen müssen.

|32|4.5. Die Funktion des Naturgesetzes in der selbstbestimmten Lebensführung

In Anbetracht der so aufgewiesenen moralischen Perspektive des thomasischen Naturgesetzes könnte nun bedeuten, dass der Einzelne nicht die Möglichkeit hat, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten, da er von vornherein an universale, übergeschichtliche Normen gebunden ist, die in der ihn umgebenden Gesellschaft ihren Ausdruck finden. Wie kann es auf dieser Grundlage möglich sein, das eigene Leben selbst zu bestimmen? Hierzu möchte ich auf vier Punkte kurz eingehen.

 

1. ist das Naturrecht selbst in sich sehr differenziert. Die mit dem Grundgebot gegebene Beurteilung von Handlungsoptionen als gut und schlecht gibt noch keine Liste von Einzelgütern vor, sondern diese entstehen erst durch das Vorhandensein der natürlichen Neigungen, die aber ihrerseits wieder, wie gezeigt wurde, nicht von jedem Menschen realisiert werden können oder auch nur sollten. Damit geben die Inhalte des Naturgesetzes einen Rahmen vor, der individuell ausgefüllt werden muss. Moralische Verbote legen die Grenzen fest, die für ein gedeihliches Zusammenleben zu beachten sind, während die Gerechtigkeit mit ihrem Grundgebot „jedem das Seine“ zu einer positiven Gestaltung der Gesellschaft ermahnt. Die Geltung dieser Regeln ist für Thomas zwar unveränderlich – keine Gesellschaft kann ohne derartige Regeln überleben –, aber sie ist nicht in dem Sinne universal, dass sie keine Ausnahmen zulassen würde. Vielmehr haben gewisse Regeln aufgrund von faktischer Unkenntnis oder von praktischen Hindernissen in manchen Gesellschaften keine Gültigkeit oder finden in Einzelfällen keine Anwendung (I-II 94, 4–6). Wo das Naturrecht auf das reale Leben der Menschen trifft, dort kann es keine Eins-zu-Eins-Umsetzung seiner Vorschriften geben. Vielmehr stellen die moralischen Normen des Naturrechts, ebenso wie seine Lebensregeln, nur eine Grundlage dar, die in konkreten Gesellschaften ebenso immer neu gelegt werden muss wie im Leben des Einzelnen.

2. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Thomas nirgendwo eine vollständige Liste von „Grundgütern“ oder „-werten“ nennt (s. Perkams 2005, 39). Die Problematik einer solchen Aufstellung ergibt sich für ihn wohl nicht nur aus der Schwierigkeit, das Naturrecht in die Wirklichkeit zu überführen, sondern auch daraus, dass wirkliche Rechts- und Moralordnungen notwendigerweise weit über die Eckpunkte hinausgehen, die durch das Naturrecht festgelegt sind. Jede faktisch existierende menschliche Gemeinschaft basiert nämlich auf rechtlichen Vorschriften, durch deren historisch fortschreitende Erfindung (adinventio) oder Festsetzung (determinatio) Menschen einen bestimmten Rahmen geschaffen haben, der bestimmte Formen einer naturrechtlichen Lebensführung erst ermöglicht. Das Naturrecht bestimmt die menschliche Moralität also zu großen Teilen indirekt (wo nicht ein Einzelner auf die allgemeinen Grundlagen von Recht und Unrecht reflektiert, wie er sie im eigenen Gewissen erkennt) und lässt weiten Raum für verschiedene Formen der Konkretisierung, die für real existierende Lebensordnungen auch erforderlich sind (s. Perkams 2005, 43–45 |33|u. Bormann 1999, 292). In diesen Konkretisierungsformen ist es häufig sogar der Fall, dass nicht alle Regeln des Naturrechts anerkannt werden, sondern dass einige von ihnen ihre Gültigkeit verlieren, etwa wenn Völker vom Raub leben oder Polygamie betreiben (Suppl. zu STh III, 65, 2 c. u. ad 1; I-II, 94, 4 c; vgl. Bormann 1999, 248–252). In Anbetracht dieser faktischen Vermischung von Naturrecht und positivem Recht muss es Thomas höchst unwahrscheinlich erschienen sein, dass eine stets aus einer bestimmten historischen Perspektive heraus erfolgende philosophische Reflexion eine vollständige Liste von Grundgütern angeben kann. Da in seinen Augen die theologische Offenbarung diese Lücke schließen konnte, dürfte ihm das nicht problematisch erschienen sein.

In der heutigen Situation ist eine Skepsis gegen Vollständigkeit anstrebende Rekonstruktionen von Grundgütern ebenfalls geboten, da sie stets in der Gefahr stehen, ein historisch gewachsenes Regelsystem metaphysisch zu verabsolutieren (s. May 2004, 142–146). Trotzdem gibt es gute Gründe für die Ansicht, dass gewisse Ge- und Verbote in jeder Kultur, auf eine hinreichend konkretisierte Weise, gelten sollten. Hierdurch erhält man auch ein nützliches Konzept zur Begrenzung von nicht mehr akzeptablen ethischen Ansprüchen. Dafür ist es jedoch nicht entscheidend, eine genaue Liste natürlicher Güter anzugeben, sondern es genügt, die Notwendigkeit der Annahme solcher Güter anhand bestimmter Beispiele deutlich zu machen, um im Falle der anzunehmenden Verletzung solcher Rechte darauf verweisen zu können, dass bestimmte Praktiken einer für alle Menschen geltenden Sittlichkeit widersprechen.

3. erkennt Thomas’ Position an, dass die von Menschen anerkannten ethischen Regeln sich aus naturgesetzlichen und kulturell variablen Vorschriften zusammensetzen, die jeder Mensch aufgrund seiner Erziehung und sozialen Beeinflussung aufnimmt. Vor diesem Hintergrund liefert die naturrechtliche Perspektive überhaupt erst eine Begründung dafür, dass die Bildung von Normen individuell verläuft, da der Einzelne, der über sein Urgewissen (synderesis) einen Zugang zu den naturgesetzlichen Regeln hat. hierin über ein nicht ausschließlich gesellschaftlich bestimmtes Bezugssystem für moralische Regeln verfügt, so dass ihn als falsch erkannte Regeln nicht gewissensmäßig binden (I-II, 96, 4). Das Naturrecht ist also kein Hindernis, sondern eher eine Bedingung dafür, dass das Individuum in seiner eigenen Lebensführung gesellschaftliche Werte nicht einfach rezipieren muss, sondern sie kritisch aufnehmen, entwickeln und sich zu ihnen verhalten kann (vgl. Perkams 2005, 45f.). Dass sich Menschen für eigene Lebensentwürfe entscheiden und sich dabei von ihren eigenen Werten und persönlichen Interessen leiten lassen, ergibt sich für Thomas aus der Vielfalt der innerweltlichen Güter, die es nie zulassen, dass ein Einzelner alle für den Menschen sinnvollen Lebensziele voll realisiert. Von einem einheitlichen Ziel des Lebens aller Menschen lässt sich dagegen nur aus theologischer Perspektive sprechen, nämlich der Schau Gottes, die tatsächlich ein einheitliches Ziel des menschlichen Lebens darstellt (I-II 1, 5. 3, 8). Im gegenwärtigen Leben kann eine solche Einheitlichkeit immer nur von einer bestimmten Perspektive her gegeben sein, |34|wobei freilich verschiedene den Menschen erreichbare Güter für den Menschen sinnvoller sein können als andere (Kluxen 1964, 150f; Schröer 1995, 77–90).

4. In der Fortsetzung solcher Überlegungen versteht Thomas die Tätigkeit der Klugheit als das Auffinden der jeweils richtigen Konkretisierung der Regeln in einzelnen Fällen (vgl. Perkams 2018). Um diesen Prozess, also die Wirkung praktischer Vernunft im aristotelisch-thomasischen Sinne, zu charakterisieren, skizziert Thomas die Tätigkeit eines Architekten: Unter Beachtung dessen, was ein Haus im Allgemeinen ist und leisten muss, erstellt er einen Entwurf, der für die konkrete Situation, unter Berücksichtigung der Ziele, der Umstände (z.B. der Bodenbeschaffenheit) und der zur Verfügung stehenden Materialien des Baus, eine funktionale Leitlinie für das Bauen darstellt (I-II 95, 2 resp.). Auf dieselbe Weise müssen die universalen Gebote des Naturgesetzes durch eine kreative Tätigkeit der Gesetzgeber in konkreten Staaten realisiert werden, in denen die Gesetze gelten sollen (I-II 95, 3f.).

Freilich meint Thomas nicht, dass der Standard der Universalität bei solchen partikulären Entscheidungen grundsätzlich verlassen werden soll: Anhand des Beispiels von jemandem, der sich fragt ob er einem Vaterlandsverräter eine geliehene Waffe zurückgeben soll, formuliert er das Prinzip „Geliehenes ist unter dieser und dieser Zusatzbedingung zurückzugeben“, um gleich darauf hinzuweisen, dass die Zusatzbedingung bedeuten wird, dass das Prinzip, das den Einzelfall trifft, in umso mehr Fällen nicht gelten wird, je konkreter es ist (I-II 94, 4 resp.). In ähnlichem Sinne betont er, dass sich in komplexen Fällen das obiectum der Handlung, d.h. deren passendste Beschreibung, aufgrund zusätzlicher Umstände ändern kann, wenn z.B. ein Diebstahl dadurch ein noch schlimmeres Sakrileg wird, dass er aus einer Kirche erfolgt (I-II 18, 10 resp.). Diese Beispiele weisen darauf hin, dass die kreative Aktivität, die sowohl ein guter Gesetzgeber in einem Staat als auch jeder Einzelne in seiner jeweiligen Situation vollziehen muss, darin besteht, die richtige, möglichst allgemeine, aber zugleich hinreichend konkrete Beschreibung einer Situation zu finden, die deren Bewertung aufgrund der allgemeinen Regeln des Naturgesetzes ermöglicht.

Auf diese Weise kann, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt, jedes „objektive“ Urteil darüber, was richtig oder falsch ist, in Einzelfällen durch die subjektive praktische Vernunft eines kompetenten, d.h. tugendhaften und informierten, Individuums geändert werden, da diese Vernunft die unmittelbar verpflichtende Handlungsregel ist (I-II 19, 4; 21, 1). So können verschiedene Menschen aufgrund derselben Prinzipien zu einander entgegenstehenden praktischen Einzelentscheidungen kommen, so wie es unterschiedliche gerechte menschliche Gesetze auf der Grundlage des Naturgesetzes geben kann: Thomas verdeutlicht das am Fall eines Richters, der jemanden verurteilt, und der Frau des Verurteilten, die dessen Befreiung fordert: Beide verfolgen ein unterschiedliches, aber jeweils gerechtfertigtes Gut, das aus ihrer partikulären Perspektive für die Beurteilung der Situation entscheidend wird – so dass sie Gegenläufiges wollen (I-II 19, 10). Folglich fällt keine transzendentale, sondern eine situative praktische Vernunft |35|das jeweils perspektivische partikuläre Urteil über eine bestimmte Situation. Hieraus geben sich wichtige Folgen für Thomas’ Gewissenstheorie, die hier nicht zu diskutieren sind (vgl. Perkams 2005).

5. Schlussfolgerungen: Die bleibende Bedeutung der aristotelisch-thomasischen Ethik als Praxistheorie

Die hier dargestellten antiken und mittelalterlichen Ansätze der Praxis kommen in mehreren Punkten überein:

1. Zentral für die Auseinandersetzung mit der Praxis ist es, eine Form von Wissen bzw. Erkenntnis auszubilden, die die konkrete Situation vor dem Hintergrund der jeweiligen Zielsetzung in adäquater Weise beurteilen kann. Diese Position bildet sich Schritt für Schritt weiter aus: Während Platon versucht, die für die Praxis relevante Wissensform an ein allgemeines Ideenwissen, insbesondere die Idee des Guten, zurückzubinden, betont Aristoteles den spezifischen Charakter der Klugheit als einer Erkenntniskompetenz, Einzelfälle aus einem tugendhaften, auf gute Ziele gerichteten Habitus konkret zu beurteilen. Bei Thomas von Aquin schließlich wird diese Fähigkeit wieder an das im Intellekt erkennbare ‚Naturgesetz‘ als universale Norm des Praktischen zurückgebunden, so dass die Klugheit aus den allgemeinen Zielen des menschlichen Lebens die Ziele konkreter Aktivitäten selbständig definieren kann. Aus der somit gegebenen Fähigkeit, Ziele in diesem Rahmen selbst zu definieren und zu entwickeln, entwickeln sich aus praktischer Rationalität die Fähigkeit zu individueller, selbstbestimmter Lebensführung.

2. Alle drei Autoren verbinden die Frage nach dem praxisrelevanten Wissen mit der Suche nach Tugenden, die auch die emotional-charakterliche Dimension des Menschen für die Erfordernisse der Praxis bereit machen. Gerade in diesem Bereich sucht Platon erkennbar nach dem rechten Verständnis: Mal betont er im Anschluss an Sokrates, dass rechte Erkenntnis gute Handlungen hervorbringt, mal löst er das menschliche Arbeiten am Angenehmen von dieser Bindung und entwickelt differenzierte Seelenmodelle. Bei Aristoteles werden diese auf das Strebe- und das Erkenntnisvermögen fokussiert, die wiederum durch die ethischen Tugenden und die diaonetische Tugend der Klugheit auf die Praxis ausgerichtet werden. Bei Thomas wird schließlich die Klugheit als ein Vermögen dargestellt, das auf der Grundlage allgemeiner Regeln guten Handelns sowohl individualethisch als auch politisch den jeweiligen Einzelfall adäquat im Hinblick auf die Frage, wie hier Gerechtigkeit hergestellt wird, beurteilen kann.

Diese Beobachtungen lassen die Bedeutung ermessen, die gerade die aristotelischen Theorien für jede Beschreibung von praxishafter Aktivität erhalten können. Diese ergibt sich im Grunde direkt aus der Struktur ihrer Handlungsbeschreibung selbst, stellt diese doch immer wieder klar, dass jegliche erfolgreiche |36|Praxis die Internalisierung angemessener Ziele voraussetzt, vor deren Hintergrund das konkrete Agieren erst seinen Nutzen und seinen Wert gewinnen kann; nicht zu vergessen ist dabei, dass ein Lebensvollzug stets auch von einem allgemeinen Verständnis vom menschlichen Glück her zu bewerten ist. Das Verdienst der thomasischen Ausarbeitung ist es, diese Einsicht vor dem Hintergrund differenzierterer Überlegungen zu den mannigfaltigen allgemeinen Zielen menschlichen Lebens und zu verschiedenen Formen von Rationalität so auszuarbeiten, dass die Wirkung der allgemeinen Prinzipien im Einzelfall und deren Grenzen deutlich wird.

 

Diese Überlegungen können ohne große Umwege zur kritischen Reflexion jeder Art von konkreter Praxis angewandt werden: Beispielsweise entscheidet sich der Nutzen einer didaktischen Methode daran, in welchen konkreten Unterrichtssituationen die Methode zu welchen konkreten Zielen überhaupt geeignet ist. Dies kann im Grunde nur von der individuellen praktischen Vernunft des Lehrers, der die Situation kennt, im Einzelfall beurteilt werden; dagegen wird, wie man gerade von Thomas von Aquin lernen kann, eine allgemeine Methodenreflexion nur zu Ergebnissen kommen, die in bestimmten Fällen nicht zutreffen und daher vom Handelnden variiert werden müssen, um gute Ergebnisse zu erzielen. Das gleiche gilt für politische Gesetzgebungs- oder Verhandlungsprozesse, die ebenfalls stets an der Erreichung der von ihnen realisierten Ziele im Einzelfall zu messen sind und oft gerade daran scheitern, dass für die Praxis wesentliche Momente nicht beachtet werden (wozu ja häufig auch die fehlende Bereitschaft der Umsetzenden gehört, z.B. von DozentInnen, welche die Ansprüche z.B. des Bologna-Systems überhaupt nicht erfüllen wollen, was nicht zuletzt auf ihrer habituellen Kenntnis guter Lehrpraktiken beruhen dürfte). Insgesamt implizieren die genannten Ansätze eine Aufwertung der Entscheidungskompetenz im Einzelnen tätiger Akteure gegenüber Strukturen mit universalen Regelungsansprüchen der Praxis.

Damit soll keineswegs bestritten werden, dass eine normative Dimension, die allgemeine Ansprüche stellt, jeder Praxis inhärent ist. Diese wird von den hier diskutierten Ansätzen nicht so entfaltet, dass richtige Handlungen gleichsam aus allgemeinen Vernunftprinzipien deduziert würden. Für alle drei hier diskutierten Denker ist es nämlich nicht vorstellbar, Moralität in einem universalen Sollen zu fundieren, das per definitionem nicht Bestandteil des Strebens von Individuen und menschlichen Gemeinschaften zu einer erfüllenden, glücklichen Lebensführung ist. Bei den genannten Autoren werden also nicht nur thematisch andere Akzente gesetzt als z.B. bei Kant, sondern da die hier vorgestellten Ansätze strukturell ganz anders Vorgehen als dessen Theorie, sind sie, um ein Wort von Otfried Höffe umzudrehen, weniger korrespondierende als vielmehr konkurrierende Ethiken (Höffe 1971, 42). Allerdings scheint der Versuch interessant, die die thomasischen Überlegungen zur Vermittlung universaler Ansprüche und konkreter Praktiken zur Grundlage einer Untersuchung zu machen, wie ausnahmslos gültigen moralischen Normen der angemessene Platz in der dynamischen und |37|partikulären Entfaltung menschlicher Lebenswirklichkeit gegeben werden kann. Doch dies wäre Teil eines anderen, größer angelegten Projekts.

Lektüreempfehlungen

Die aristotelische Ethik ist ein steter Referenzpunkt praktisch-philosophischer Forschung, so dass es sehr viele gute Sekundärliteratur und Einführungen gibt. Auf Deutsch kann beispielsweise Wolf (2002) empfohlen werden, auf Englisch Pakaluk (2005). Für Platon, bei dem die Situation ähnlich ist, ist Kauffmann (1993), ein geeigneter Einstieg. Für die praktische Philosophie Thomas von Aquins ist das Material weniger uferlos. Hierzu können unter anderem Schröer (1995) sowie Perkams (2018) empfohlen werden. Thomas’ Verhältnis zu Aristoteles wird aus verschiedenen Warten diskutiert in Hoffmann/Müller/Perkams (2013).