Nick Francis 3

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Nick Francis 3
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Nachdem der Buchhändler Nick Francis seine ersten beiden Abenteuer durchlebt hat, ohne sich eine Verschnaufpause zu gönnen, lässt er es jetzt ruhiger angehen. Er legt das

Torbuch

, wie er es nennt, durch das er schon in so manche aussichtslose Situationen geraten ist, für einige Zeit aus den Händen. Er unternimmt erst einmal keine Reisen mehr, lebt keine Geschichten in dem Buch. Vielmehr beschließt er, mehr über den rätselhaften Wälzer hier in seiner Welt in Erfahrung zu bringen. Wie ein Detektiv macht er sich mithilfe seines väterlichen Freundes Willi Funke auf die Suche, um eine Erklärung für das Unbegreifliche zu erhalten, um Antworten auf seine selbst gestellten Fragen zu finden. Doch die Antworten, die er bekommt, werfen nur wieder neue Fragen auf, denen er nur im nächsten Abenteuer nachgehen kann. Er beschließt deshalb, die dritte Reise anzutreten.





Lauscht Nick bei seinem Reisebericht, der voller aufregender Ereignisse steckt. Segelt mit Nick und seinen Freunden durch das karibische Meer, um den angenommenen Auftrag zu erfüllen. Doch bevor ihr mit Nick in See stecht, nimmt er euch mit zu einem Experten, von dem er mehr über sein ominöses Fundstück zu erfahren hofft.









präsentiert



Nick Francis



Band 3



Die Festung




In der Nick Francis Buchreihe sind bereits erschienen



Nick Francis 1 – Die Burg



Nick Francis 2 – Die Stadt



Nick Francis 3 – Die Festung



und demnächst erscheint



Nick Francis 4 – Der Keller



Weitere Titel sind in Planung.





Entspricht der ungekürzten Originalausgabe des gedruckten Taschenbuches ISBN 978-3-9814313-3-9



© 2013 Noxlupus Verlag, Schwentinental





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Alle Rechte, auch die der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe, sind dem Verlag vorbehalten.



ISBN: 978-3-9814313-8-4






PROLOG






Das ist schon eine ziemlich verrückte Sache, in die ich da vor gut zwei Jahren reingeschlittert bin. Und das nur wegen eines Buches, von dem keiner weiß, wo es herkommt, geschweige denn, wer es geschrieben hat ... wobei, in diesem Fall sollte ich lieber sagen: wer es erfunden und hergestellt hat. Denn ein geschriebenes Buch ist es nun wirklich nicht. Es ist eher ein Tor zu einer anderen Welt – darüber habe ich ja schon bei unserem letzten Treffen gesprochen – oder, anders gesagt, ein Tor zu verschiedenen und äußerst gefährlichen Welten. Denn die Geschichten in diesem

Torbuch

 kann man nicht lesen, man lebt sie.



Ungewöhnlich ist auch, dass dieses DIN A4 große Buch eine Dicke von stolzen acht Zentimetern aufweist und dabei nur dreizehn Seiten beherbergt, wobei lediglich auf acht Seiten etwas zu lesen war, als ich es fand – scheinbar die Titel von ungeschriebenen Geschichten. Doch diese Titel waren nicht etwa gedruckt, nein, sie waren tief in die Seiten eingraviert.



Zwei der ursprünglich acht Gravuren sind inzwischen verschwunden, nämlich

Die Burg

 und

Die Stadt

. Wie es dazu kam, werde ich kurz erzählen. Alles begann an einem Freitagabend, nachdem ich das Buch auf dem Dachboden, der zu der von mir kurz zuvor übernommenen Buchhandlung gehörte, entdeckt hatte. Mithilfe des Buches und eines Rituals reiste ich in eine andere Welt – in mein erstes Abenteuer. An jeder Ecke lauerte dort das Grauen auf mich. Kaum zurückgekehrt, stürzte ich mich erneut in das Buch, also in ein neues Abenteuer, so groß war meine Neugierde.



Das ist jetzt alles ungefähr zwei Jahre her. In diesen zwei Jahren machte ich mich daran, euch von meinen bis dato erlebten Abenteuern zu berichten, und zwar in Form von zwei Büchern. Wer diese noch nicht kennt, kann das selbstverständlich nachholen. Mehr Wissen über mich findet ihr in meinem virtuellen zu Hause: www.nickfrancis.de. Ich lade euch herzlich ein, mich dort einmal zu besuchen.



Außerdem habe ich mich von den Strapazen erholt, recherchiert und über all das Seltsame nachgedacht, das ich bisher erlebt habe. Vor einem halben Jahr war es dann so weit, ich bin wieder durch das

Torbuch

 gegangen – in eine weitere Welt. Und ich freue mich sehr, heil und unversehrt wieder hier zu sein und euch von meinem neuen Abenteuer erzählen zu können. Doch zuvor lasst mich euch noch berichten, was ich mithilfe meines alten Freundes Willi bis zum Eintritt in die Welt der

Festung

 über das

Torbuch

 herausgefunden habe.



***



Wenige Wochen nach meinen ersten beiden haarsträubenden Abenteuern, die unterschiedlicher nicht sein konnten, saß ich in meinem Stammcafé in der Einkaufsstraße, in der ich wohne und meine Buchhandlung habe. Das Buch lag als stiller, geheimnisvoller Begleiter gut verpackt neben mir auf der Bank. Ich war mit Willi verabredet. Für diejenigen unter euch, die heute das erste Mal dabei sind: Willi ist der Mann, von dem ich die Buchhandlung übernommen hatte. Ich kannte Willi schon, da war ich noch ein kleiner Junge, der ständig in die Buchhandlung gerannt ist, um sich mit diversen Schmökern zu versorgen. Doch das nur kurz am Rande, an anderer Stelle hatte ich ja schon ausführlich darüber gesprochen.



Wieder und wieder schaute ich auf die Uhr. Willi würde jede Minute kommen, und ich hatte immer noch keine Ahnung, was und vor allem wie ich ihm von meinen Erlebnissen erzählen sollte. Er sollte mich schließlich nicht für total übergeschnappt halten. Ob ich am besten mit der Tür ins Haus fiel und mit allem gleich herausplatzte? Oder sollte ich ihn Stück für Stück an meine Entdeckung heranführen und ihn erst fragen, ob er bestimmte Dinge prinzipiell für möglich hielt? Seit dem Abend, an dem ich das Buch gefunden hatte und damit bei ihm war, hatten wir uns nicht mehr gesehen, und bei den wenigen Telefongesprächen, die mehr geschäftlich als privat waren, hatte er nicht danach gefragt und ich hatte nichts gesagt. Doch schon wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, die Zeit, mir eine Wie-erkläre-ich-es-Willi–Strategie zurechtzulegen, war vorüber.



»Hallo Nick, schön dich zu sehen!« Während ich seinen Gruß erwiderte, ließ sich Willi auf den gegenüberliegenden Stuhl nieder.



»Hallo Willi«, begrüßte ihn Tina, die Kellnerin, »einen Cappuccino und drei Kekse wie immer?«



»Hallo Tina, ja, wie immer. Danke!«



»Schön, dass du dir gleich Zeit genommen hast«, bedankte ich mich.



»Ich hatte sowieso was in der Stadt zu erledigen und du weißt doch: Für dich habe ich immer Zeit.«



Ich lächelte, doch Willi merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.



»Was ist los? Du siehst aufgekratzt aus. Stimmt etwas nicht mit dir oder dem Laden?«, fragte er und musterte mich.



»Nein, mit dem Laden ist alles in Ordnung. Mit mir eigentlich auch, aber ...«



»Aber? ...«



»Ne, es gibt kein Aber, ich wollte eigentlich ...«, setzte ich an, wurde aber von Tina unterbrochen, die einen kleinen Korb mit mindestens sechs Keksen und den Cappuccino auf den Tisch stellte.



»Hier, Willi, dein Cappuccino und die drei Kekse.«



»Danke, oh, du meinst es aber wieder gut mit mir«, bedankte sich Willi, der beim Anblick der Kekse strahlte.



»Doris braucht ja nichts davon zu wissen«, erwiderte Tina verschwörerisch.



»Ach ja, die gute Doris, wenn sie nicht auf mich aufpassen würde, käme ich wohl bald nicht mehr durch die Türen«, sagte er und strich sich über das runde Wohlstandsbäuchlein.



Nachdem uns Tina wieder verlassen hatte, knüpfte ich an das vorherige »Aber« an.



»Eigentlich wollte ich mich mit dir nur mal so von Buchliebhaber zu Buchexperte unterhalten.«



»So, so, was ist los, Nick, du hast doch was auf dem Herzen – das sehe ich dir doch an. Ich kannte dich schließlich schon, als du gerade über die Tischkante hier schauen konntest, mir kannst du nichts vorspielen. Raus mit der Sprache!«



»Na, so klein war ich nun auch nicht mehr«, protestierte ich und kam darauf gleich zur Sache. »Ich wollte dich nur mal fragen, ob du es für möglich hältst, dass man in Büchern reisen kann?«, stellte ich meine erste Frage spontan und so direkt, dass ich selber darüber erschrak.



Willi zog die Stirn in Falten, sagte dann aber zu meinem Erstaunen:



»Ja natürlich, ich selbst reise in jedes Buch, das ich lese. Das ist es doch, was ein Buch ausmacht. Der Leser kann sich mithilfe seiner Fantasie mitten in der Geschichte wiederfinden. Oder meinst du es etwa so wie in

Die Unendliche Geschichte

, in der der junge Held Bastian mit Figuren aus einem Buch spricht und am Ende selber in das Buch hineingeht?«



»Äh ... ja, genau das ... so was meine ich. Hältst du das für möglich?«



»Sicher, in der Fantasie ist alles möglich.«



»Und in der Realität? Denk doch mal an den ganzen Computerkram, Internet und E-Mails, oder was ist mit der Medizin? Künstliche Herzklappen, künstliche Arme, die sich durch Nervenimpulse vom Gehirn aus steuern lassen, Raumfahrt, all das war vor Kurzem noch Fantasie und Science-Fiction und jetzt ist es Realität.«



»Richtig, aber worauf willst du hinaus?«



Ich zögerte, doch dann ließ ich die Katze aus dem Sack, beziehungsweise das Buch aus der Tüte und legte es vor Willi auf den Tisch.



»Ach, du redest von dem Buch, das lässt dir wohl keine Ruhe.«



»So kann man es sagen«, erwiderte ich und schlug es auf. »Kannst du dich noch daran erinnern, dass es acht von diesen Titeln in dem Buch gab?«, fragte ich und tippte mit dem Finger auf den Titel

Die Festung

.

 



»Ja, natürlich, ich hatte sie früher mehrmals gelesen und neulich hast du sie mir ja wieder ins Gedächtnis gerufen.«



»Dann möchte ich dich bitten, das Buch einmal mehr durchzusehen.«



»Wenn es dir eine Freude macht«, meinte er, zuckte mit den Schultern und begann, die fünf Millimeter starken aluminiumähnlichen Seiten umzublättern. Als er die letzte Seite in Augenschein genommen hatte, bemerkte er:



»Oh, nur sechs? Wo sind die anderen zwei Gravuren geblieben? Soweit ich mich erinnere, fehlen

Die Burg

 und

Die Stadt



»Gutes Gedächtnis, Willi. Genau darüber wollte ich mit dir sprechen.«



»Hmm, da hatte ich das Buch so viele Jahre und nichts konnte ich darüber erfahren, geschweige denn, dass etwas damit passiert ist, und jetzt hast du es gerade mal ein paar Wochen in den Fingern und schon ist was Unbegreifliches passiert. Was hast du getan?«



»Getan habe ich eigentlich nichts ... wie soll ich sagen? Ich bin lediglich mit dem Buch auf dem Bauch eingeschlafen, und als ich wieder aufgewacht bin, war jedes Mal ein Titel verschwunden.«



»Einfach so?«



»Einfach so, nur ...«



»Nur was?«



»Nur hatte ich jedes Mal so etwas wie einen ziemlich heftigen Traum, der eben kein Traum war, sondern Wirklichkeit. Ich erlebte zwei fantastische Abenteuer. Ich kämpfte gegen einen skrupellosen Marquis auf seiner Burg und vertrieb eine Bande Outlaws aus einer Stadt im Wilden Westen.«



Die Falten auf Willis Stirn vertieften sich. Er senkte den Blick und schaute auf Cappuccino und Kekse, die noch unangetastet auf dem Tisch standen. Stumm nahm er einen Keks und biss genüsslich hinein, anschließend trank er einen Schluck Cappuccino. Ich griff ebenfalls nach meiner Tasse Kaffee und aß das letzte Stück von meinem Käsekuchen. Nachdem Willi die offiziellen drei Kekse verputzt hatte, lehnte er sich zurück, und faltete die Hände auf dem Bauch. Er holte tief Luft und sagte mit gespielter Empörung:



»Nick, wenn ich dich nicht schon so lange kennen würde, dann würde ich sagen, du nimmst gerade einen alten Mann gehörig auf den Arm.« In seiner Stimme schwang Sorge mit: »Bist du überarbeitet? Solltest du vielleicht doch mal Urlaub machen? Ich kann dich in der Buchhandlung gerne vertreten.«



»Ich weiß, dass du mich sofort und auch liebend gerne vertreten würdest, aber das ist wirklich nicht das Problem«, entgegnete ich – wohl etwas heftiger als beabsichtigt, denn Willi sah mich mit einem nachdenklichen »Hmm« durchdringend an.



»Obwohl ich mich mein ganzes Leben in Fantasiewelten bewegt habe«, setzte er bedächtig an, »bin ich doch stets Realist geblieben. Ich kann zwischen Realität und Fiktion unterscheiden, und was du mir da erzählst, gehört für mich nicht in den Bereich der Realität.«



»Fakt ist, ich habe das Gefühl, mehrere Tage in einer Geschichte gelebt zu haben, und wenn ich wieder aufwache, sind hier nur ein paar Minuten vergangen. Das könnte natürlich auch ein fantastischer Traum gewesen sein, aber was ist mit der Veränderung des Buches? Wieso sind die Gravuren verschwunden?«



Willi schaute nachdenklich an die Caféhausdecke, dann wanderte sein Blick zu dem Buch und ging weiter zu den Keksen. Seine Hand langte in das Körbchen und stibitzte einen weiteren heraus, den er schnell in seinem Mund verschwinden ließ. Noch während er kaute schlug er das Buch auf und fuhr die Inschriften mit den Fingern ab, gerade so, wie ich es schon an die hundertmal getan hatte. Er blätterte es durch und strich ebenfalls über die glatten Seiten, die noch vor Kurzem Gravuren geschmückt hatten.



»Du willst mir also erzählen, dass du in dieses Buch hineingereist bist wie Bastian ins Land Phantásien?«



»So in etwa, ja!«



Willi klappte das Buch zu. »Jetzt lass dir nicht jeden Krümel einzeln aus der Nase ziehen. Es ist an der Zeit, dass aus den Krümeln ein Keks wird und du mit der ganzen Geschichte rausrückst.«



»Das will ich ja, aber nicht hier, denn es wird wohl etwas länger dauern, dir alles zu erzählen. Immerhin begreife ich es ja selber noch nicht. Willst du am Samstagnachmittag zu mir kommen? Da können wir ausgiebig reden.«



»Samstag? Heute ist erst Mittwoch, so lange willst du mich auf die Folter spannen?«



»Drei Tage wirst du das schon aushalten. Stell dir einfach vor, ich wäre ein Buch, das du unbedingt weiterlesen willst, aber dir fehlt die Zeit dazu.«



»Für ein Buch habe ich immer Zeit«, erwiderte er bestimmt, »aber sei’s drum, ich warte also. Hast du nicht Lust, am Samstag nach Ladenschluss zu uns zum Mittagessen zu kommen? Doris beschwert sich sowieso schon die ganze Zeit, dass ihr Junge so lange nicht mehr bei uns war.« Ich grinste. Für Doris werde ich wohl auch mit sechzig noch ihr Junge sein.



Deutlich entspannter als zu Beginn des Gesprächs platzte ein »Samstag! Mittagessen im Hause Funke – hört sich gut an« aus mir heraus.



***



Drei Tage später stellte ich mein Fahrrad vor Willis Haustür ab und klingelte.



»So kenne ich meinen Nick, pünktlich auf die Minute«, begrüßte mich Doris und schloss mich in die Arme.



»Hallo Doris«, sagte ich und streckte meine Nase in den Hausflur, »das riecht ja wieder köstlich. Ich hab mich schon den ganzen Tag auf deine Kochkünste gefreut.«



»Na, dann komm rein, mein Junge. Wir können gleich essen.«



Ich schlenderte ins Esszimmer und Doris ging in die Küche. Willi saß bereits am Tisch und las in der Tageszeitung.



»Da bist du ja endlich«, sagte er, sah von der Zeitung auf, faltete sie zusammen und legte sie auf den Tisch, dabei sah er mich an. »Lass uns schnell essen, dann können wir in mein Arbeitszimmer gehen und reden.«



»Von wegen schnell essen! Ich habe den ganzen Vormittag in der Küche verbracht und ihr werdet euch unterstehen, alles runterzuschlingen«, protestierte Doris und betrat mit einer Suppenterrine in den Händen das Zimmer.



»Nein, natürlich werden wir dein Essen wie immer ganz in Ruhe genießen«, beruhigte ich die Köchin und setzte mich mit an den Tisch. Doris stellte die Schüssel ab und nahm die Zeitung, die sie dann zum Zeitungsständer brachte.



»Das wollte ich auch gerade machen, meine Liebe!«



»Ich weiß, mein Schatz«, erwiderte sie und tätschelte ihrem Mann die Wange.



Vorab gab es eine hausgemachte Hühnersuppe, anschließend servierte Doris den Hauptgang: Rinderbraten mit Kartoffelknödeln, Rotkohl und Rosenkohl. Dazu kredenzte Willi einen trockenen Rotwein. Der arme Willi bekam alles von Doris zugeteilt, und als er es wagte, nach der Schüssel mit den Knödeln zu greifen, erntete er einen vorwurfsvollen Blick von ihr. Er rollte mit den Augen, ließ aber den Löffel in die Schüssel zurückfallen. »Ich hab doch keinen Hunger mehr«, grummelte er. Ich hingegen schlug mir achtlos den Bauch voll und machte auch vor einer zweiten Portion Vanillepudding mit Erdbeeren nicht halt. Nach dem Essen wollte ich helfen abzuräumen, doch Doris befreite mich davon:



»Lass nur Nick, ich mach das schon, ich seh doch, wie ungeduldig mein Willilein ist. Ich weiß zwar nicht, was ihr wieder ausgeheckt habt, aber es muss ziemlich wichtig für ihn sein, er ist schon seit ein paar Tagen so aufgekratzt.«



»Stimmt doch gar nicht«, widersprach Willi, »wir wollen uns nur über ein Buch unterhalten.« Mit diesen Worten stand er auf und ging hinaus, ich folgte ihm bis ins Arbeitszimmer. Eilig schloss Willi die Tür.



»Nun los, erzähl mir alles von Anfang an«, drängte er.



Und ich begann. Ich erzählte von dem Kribbeln, das mich überkommt, wenn ich mit dem Buch auf dem Bauch einschlafe und dabei eine Hand auf einem Titel ruht. Anschließend berichtete ich ausführlich von meinen bis dato erlebten Abenteuern.



»Ich bin sprachlos, Nick. Was soll ich dazu sagen. Das hört sich einfach unglaublich an! … Ich weiß ja, dass du kein Spinner bist, darum bin ich geneigt, dir zu glauben.« Willi lächelte.



»Danke!«



»Ich beneide dich sogar. Wie gerne hätte ich das selber alles erlebt. Wenn ich damals vor dreißig Jahren, als der Landstreicher das Buch zu mir brachte, hinter das Geheimnis gekommen wäre, ich hätte eine Geschichte nach der anderen durchleben wollen. Aber jetzt«, Willi machte eine kurze Pause, »in meinem Alter bin ich leider nicht mehr fit genug, um solche Strapazen durchzustehen.«



Wir schwiegen beide einen Augenblick, dann eröffnete ich ihm meinen Plan:



»Ich will versuchen, mehr über das Buch und über die Ortschaften, in denen ich gelandet bin, in Erfahrung zu bringen.«



»Dabei würde ich dir gerne helfen!«, bot Willi sich an und seine Augen leuchteten.



»Das wäre super, ich könnte dir einige Jahreszahlen geben sowie die Städtenamen, und du versuchst, in deiner Bibliothek etwas darüber zu finden, oder – wenn du ganz waghalsig bist – stöberst du mal im Internet.«



Willi machte eine wegwerfende Handbewegung. Internet, dieses Wort, das Willi anfangs gar nicht mochte. Er brauchte Bücher zum Blättern. Doch allmählich gewöhnte auch er sich daran, lernte die Vorteile zu würdigen und nach ein paar Monaten klickte er sich von Link zu Link wie ein alter Hase. Auf dem Boden stapelten sich auch keine ungelesenen Ausdrucke mehr, denn der Drucker ratterte immer seltener. Anfangs hatte er alles ausgedruckt, was er meinte lesen zu müssen. Jetzt wurden nur noch wichtige Stellen markiert und gedruckt. Alles andere wurde gelesen und anschließend weggeklickt. Die nächtlichen Anrufe, in denen Willi mir Hiobsbotschaften über sein angeblich verschwundenes Internet entgegenschleuderte, wurden ebenfalls seltener, da er sich mit der Zeit mehr und mehr selber helfen konnte. Das Einzige, was sich nicht änderte, war das Chaos aus Ordnern und Dateien auf seinem Rechner. Aber das war ja auch nicht anders zu erwarten.



***



Rund zwei Jahre sind seit dem Essen und dem anschließenden Gespräch mit Willi vergangen. In dieser Zeit ist viel passiert und es war die arbeitsreichste Zeit meines Lebens. Zunächst einmal musste ich mein Wohnzimmer zurückerobern, denn da lagen, wie ihr euch vielleicht noch erinnern könnt, die ganzen Bücher vom Dachboden. Das Zimmer von den Bücherstapeln zu befreien und die Möbel wieder an ihren gewohnten Platz zu stellen hat sehr viel Zeit gekostet. Zudem hatte ich mir selbst ein Buchankaufsverbot erteilt, damit ich erst einmal die Wohnzimmerbesetzer los wurde. Ich kaufte zwar einzelne interessante Exemplare von Kunden, die in meinen Laden kamen, und ein paar wenige antiquarische Bücher sowie die aktuellen Bestseller. Doch ich ging weder auf Märkte noch auf Messen, denn ich hatte wahrlich genug Ware im Laden und falls ein Kunde einen speziellen Wunsch hatte, konnte ich diesen notfalls immer noch durch eine Bestellung erfüllen.



Übrigens, hier habe ich mal eine Aufstellung von meinen bisherigen Erkenntnissen gemacht. Bei unserem letzten Treffen hatte ich euch eine solche Aufstellung versprochen. Gehen wir also einmal das Wichtigste durch, was wir anhand der ersten beiden Geschichten herausgefunden beziehungsweise nicht herausgefunden haben.



Folgende Tatsachen sind gesichert:



1.) Jede Geschichte kann nur einmal gelebt werden, da der Titel verschwindet, wenn man diese zu Ende gelebt hat – das Tor ist geschlossen.



2.) Hier bei uns vergeht während des Aufenthaltes in einer der anderen Welten nur ungefähr eine halbe Stunde, egal ob man in der Geschichte Tage, Monate oder gar Jahre unterwegs war.



3.) Selbst wenn man sich in der Geschichte im Ausland befindet, wird deutsch gesprochen und geschrieben.



4.) Verletzungen, Narben, die einem in der Geschichte zugefügt wurden, sind nach der Rückkehr in unsere Welt nicht mehr vorhanden.



5.) Kurz vor dem Einschlafen wird das Buch aktiviert, wenn dabei eine Handfläche auf einem eingravierten Titel liegt.



6.) Einige Personen tauchen in mehreren Geschichten auf. Sogar wenn sie in einer früheren Geschichte gestorben sind. Allerdings haben sie andere Namen und sehen in jeder Geschichte etwas anders aus.



Folgende Fragen sind noch nicht geklärt:



1.) Was hat es mit dem schwarzen Nichts auf sich, das ich in der Burg hinter einer Tür entdeckt habe?



2.) Wieso gibt es in den Geschichten Dinge, die es zu der Zeit, in der die Handlung spielt, noch gar nicht gegeben hat? Einen Kugelschreiber im Wilden Westen zum Beispiel.



3.) Wie können Naturgesetze durchbrochen werden wie bei den Tumbleweeds, die schon im Sommer durch die Gegend rollten, obwohl sie eigentlich erst im Herbst ausgeblüht sind?

 



4.) Was wusste der Schlafwagenschaffner Sam von mir?



5.) Wem gehört die Stimme aus dem Nichts, die ich in den Geschichten ab und an höre?



6.) Wer war der Tote, den ich im Wilden Westen gefunden habe, und der anscheinend aus unserer Welt kam?



7.) Was hat es mit Spürauge auf sich?



8.) Gibt es noch weitere Bücher dieser Art?



9.) Bleibt der Körper, in dem man in der Geschichte lebt, dort zurück? Wo kommt er überhaupt her?



10.) Standen auf den leeren Seiten auch mal Titel, die jemand schon gelebt hat und die deshalb verschwunden sind?



Aber die vordringlichsten Fragen lauten:



Was passiert, wenn ich in einer Geschichte sterbe? Bin ich dann auch hier tot? Wer war der Landstreicher, der das Buch zu Willi gebracht hat? Warum hat er sich so schnell aus dem Staub gemacht, ehe Willi ihm Geld für das Buch geben konnte? Und warum hat er Willi das Buch überhaupt überlassen? Wer war der Verstorbene, bei dem das Buch angeblich gefunden wurde?



Kommen wir nun zu dem, was Willi inzwischen herausgefunden hat. Das war zum Beispiel, dass die Stadt Dumles aus dem Burgabenteuer dort liegt, wo sich der schottische Ort Dumfries befindet, und es in Dumfries eine Gaststätte namens

Globe Inn

 bereits seit dem siebzehnten Jahrhundert gibt. Nach seinen Recherchen trieb sich zu der Zeit, als ich mich in Dumles beziehungsweise Dumfries befand, der berühmte schottische Schriftsteller und Poet Robert Burns ebenfalls da herum. Seinen Namen kenne ich, aber gelesen habe ich noch nichts von ihm. Ihr erinnert euch an den Schriftsteller Robert Hilton?



Zu Rocky Town aus dem Wilden Westen hat Willi keinen real existierenden Ort gefunden, aber die Gegend erinnert an die um Denver in Colorado. Rocky Town könnte sogar ein Pseudonym für Denver sein, ebenso wie Dumles für Dumfries. Dann hat Willi noch herausbekommen, dass die Freiheitsstatue, von der in Rocky Town gesprochen wurde, in Wirklichkeit erst zwei Jahre nach meinem dortigen Aufenthalt gebaut wurde.



Aber nicht nur Willi hat viel recherchiert. Auch ich war nicht untätig und so besuchte ich unter anderem einen Computer-Elektronik-Experten, da ich davon überzeugt war, dass es in dem Buch technische Besonderheiten geben musste. Denn das war mit Sicherheit keine Zauberei. Vielleicht ist das Buch ja eine Art virtueller Cyberspace und irgendjemand hat mal wieder die Gebrauchsanweisung verbummelt. Ach ja, es sollte doch einen Brief gegeben



haben! Laut Aussage des Landstreichers. Wo der Brief nur geblieben ist? Auf dem Dachboden war er jedenfalls nicht.



***



Kaum hatte ich die Tür zur PC-Klinik Schubert geöffnet, begrüßte mich auch schon ein schlanker Mann hinter dem Verkaufstresen. Sein graues Haar stand wirr nach allen Seiten ab.



»Guten Tag, mein Name ist Nick Francis. Ich habe einen Termin mit Herrn Schubert.«



»Da sind Sie genau richtig, ich bin Schubert. Sie sagten am Telefon, Sie hätten etwas, was ich mir einmal ansehen sollte?«



»Ja, das hier«, antwortete ich und legte das Buch vor dem Mann auf den Tresen.



»Ein Buch?«, fragte er leicht irritiert.



»So sieht es aus.«



Verwundert schaute sich Herr Schubert das Buch an. Nach einer Weile drehte er sich um und rief nach hinten in den Laden: »Matthias, kommst du mal nach vorne!«



»Ja, Chef!«, hörte ich eine Stimme vom anderen Ende des Ladens und ein etwa zwanzigjähriger Mann mit schulterlangen Haaren, Stirnband und Kinnbart kam zu uns.



»Kannst du mal eben hier vorne bleiben, ich habe etwas mit dem Herrn hier zu besprechen.«



»Mach ich, Chef!«



Die Ladentür ging auf, ein Kunde trat herein und wir gingen nach hinten in einen kleinen Raum, der mit auseinandergenommenen Computern, Fernsehapparaten, Spielekonsolen, DVD-Playern, Radios und anderem Kram vollgestopft war.

War dies das Reich eines Elektro-Willis?

 Ich setzte mich auf den Stuhl, den mir Herr Schubert anbot, und richtete all meine Aufmerksamkeit auf den Ladenbesitzer.



»Also, Herr Schubert, können Sie mir sagen, ob sich in diesem Buch etwas Elektronisches verbirgt?«



Herr Schubert betrachtete das Buch noch einmal und klappte die Seiten um.



»Keine Verschraubungen oder Nieten, keine Anzeichen dafür, dass die Seiten aus zwei Teilen zusammengepresst sind. Jede Seite scheint wie aus einem Guss zu sein, wie eine Metallplatte.«



Ungeduldig wippte ich hin und her:

Ja, das weiß ich auch, erzähl mir lieber etwas, das ich noch nicht weiß.



»Also, mit Gewalt möchte ich nicht daran gehen.«



»Gewalt?!«



»Mit Hammer und Meißel etwa, um die Nuss, also die Seiten, aufzubekommen. Eher schlage ich vor, die Seiten zu durchleuchten.«





Das hört sich doch wie eine gute Idee an.





Herr Schubert holte einen schuhkartongroßen Kasten aus einem Schrank, stellte ihn auf die Seite mit dem Titel

Die Festung

 und stöpselte den Stecker des Kastens in eine Steckdose.



»Mal sehen. Wenn die Außenschicht nicht zu dick ist, können wir mithilfe des Röntgenscanners erkennen, ob sich da was im Inneren verbirgt.«



Der Monitor des Geräts begann zu flackern, nachdem Herr Schubert einen Kippschalter an der Seite des Scanners betätigt hatte. Sekunden später flimmerte ein Bild auf dem Schirm.



»Sehen Sie, Herr Francis, da ist etwas. Sie hatten recht.«



Recht haben ist immer gut.

 Ich starrte auf den Monitor und rutschte auf dem Stuhl hin und her. Umrisse von Drähten, Schaltkreisen, Minirelais und Ähnlichem waren zu sehen. Steckte da eine Computerplatine in der Seite? Auf jeden Fall handelte es sich augenscheinlich um etwas Technisches und nicht um Zauberei. Doch wie das alles funktionierte, war damit noch nicht geklärt.



»Was kann denn dieses Buch, das Sie veranlasst hat, mich aufzusuchen? Offensichtlich gibt es keine Schalter oder so, womit man es aktivieren kann. Um einen überdimensionalen E-Book-Reader handelt es sich also nicht.«



»Nein, ein E-Book-Reader ist es nicht, das Buch ist mindestens dreißig Jahre alt. Was es genau kann, ist eine lange Geschichte und ich möchte Ihre Zeit nicht länger beanspruchen, denn, wie ich sehe, sind Sie ein viel beschäftigter Mann«, erklärte ich und wies mit einer unbestimmten Geste auf die Geräte, die uns umgaben.



»Ach, wissen Sie, meine Arbeit ist mein Hobby und so etwas wie Ihr Buch interessiert mich ungemein.«



»Das kann ich mir gut vorstellen, wenn ich mich hier so umsehe, aber seien Sie mir bitte nicht böse, dass ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr erzählen kann.«



»Schade, dann hoffe ich, dass es einen Zeitpunkt dafür geben wird«, sagte er etwas pikiert und nahm seinen Apparat von dem Buch.



»Ganz sicher, wenn ich ein vollständiges Bild von dem Buch habe, werde ich es Ihnen erzählen.« Ich zögerte etwas, fragte dann aber doch noch, ob wir uns alle Seiten mal mit dem Gerät ansehen könnten.



»Wenn es Ihnen hilft.« Herr Schubert sah noch etwas unzufrieden aus, setzte sein Gerät aber wieder auf das Buch.



Jede Seite wies im Inneren das gleiche Bild auf, auch der Buchdeckel. Nur die Buchrückseite war schaltkreisfrei.



Nachdem alle Seiten durchleuchtet waren, bedankte ich mich bei Herrn Schubert und versprach, mich bei ihm zu melden, sobald ich mehr in Erfahrung gebracht hatte.



Nach dem Besuch in der PC-Klinik beschloss ich, eine neue Reise zu unternehmen. Vielleicht würde ich da noch weitere Hinweise bekommen, und mit etwas Glück tauchte die Stimme wieder auf und war dann etwas redseliger, wenn ich ihr erzählte, was ich entdeckt hatte.



***



Am frühen Abend vor meinem Aufbruch in

Die Festung

besuchte ich noch einmal Willi und Doris. Als ich mein Fahrrad abgestellt hatte, öffnete Willi auch schon die Tür. Sein »Hallo« konnte ich so gerade noch verstehen, aber was er danach sagte, ging im Gezeter hinter seinem Rücken unter.



»Ich habe dir schon tausendmal gesagt, lass deine Bücher und Zeitschriften nicht überall im Haus rumfliegen! Dafür haben wir doch extra ein Zimmer eingerichtet, in dem du dich nach Herzenslust dichtmüllen kannst, so wie du es in deiner Buchhandlung geschafft hast.«



»Oh, oh!«, sagte ich.



»Ja, oh, oh«, murmelte Willi. Doch noch ehe wir ein weiteres Wort wechseln konnten, drängte sich Doris an ihm vorbei und begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung.



»Na, mein braver Junge, komm doch rein«, sagte sie und strahlte mich an. Danach wandte sie