Nordlichter erzählen - Band II

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Nordlichter erzählen - Band II
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NORDLICHTER ERZÄHLEN

Band II

Anthologie

Gesammelt von

Jutta Dethlefsen,

Sigrid Dobat und Angela Dumrath

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei Herausgebern und Autoren!

Cover: Tobias Grzesiak

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Unser großes „Danke schön!“ geht an Hans-Jürgen Vosgerau, den Gründer unseres Flensburger Autorentreffs,

und er geht auch an die emsigen Mitarbeiterinnen, die für das Entstehen dieser Anthologie gesorgt haben:

Jutta Dethlefsen, Sigrid Dobat und Angela Dumrath

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

„Föhr, Insel des Lächelns” – Lorenz-Peter Andresen

Der Maulwurf – Lorenz-Peter Andresen

Mein kreatives Element – Birgitte Arker

Rabenmutter – Marita Arndt

Blütengeflüster – Britta Bendixen

Auf den Hund gekommen – Ulrich Borchers

Banküberfall – Ulrich Borchers

Haustürgeschäfte – Ulrich Borchers

Das Mädchen im Fenster – Jutta Dethlefsen

Käferglanz – Sigrid Dobat

Himbeeren, Sommer 1947 – Sigrid Dobat

Eis, Winter 1947 – Sigrid Dobat

Ein Mann mit Prinzipien! – Angela Dumrath

Im Einkaufscenter – Angela Dumrath

Wer hat denn an der Uhr gedreht …? –Angela Dumrath

CHRISTA † 3.3.45 Köslin/Pommern – Anna Fietz

IRMGARD † 8.3.45 Rosenhof/Bublitz – Anna Fietz

Spuren im Herzen – Anna Fietz

Unterm Abendstern – Anna Fietz

Ein Augenblick – Anna Fietz

Kriminaltango – Lilian Grzesiak

Abgeliebt – Lilian Grzesiak

Sieben Wochen ohne … – Lilian Grzesiak

Er heißt nicht Grabowski – Jürgen Hargens

Familienwelten – Jürgen Hargens

Liebe, die nicht sein darf – Frauke Lind

Montag ist Ruhetag – Sylvia Ullmer

Typisch … – Peter Zylmann

Blütenzauber – Peter Zylmann

Etwas über uns AutorInnen

„Föhr, Insel des Lächelns” – Lorenz-Peter Andresen

Eigentlich wollte ich ja meine Chinareise vom letzten Jahr fortsetzen, bis man mir erzählte, Asien läge eigentlich direkt vor meiner Tür, und zwar mitten in der Nordsee.

Zu dieser Auffassung waren zwei meiner Freunde gekommen, die auf der Insel Föhr ihre Zelte für eine Woche aufgeschlagen hatten. Sie verbrachten dort scheinbar recht seltsame, aber auch sehr amüsante Tage. Ich wollte den Vermutungen der beiden auf den Grund gehen und buchte kurzentschlossen drei Tage Inselfeeling im „friesischen China”.

Schon bei der Überfahrt, wie von meinen Kumpels bereits vorhergesagt, bemerkte ich, dass etwas sehr ungewöhnlich war. Auf der Fähre „Uthlande” hatte ich das Gefühl, auf einem Luxusliner gelandet zu sein mit großen Panoramafenstern, Liegestühlen davor und freier Sicht auf die See.

Was hatten Fred und Jochen da so alles behauptet? Viele der Alteingesessenen sprächen nur „außerfriesisch”, oder meinten sie vielleicht, sie sprächen nichts anderes außer „friesisch”? Vielleicht hatten die beiden aber auch nur nicht genau hingehört und es handelte sich hierbei um einen noch unbekannten altchinesischen Dialekt? Ich nenne ihn als Entdecker schon mal im Vorwege „Föhrdarin“ oder „Mandafriesisch“. Und in dem kleinen Dorf Alkersum gäbe es „Eisenbesohlte mit tragenden Eigenschaften“. Aber noch ein viel größeres Geheimnis verbarg sich wohl tief verborgen im Inneren dieser kleinen Gemeinde. Meine Hoffnung stieg, dort vielleicht einen versteckten Ableger des chinesischen Kaiserpalastes zu finden.

Die nächste der unbeantworteten Fragen war: Warum lächeln hier eigentlich ständig alle Insulaner und was bedeutet das mir noch unbekannte „Insel Jing & Jang”? Wieso gibt es hier einen großen Drogenreichtum, der auf der Insel in all seinen Variationen offen an den Mann und vor allem an die Frau gebracht wird? Hat damit auch der sagenumwobene friesische Deichgraf etwas zu tun, oder ist es vielleicht ein chinesischer Deichkaiser? Ich musste in meiner Ahnungslosigkeit zugeben, dass mir doch ein wenig mulmig wurde, in einem Vorort von Shanghai zu landen, im Land des Lächelns mit seinen asiatischen Lebensweisheiten und den berühmt berüchtigten Opiumhöhlen.

Dann konnte ich aus meinem Panoramafenster auch noch deutlich die scheinbar harmlosen Halligen in Reih und Glied am Horizont erkennen. Ich spürte plötzlich Angstschweiß auf meiner Stirn. Diese Miniinselkette sah für mich ganz eindeutig aus wie die extreme Verlängerung der chinesischen Mauer mit ihren Wachttürmen. Hatte sich die ostasiatische Grenze etwa unbemerkt so weit in unseren hohen Norden verschoben?

Kurz bevor wir im Hafen von Wyk anlegten, erhielt ich dann meinen ersten echten Kulturschock. Nur wenige Meter von der Fähre entfernt konnte ich einen alten Kutter entdecken, der mich doch wirklich sehr an eine umgebaute Dschunke erinnerte. Neben seinen wohl nur zur Tarnung aufgehängten Fischernetzen beherbergte er auch noch etwas ganz Unerwartetes an Deck, nämlich jede Menge Flüchtlinge. Es mussten mindestens zwei Dutzend dieser armen Menschen gewesen sein, die sich an Deck drängelten und in ihrer Not heftig zu uns herüberwinkten. Auch deren große Sonnenhüte erinnerten mich sehr an die der chinesischen Bauern auf den Reisfeldern. Später wollte man mir tatsächlich weismachen, es handelte sich dabei lediglich um Ausflügler, die das Treiben der hiesigen Unterwasserwelt erkunden wollten und uns freundlich gesinnt einen schönen Tag gewünscht hätten. Überzeugt war ich davon jedenfalls nicht.

Übrigens, wenn Sie die Gelegenheit dazu haben, dann müssen Sie sich die neuen Fähren „Uthlande” und „Schleswig-Holstein” unbedingt einmal ganz genau vom Strand aus anschauen, wenn sie fahren. Dann sehen die beiden fast so aus, als ob dicke Wollkrabben (übrigens eine Leibspeise der Asiaten) seitlich übers Watt laufen. Doch zurück zu meinem eigentlichen Problem.

Auch die Menschenmassen, die Föhr nach unserem Anlegen geradezu fluchtartig und mit traurigen Gesichtern wieder verließen, machten mir Angst. Na, wenn das keine Flüchtlinge waren, wer denn dann? Irgendetwas Eigenartiges musste sie ja schließlich von hier vertrieben haben. Allerdings konnte ich keine Zeichen der chinesischen Triaden am Fähranleger oder am Eingang zur Stadt finden. Auch hier wollte man mir weismachen, dass es sich lediglich um Menschen handeln würde, die ihren Urlaub beendet hatten. Ich wollte das Abenteuer auf jeden Fall bestehen und nicht als Hasenfuß zu Fred und Jochen zurückkehren. So betrat ich schließlich mit wackeligen Füßen diese fremdartige Insel.

 

Natürlich hatte ich mich reichlich mit allem möglichen Infomaterial eingedeckt und wagte zu behaupten, hier schon jetzt nahezu jeden Stein und jede Muschel zu kennen. Doch weit gefehlt. Kennenlernen muss man das Eiland, das auch schon die Piraten gern heimsuchten, wohl direkt vor Ort, um es zumindest teilweise zu verstehen.

Auf dem Programm für mich stand jedenfalls eine Inselrundfahrt wie auch der Besuch der Seehundsbänke und anderer Sehenswürdigkeiten. Wieder musste ich meinen Freunden Recht geben. Die Seehunde, wie auch die allgegenwärtigen Schafe hier, schienen genauso wie die Einheimischen ein ständiges Lächeln auf den Lippen zu tragen. Einen Grund hierfür sah ich im bereits erwähnten übermäßigen Genuss von Drogen, … die ich allerdings noch nicht gefunden hatte. Doch das sollte sich bald ändern.

Auf einer Landkarte erkannte ich schnell das besagte „Insel Jing & Jang”, denn Föhr teilt sich wirklich in zwei Gebiete auf. Einmal in die mit und in die mit ohne Deich. Einmal in die mit und in die mit ohne Menschen … oder Schafe, Kühe, Strand, Seehunde usw.

In der Mitte der Insel macht sie tatsächlich diesen komischen Schlenker, den man durchaus und mit etwas Fantasie als Trennungslinie zwischen Schwarz und Weiß, Menschen und Schafen und all dem anderen erkennen konnte. Auf der Strecke habe ich sogar einen von den beiden Punkten, ich glaube den von Jing (oder war es doch der von Jang?), entdeckt. Die Lembecksburg oder -warft oder so.

Betrachtet man diese Anhäufung von Erde und Gras zu einem großen Kreis allerdings etwas genauer, könnte es durchaus auch ein Ufo-Landeplatz gewesen sein. Ich denke dabei an die unheimlichen Reisfeldkreise, die ich schon in China vergeblich erforscht habe. Und so ist es vielleicht doch nicht, wie bescheidenerweise beschrieben, nur ein ehemaliger Zufluchtsort der Inselbewohner vor Störtebeker und seinen Spießgesellen. Trotz der Ungewissheit war ich von diesem Ringwall schwer beeindruckt. Plötzlich meinte ich Störtebeker rufen zu hören: „Rum oder Leben!“, bis ich hinter mir einen vor Wut schnaubenden riesigen Bullen entdeckte, der bereits mit seinen Hufen scharrte. Er erinnerte mich sofort an einen feuerspeienden chinesischen Neujahrsdrachen. Da gab es für mich nur noch eines: „Scheiß auf den Rum und ab durch die Mitte!”

Mitte – da war doch auch noch was?

Weiter auf der Rundfahrt vorbei an einigen anderen kleinen Ortschaften kommt wohl keiner um den Ankerplatz des kleinen Dorfes Nieblum herum, wo auch bekannterweise der Drogenkonsum und dessen Verkauf in ungeahnter Höhe betrieben wird. Weltweit werden von hier aus kleine Pakete verschickt, ohne dass dem verbotenen Treiben Einhalt geboten würde. Kein Inselpolizist war weit und breit zu sehen. Vielleicht hatten die ja gerade wieder einmal mit illegalem Schafhandel zu tun. Ich schätze außerdem, dass das Gebiet vollständig in den Händen der Inselmafia ist. Noch während sich meine Nackenhaare aufstellten, konnte ich bereits die erste Opiumhöhle geruchsmäßig entdecken. In diesem Falle gut getarnt als Teekontor. Innen wurde ich fast erschlagen von den wunderbarsten und herrlichsten Düften aus aller Welt. Ich spürte bereits nach wenigen Minuten die ersten typischen Anzeichen für einen Drogenrausch. Meine Sinne vernebelten sich, als ich von der natürlich ebenfalls dauerlächelnden Verkäuferin eine Sorte nach der anderen zum Berauschen vor die Nase gesetzt bekam. Dann flößte man mir das Zeug auch noch aufgelöst in heißem Wasser ein. Irgendwelche süßlichen braunen Würfelstücke machten mich zusätzlich recht benommen. Alles in allem ebenfalls eindeutig ein Indiz dafür, dass meine Freunde schon wieder recht behalten haben. In jedem der zahlreichen schönen Ortschaften gab es solche Schlürfoasen, allesamt getarnt als kleine, schnuckelige Cafés. Wer hier nicht süchtig wurde, der war wohl resistent dagegen.

Nachdem ich mich, natürlich beim Asiaten, mit Reis und knuspriger Ente gestärkt hatte, führte mich meine Tour auf ganz andere Wege. Ich war einem der größten deutschen Rätsel auf der Spur und landete hierbei im bereits erwähnten Alkersum, einer eher beschaulichen Gemeinde im Herzen dieses sonderbaren Fleckens in der Nordsee. Hier gibt es, wie bereits scherzhaft von meinen beiden Freunden erwähnt, so einige „Eisenbesohlte mit tragenden Eigenschaften“, womit Fred und Jochen natürlich einen Teil der Alkersumer Bevölkerung meinten, nämlich deren Pferde. Ein wirklich lächerliches Rätsel, wobei das zweite wahrlich viel interessanter und weitaus schwieriger zu lösen war. Alkersum hat nämlich ein wunderbares Museum mit unendlich vielen tollen Bildern von allen möglichen bekannten Künstlern wie Emil Nolde usw. (zugegeben, die restlichen kannte ich allesamt nicht). War Nolde nicht auch einmal in Asien gewesen?

Wie mir meine Bekannten verraten hatten, wähnten sie dort ebenfalls noch einen großen Geheimraum, der bestens für das seit Jahrzehnten verschwundene Bernsteinzimmer geeignet wäre. Schließlich passen Bernstein und Nordsee ja wunderbar zusammen, oder? Und wer würde schon in einem Inseldorf wie Alkersum danach suchen? Ich bin mir gar nicht mal so sicher, dass die Chinesen nicht auch hierbei ihre Finger im Spiel haben! Schließlich lieben sie diesen geheimnisvollen, brennbaren Stein und benutzen ihn bestimmt zum Anzünden ihrer Opiumpfeifen!

Während meiner kurzen Zeit auf der Insel habe ich noch viele Ungereimtheiten gesehen: Menschen, die nicht nur im Watt herumliefen, sondern bei Utersum im Schlick auch noch Golf spielten. Oder Muscheln sammelten im Regen. Die gibt es schließlich in jedem Souvenirladen auf der Insel in kleinen Netzen. Bei der Gelegenheit bin ich gleich in Utersum geblieben und verstand am Abend, warum Föhr neben „friesischem China“ auch noch die „friesische Karibik” genannt wird. Denn der Tag endete mit einem gewaltigen Sonnenuntergang vor prachtvoller Kulisse, nämlich den Schwesterinseln Amrum und Sylt. Apropos Sylt, sieht diese Insel nicht ein wenig wie Japan aus?

Ich glaube, ich muss wohl doch noch einmal hierher zurückkehren, denn zu vieles blieb ungeklärt auf Föhr, der Insel des Lächelns.

Der Maulwurf – Lorenz-Peter Andresen

„Der Maulwurf“

Ein Maulwurf mutig unverdrossen

der hatte einst einmal beschlossen

den Turm zu fällen der dort stand

wo früher sich sein Bau befand

er wühlte und er schaufelte

sich unter diesen großen Turm

bis dieser endlich strauchelte

sich neigte wie ein Baum im Sturm

kein Maulwurf war wie dieser da

und so entstand der Turm von Pisa

Mein kreatives Element – Birgitte Arker

Mein Leben als Kuh hat mich immer mit Stolz erfüllt. Wie gern schaue ich über die Felder und grüße meine Verwandten, die genau wie ich die frische Luft durch ihre Nüstern ziehen, die grüne Fläche mit ihren kleinen Hügeln so in sich aufnehmen, dass sie ansatzweise Glücksgefühle entfalten.

Falls es gelingen sollte, einige der besonders grünen Gewächse von der Wiese in das Maul zu stecken, um sie dort durch Kauzermalmungen zu zerkleinern und zu genießen, würde ich zufrieden sein und – immer noch kauend – nachdenklich träumend in die Gegend schauen.

Was ich absolut vermeide, ist, mir Gedanken über die Zukunft zu machen. Wie Karl Valentin erkannt hat, kommt die Zukunft jedes Mal früh genug. Für mich wird sich, vermute ich, dadurch nicht viel ändern. Mein Leben bewegt sich innerhalb der Grenzen von „Grasfressen“, mit dem siebenstufigen Verdauungsprozess über alle meine Mägen verteilt, versteht sich, und des „Sich-häufig-an-der-Grenze-Befindens“ zu einer noch größeren kreativen Leistung.

Es sollte mich – statt phlegmatisch vor Glück zu werden – viel mehr beschäftigen, worüber einige Artgenossen ein engagiertes Geschrei veranstalten. Sie bilden sogar Kleingruppen von Empörten, die die Menge der Pestizide im Erdboden reduzieren wollen. Und noch mehr: Sie versuchen, Aufrufe im Sinne dieser grünen Tendenz in der Kuhzeitung zu veröffentlichen! Allerhand! Als würde das etwas gegen die Agrarlobby bewirken können.

Es hilft viel mehr, eine akzeptierende Haltung zu der Umwelt einzunehmen.

Das zeigt sich zum Beispiel, wenn in mir das Gefühl entsteht, dass eine gewisse Körpersättigung erreicht ist. Dann muss auch ich – wie meine Verwandten – von einem Teil meines Gewichts Abschied nehmen. Welche Wonne, wenn so ein Ballen Gewicht unterwegs und kurz davor ist, meinen Körper zu verlassen, um letztlich als halbflüssige olivgrüne Masse mit ihrer Wärme meine Oberschenkel herunterzulaufen.

Gewissermaßen ist dieses Erlebnis einer der Höhepunkte des Tages.

Das zu spüren, genieße ich intensiv! Ja, ich könnte noch weitergehen und von der Wonne sprechen, die durch die Temperatur der olivschwarzen Masse entsteht, und die ich in mir wirken lassen darf. Im besonderen Grade spüre ich in diesem Moment die vereinende Gemeinsamkeit mit meinen Artgenossen.

Jetzt können Sie denken, dass es Ihnen aber wirklich reicht, einer derartigen Verteidigungsrede zuhören zu müssen. Sie finden eventuell den Sermon ziemlich beschissen. Hinzuzufügen gibt es nur eines: Eine solche vulgäre Formulierung würde keine einzige Kuh in das Maul nehmen. Ein solches Wort ist arg übertrieben, nicht zuletzt durch das liebevolle Verhältnis zu den anderen Kühen, die sich mit ihrem kreativen Wirken auf dieser Wiese breitgemacht haben.

Womit ich mich vor allem brüste, wie ich zu Anfang angedeutet habe, ist, dass es mir gelungen ist, meine kreative Potenz noch zu verstärken, indem ich die restliche Flüssigkeit an meinen Oberschenkeln mit einem besonderen Muster versehen habe. Mein Schwanzwedel ist nämlich fähig, punktweise und derart mit Druck zu arbeiten, dass sowohl Punkte, waagerechte Striche als auch die Form kreisförmiger Ornamente an meinem Körper entstehen, die man kunsthistorisch als pointillistisch bezeichnen muss.

Ich bin stolz, mich vor Ihnen im Namen der Kreativität präsentieren zu können.

Rabenmutter – Marita Arndt

Mit raschen Schritten geht Hanne zu ihrem Auto. Gerade hat sie ihre Tochter Lisa zum Zug gebracht. Abschiede fallen ihr schwer, sie wird wieder für längere Zeit allein sein.

Hanne spürt die Tränen in ihren Augen. Sie steigt rasch ins Auto und ist froh, nun wenigstens vor den Blicken der Menschen geschützt zu sein.

„Rabenmutter“ – hämmert es in ihrem Kopf. Nicht das Wort ‚Mutter‘ mit seinem Klang wie eine Umarmung, mit seiner Aussage von Geborgenheit, Fürsorge und Wärme, sondern genau das Gegenteil. Eben Rabenmutter. Eine Mutter, die kaltherzig, lieblos und vorwiegend mit sich selbst beschäftigt ist. Die ihre Kinder vernachlässigt und ihnen nicht die Liebe und Zuwendung gibt, die sie brauchen, um zu selbstbewussten Menschen heranzuwachsen.

Hanne hatte geglaubt, Lisa hätte die Vergangenheit als Kind einer berufstätigen Mutter überwunden, denn lange Zeit ist es nicht mehr gefallen, dieses „Rabenmutter“. Wie glücklich war Hanne im vergangenen Jahr bei einem gemeinsamen Kurzurlaub, als Lisa sagte: „Mama, was du geleistet hast, das macht dir so schnell keiner nach.“

Es tat so gut, diese Anerkennung, gerade von Lisa. Hanne liegt nicht daran, gelobt zu werden. Nein, dazu weiß sie selbst nur zu genau, wie häufig sie damals überfordert, gestresst und in Zeitnot gewesen war. Aber sie hat immer ihr Bestes gegeben, um alles unter einen Hut zu bekommen. Und nun wieder: „Rabenmutter!“

Bald wird Lisa selbst Mutter sein. In etwa sechs Wochen soll die Kleine auf die Welt kommen. Das Kind war nicht geplant, denn Lisa hat das Studium noch nicht beendet und ihr Freund ist arbeitslos und scheint in vielerlei Hinsicht unzuverlässig zu sein.

Was erwartet den neuen Erdenbürger? Immer wieder muss Hanne daran denken. Und wie Christian und sie damals trotz knapper finanzieller Mittel und Einschränkungen, mit Zutrauen in die eigene Kraft und voller Freude die Kinder in ihr Leben aufnahmen.

Besorgt, aber vorsichtig hat Hanne sich auf der Fahrt zum Bahnhof bei Lisa erkundigt, ob sie sich schon über Betreuungsmöglichkeiten und die Fortführung ihres Studiums informiert hätte. Damit wurde ein Stein losgetreten, so jedenfalls empfindet Hanne Lisas Reaktion.

„Mein Kind ist noch nicht einmal auf der Welt, da soll ich es schon fremden Menschen zur Betreuung überlassen. Niemals. Du warst eine Rabenmutter, das will ich nicht sein!“

 

Es hat Hanne unerwartet getroffen und wohl auch, verbunden mit dem nahen Abschied, besonders stark. Dabei freut sie sich so sehr auf ihr erstes Enkelkind. Hanne hatte schon einen blauen Strampler und himmelblaue Puschen im Schrank, als ein aufgeregter Anruf von Lisa kam.

„Mama, es wird ein Mädchen. Ich freue mich so!“

Vorher hatte der Arzt einen Jungen in Aussicht gestellt.

Lisa würde die Kleine mit all dem ausstaffieren, was sie selbst nicht bekommen hatte. Kleidchen aus edlen Stoffen mit farblich abgestimmten Jacken und Schuhen und passendem Haarschmuck. Ja, auch das gehört zu Lisas Vorwurf, die Kinderkleidung immer nach Zweckmäßigkeit und dem günstigsten Preis ausgesucht zu haben. Lisa ist überzeugt, bereits in frühester Kindheit würde der Sinn für schöne Dinge geschärft.

Um ihr Kind schon vor der Geburt an Wohlklänge zu gewöhnen, hört Lisa vorwiegend Musik von Mozart und Vivaldi. Schließlich hatte ihre Rabenmutter auch darin versagt. Damals fehlte die Zeit. Es gab schon Klassikschallplatten und -kassetten, aber gehört wurden sie nur, wenn Christian, Lisas Vater, sie auflegte. Und aus dem Klavier- oder Geigenunterricht wurde letztlich nichts, weil Hanne, die Rabenmutter, zum Zwecke der Berufstätigkeit außer Haus war und keinen Fahrdienst übernehmen konnte.

So viel geht Hanne durch den Kopf, während sie immer noch in ihrem Auto auf dem Bahnhofsvorplatz sitzt. Hatte sie wirklich total versagt? Bei allem? Ihr Leben ein Trümmerhaufen? Muss sie sich eingestehen, jetzt, wo ihre Kinder erwachsen sind, dass es nicht funktioniert hat? Sind sie zu kurz gekommen und werden ihr Leben lang darunter leiden, schon früh von einer Tagesmutter betreut worden zu sein? Immer am längsten im Kindergarten warten zu müssen und bereits als Schulkinder Aufgaben im Haushalt bekommen zu haben?

Hanne lässt den Motor an. Das Radio spielt ‚Nur Steine leben lang‘ von Hans Hartz. Sie wird einen Brief schreiben an Lisa, wird ihr mitteilen, wie sehr es sie verletzt, dieses „Rabenmutter“. Warum sie sich damals für Arbeit und Kinder entschied. Dass es erst notwendig war und dann ein Stück Unabhängigkeit bedeutete. Wie glücklich sie mit ihren Kindern war und wie stolz auf sie. Aber auch, wie sie ihren Beruf liebte und wie viel Kraft und Stärke ihr dieser gab und damit doch der ganzen Familie zugute kam. Sie wird Lisa daran erinnern, dass sie in der Natur auf dem Land leben konnten und jedes Kind Tiere haben durfte. Dass sie trotz der knappen Zeit an den Wochenenden Ausflüge unternahmen und gemeinsam backten und kochten.

Sie hatte immer versucht, alles so gut wie möglich zu machen. Dass manches sich im Nachhinein als nicht optimal herausstellte, lag wohl im Risiko der Entscheidung.

Sollte Lisa tatsächlich vergessen haben, wie sie aufwachsen durfte, welche Besonderheiten und auch Vorteile ihr Leben hatte? Jetzt kann Lisa alles besser machen. Nach vorne schauen, die Schatten der Kindheit hinter sich lassen, damit sie keine Rabenmutter sein würde.

Übrigens sind Raben sehr gute, vorbildliche Mütter und Eltern, die ihre Kinder wärmen und fortwährend mit Futter versorgen. Wäre es nicht so, wären sie längst ausgestorben. Der üble Ruf der Raben hängt wohl mit der Bibel im Buch Hiob zusammen. Darin heißt es: „Wer bereitet den Raben die Speise, wenn deren Junge in hektischem Flug Gott anrufen, weil sie nicht zu essen haben?“

Vermutlich geht diese Geschichte auf junge Raben zurück, die aus dem Nest gefallen sind. Die betroffenen Tiere machen einen hilflosen, verlassenen Eindruck. Aufmerksame Beobachter werden jedoch feststellen, dass die Rabeneltern immer in der Nähe sind und die Jungtiere weiter versorgen. Sollte Hanne für sich den Grundsatz beanspruchen: Gehe mit anderen stets so um, wie du möchtest, dass mit dir umgegangen wird? Gerade Lisa hatte immer betont, wie wichtig und hilfreich dieser Satz für sie war, den sie schon recht früh von ihrer Mutter vermittelt bekam.

Hanne wird Lisa nicht mit gleicher Münze heimzahlen wollen. Manchmal ist es besser zu schweigen. Ausgesprochene Worte lassen sich nicht zurückholen. Sie können wie Pfeilwunden sein, die ein Leben lang schmerzen.

Kurz nach Christians Tod war Lisa ausgezogen, zum Studium nach Süddeutschland gegangen. Danach musste Hanne lernen, allein zu leben. Sie hatte gehofft, Lisa würde sich um einen Studienplatz in der Nähe bemühen, aber sie erkannte, wie befreiend dieser Ortswechsel für ihre Tochter gewesen war. Weg von den ständigen Erinnerungen an Krankheit und Tod in eine neue Zeit, eine andere Welt. Niemals hätte Hanne Kritik geübt. Sie freute sich für Lisa.

Bis zu Lisas Ankunft in Berlin wird noch einige Zeit vergehen.

Hanne macht sich im Garten nützlich, da ist immer etwas zu tun.

Dann der Anruf von Lisa. Sie sei gut in ihrer Wohnung angekommen. Sie erzählt von der Zugfahrt und wie sie um ein Haar wegen der Verspätung den Anschlusszug verpasst hätte.

Lisas Stimme zittert. Oder empfindet Hanne es nur so? Und dann hörte sie ein Schluchzen.

Erschrocken fragt sie Lisa: „Was ist passiert? Beruhige dich und sprich!“

Es dauert für Hanne unendlich lang, bis Lisa ein paar Worte herausbringt. „Er ist weg. Dennis ist weg. Er kommt nicht wieder.“

Eine kurze Stille, dann Hanne: „Lisa, du schaffst das.“

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