Mit einem Mann möcht ich nicht tauschen

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Mit einem Mann möcht ich nicht tauschen



Rainer Noltenius (Hg.)

Mit einem Mann möcht ich nicht tauschen

Ein Zeitgemälde in Tagebüchern und Briefen der Marie Bruns-Bode (1885–1952)

Gebr. Mann Verlag · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 und 2020 Gebr. Mann Verlag · Berlin

www.gebrmannverlag.de

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§§ 53 und 54 UrhG.

Gestaltung: hawemannundmosch · Berlin

Coverabbildung: Marie Bruns auf dem Weg zur Museumsführung, vgl. S. 67

Frontispiz: Marie Bode schreibt Tagebuch – kurz vor ihrer Verlobung

Buchrückseite: Marie Bode malt, lavierte Kohlezeichnung ihrer Zeichenlehrerin

Iselin Meeger, Berlin 1904, vgl. S. 9

Schrift: Franziska

Printed in Germany · ISBN 978-3-7861-2799-4 Hardcover (2018)

Die elektronischen Ausgaben sind mit der Druckausgabe von 2018 identisch.

© 2020 E-PDF: ISBN 987-3-7861-7504-9

© 2020 E-Pub: ISBN 987-3-7861-7503-2

© 2020 MobiPocket: ISBN 987-3-7861-7507-0

Bilderreise

zu Marie Bruns-Bodes Leben


Marie Bode: Selbstporträt, Pastell, 1915.


Marie Bode mit ihrem Vater Wilhelm und einem Buch, 1893.


Maries Mutter Marie Bode, geb. Rimpau.


Marie Bode: Gemalter und gedichteter Gruß vom Haushaltungsinternat in Reifenstein, 1903.


Marie Bode malt, lavierte Kohlezeichnung ihrer Zeichenlehrerin Iselin Meeger, Berlin 1904.


Prinzessin Viktoria Luise von Preußen, Schülerin von Marie Bode, Radierung von Marie Stein-Ranke.


Marie Bode malt die persönlichen Beziehungen von Mitgliedern ihres Kränzchens: ein Soziogramm! Marie links als Stiefel, rechts hinter dem Fenster Gottfried Dryander als »Jung-Schloh«, 1914.


Maries Vater Wilhelm von Bode am Schreibtisch, Generaldirektor der Berliner Museen, 1910.


Verlobung von Marie Bode (»Musch«) und Viktor Bruns (»Paps«), aus einem Fotoalbum ihrer Enkelin Marianne Aeschbacher.


Aquarell aus einem handgeschriebenen Buch von Marie Bruns für ihre Kinder.


Richter Viktor Bruns im Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag, Zeichnung von Marthe Antoine Gérardin, 1931.


Tagebuchseite von Marie Bruns mit Aquarell: Laurinswand im Rosengarten/Südtirol (Reise mit Viktor Bruns 1935).


Maries Tochter Hella Noltenius, Aquarell von Elisabeth Noltenius, 1937.


Maries Enkelin Elke Noltenius, Pastell von Willi Jaeckel, 1942.


Maries Enkelin Marianne (Meieli) Aeschbacher, Aquarell von Marie Bruns, 1946/47.


Marie Bruns, Meine linke Hand, Zeichnung, 1946.

Inhalt

Bilderreise zu Marie Bruns-Bodes Leben

Detailliertes Inhaltsverzeichnis der Tagebücher und Briefe

Vorwort

Tagebücher 1909–1944

Die Liebe meiner Eltern

Mädchenerinnerungen und die Memoiren als Lehrerin am Kaiserhof 1885–1912

Neues und Altes aus Italien

Tagebuch Sommer 1913 – Sommer 1914: Lehrerin für Kunstgeschichte bis zum Rauswurf aus der Schule

Herbst in Italien 1913 mit Wilhelm von Bode

Tagebuch 1915–1919: [Ehe im Ersten Weltkrieg]

Tochter Hellas Tagebuch 1919–1923: Hellas Ansichten und Leidenschaften

In der Schweiz, Juli – August 1925

Ehetagebuch 1929–1935: Internationale Prozesse, das Völkerrechtsinstitut von Viktor Bruns und die NS-Zeit

Hellas Lebenslauf am Beginn der NS-Zeit: Vom 16. bis zum 19. Jahr [1933–36]

Hellas Tagebuch Mai 1936 – 19. Januar 1938: Berufsfindung, Liebe und Hochzeit

Briefe 1893–1951

Nachwort

Anhang

Überblick der Familienmitglieder: Vor- und Nachfahren von Marie Bruns-Bode und Viktor Bruns

Edith, Marie Bruns’ zweite Tochter

Biografie und Schriften Marie Bruns-Bode

Biografie und Schriften Viktor Bruns

Quellennachweis

Bildnachweis

Danksagung

Personenregister

Institutionenregister

Detailliertes Inhaltsverzeichnis der Tagebücher und Briefe

Tagebücher 1909–1944

Die Liebe meiner Eltern

Mädchenerinnerungen und die Memoiren als Lehrerin am Kaiserhof 1885–1912

 

Die ersten Kinderjahre – Erste Italienreise 1900 – Paris 1903 – Reifenstein 1904 – Geselligkeit 1904 – Oxford 1906 – Lehrtätigkeit 1906 begonnen (21-jährig) – Die Prinzess Viktoria Luise von Preußen – Prinzessʼ Einsegnung – Der Kaiserin Geburtstag – Die Novembertage [1909/1910] – Die Enkel des Kaisers – Schülerinnen – Männerfreundschaften – Das Kränzchen

Viktoria Luise von Preußen, Kaiser Wilhelm II., Kaiserin Viktoria, Gräfin Keller, Graf Ernst von Rantzau

Neues und Altes aus Italien

Fürstin Marie von Thurn und Taxis, Wilhelm von Bode, Rainer Maria Rilke, Elisabeth Rimpau, Rudolf Kassner

Tagebuch Sommer 1913 – Sommer 1914: Lehrerin für Kunstgeschichte bis zum Rauswurf aus der Schule

Als Lehrerin an einer katholischen Schule – Sissis [Prinzessin Viktoria Luises] Hochzeit – Das Kränzchen

Viktoria Luise von Preußen, Gottfried Dryander, Viktor Bruns

Herbst in Italien 1913 mit Wilhelm von Bode

Fahrt nach Florenz – Fahrt nach Rom

Wilhelm von Bode, Dr. Hans von der Gabelentz, Dr. Georg Gronau, Kunsthändler Alfredo Barsanti

Tagebuch 1915–1919: [Ehe im Ersten Weltkrieg]

Dein Elternhaus – König und Königin bei Mama – Fliegeralarm – Das

rote Buch – [Schwangerschaft mit Hella] – Nahrungsmittelnot – Die Kohlennot – Volksstimmung – Neue Wiegenlieder – Amerikas Kriegserklärung – Meine Aufpäppelung – Gedicht über die Mandelblutung Symbolische Vorzeichen der Geburt – Berufspläne Viktors – Viktors Tätigkeit als Leitartikelschreiber – Die Schuld unseres Kaisers am Weltkriege – Onkel Weizsäckers Ansicht über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg – Onkel Carl als Staatsmann – Die Gefahr des Bolschewismus – Der Kaiser dankt nicht ab! Dagegen geht Onkel Carl! – Die verschiedenen Gruppen der Sozis – Unmenschliche Behandlung der Mannschaften durch Offiziere – Vaters Nöte – Verfassungsänderung – Revolution – Erste Ursache der Arbeiterrevolution? – Die Erfolge der Bolschewisten – Der Völkerbund – Viktor im besetzten Gebiet – Abschied der Königin von Schwaben

Prof. Dr. Paul Ernst von Bruns, Marie Auguste von Bruns, geb. von Weizsäcker,

Prof. Dr. Lasser, Prof. Georg Clemens Perthes, Generalarzt Rudolf von Burk,

König Wilhelm II. von Württemberg, Wilhelm von Bode, Ministerpräsident

Carl von Weizsäcker, Carl Bilfinger, Graf Ernst von Rantzau, Viktoria Luise

von Preußen

Tochter Hellas Tagebuch 1919–1923: Hellas Ansichten und Leidenschaften

Hella entwickelt ihre Ansichten über den lieben Gott – [Ediths Geburt] – Übersiedlung nach Zehlendorf – [Gut und Böse]

Edith Bruns

In der Schweiz, Juli August 1925

Ankunft in Brigels – Die Vettern aus Degerloch – Das Bundesfest –

Mariä Himmelfahrt

Carl Bilfinger

Ehetagebuch 1929–1935: Internationale Prozesse, das Völkerrechtsinstitut von Viktor Bruns und die NS-Zeit

Unser Auto und seine Freuden – Das indische Gutachten – Das deutsch-polnische Schiedsgericht – Die Eröffnung der Museumsneubauten – Viktors Plädoyer vor der Haager Cour für die deutsch-österreichische Zollunion, Juli 1931 – Die Haager Zollunion – Die Prozesse um Danzigs Leben – Am Scharmützelsee – Viktors Vortragsära – Die Vortragsreise nach Danzig, Januar [1933] – Viktors und meine Reise nach Stockholm (5.–13. April 1933) – Frühstück beim Präsident Hammarskjöld – Brittas Hochzeitstag in Königsberg – Eine interessante Abendgesellschaft – Beginn der deutschen [kunsthistorischen] Führungen 1934 – Auf der Wies – Museumsführungen – Das Fest zum 10-jährigen Bestehen des »Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht« in Berlin – Schweizer Reise (März 1935) – [Besichtigung eines Arbeitslagers des Reichsarbeitsdienstes] – Reise nach Südtirol und Oberitalien im Juli 1935

Präsident Lachenal, Namitkiewicz, Wilhelm von Bode, Graf Mandelsloh,

Berthold Graf von Stauffenberg, Prof. Charles de Visscher, Pastor Martin Niemöller, Premierminister Hjalmar Hammarskjöld, Prof. Reuterskjöld, Britta von Zezschwitz, geb. Bruns, Ferdinand Sauerbruch, Edith Bruns, Deutscher Botschafter in der Schweiz Ernst von Weizsäcker, Heinrich von Weizsäcker, Carl Friedrich von Weizsäcker, Richard von Weizsäcker, Max Reinhardt

Hellas Lebenslauf am Beginn der NS-Zeit: Vom 16. bis zum 19. Jahr [1933–36]

Hellas Konfirmation, 2. April 1933: Pastor Niemöller – Entfernung »jüdischer Elemente« aus der Schule – Fahrt nach England – 1936

im Arbeitsdienst

Prof. Oskar Bruns, Pastor Martin Niemöller, Pastor Ernst von Dryander

Hellas Tagebuch Mai 1936 – 19. Januar 1938: Berufsfindung, Liebe und Hochzeit

Arbeitsdienst Sommer 1936 – Neue Berufswahl – Unser Hausball – Vergleich zwischen Hellas und meinen Verehrern – Hella und Jan – Verlobungsfeier in Zehlendorf – 5. Mai 1937: Hochzeitstag von Ursula [Sattler, geb. Noltenius] – Hellas Hochzeit [1937] – Mein erster Besuch bei Hella [in Bremen]

Ferdinand Sauerbruch, Jan Noltenius, Carl Friedrich von Weizsäcker, Ernst von Weizsäcker, Marianne von Weizsäcker, Oskar Bruns, Richard von Weizsäcker, Pastor Martin Niemöller Elisabeth Noltenius, Edith Bruns

Briefe 1893–1951

Besichtigung der privaten Kunstsammlungen in Paris 1903 – Zeichenunterricht bei Madame Mourier – Louvre – Oxford 1906 – Arthur Evans und seine Ausgrabungen auf Kreta – Wandel der kulturellen Bedürfnisse seit der Eheschließung 1915 – Gratulation zum 60. Geburtstag Wilhelm von Bodes – Internationalität früher und nun während des Weltkriegs »wilder Völkerhass« – Neubauten der Berliner Museen – Pastellmalerei – Über die früh verstorbene Mutter – Bildnismalerei – Viktor Brunsʼ Gründung des »Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht« – 1936: Begegnung bei Minister Hans Frank mit Arnold Joseph Toynbee und Leni Riefenstahl, die ihren Film »Die Macht des Willens« zeigt – 1946: Kriegs- und Nachkriegsschicksal der Bibliothek des Völkerrechtsinstituts – Das Völkerrechtsinstitut in dieser Umbruchzeit – Bilanz ihres Porträtzeichnens – Hellas Tätigkeit als Dolmetscherin und Übersetzerin – Nahrungsmittelbeschaffung – Kulturprogramm im Nachkriegs-Bremen – Erholung von der Hungerszeit für die Kinder Rainer und Elke bei den Schweizer Verwandten – Erinnerungen eines aus Berlin in die USA geflüchteten Professors an Viktor Bruns – Würdigung des Völkerrechtsinstituts durch amerikanische Wissenschaftler – Wiederbegründung des Völkerrechtsinstituts in Heidelberg – 1950: Viktors und Maries Testament – Familie von Weizsäcker

Gustave Dreyfus, Rudolf Kann, Emile Michel, Sir Arthur Evans, Christian Hülsen, Wilhelm von Bode, Peter Halm, Marie Bode [Mutter von Marie Bruns-Bode], Thilli Wintzingerode, W. von Dirksen, Thomas Theodor Heine, Diefenbach, Viktoria Luise von Preußen, Carl von Weizsäcker, Minister Hans Frank, Arnold Joseph Toynbee, Leni Riefenstahl, Minister a.D. Walter Simons, Karlfried Graf Dürckheim, Leopold Reidemeister, Jan Noltenius, Elisabeth Noltenius, Paul Kleinen, Klaus Müller-Wusterwitz, Ellinor Greinert, Prof. Edwin Borchard (USA), Weiss, Kretschmer, Rainer Noltenius, Marianne Aeschbacher, Ursula Sattler, Heinrich Sattler, Dorothea Sattler, Dieter Wehrli, Elke Noltenius, Agnes Wehrli, Prof. Martin Wolff, Carl Bilfinger, Rudolf Smend, Margrit Witwer-Aeschbacher, Herbert Kier, Grete Bilfinger, Carl Friedrich von Weizsäcker, Marianne von Weizsäcker, Ernst von Weizsäcker, Ferdinand Sauerbruch

Vorwort

Marie Bruns-Bode war eine lebenslustige und vielseitig literarisch und künstlerisch begabte Frau. Sie versteht es, die Leserin und den Leser humorvoll, anschaulich und süffig schreibend in das Zentrum des kulturellen und politischen Lebens der Hauptstadt Berlin von der Kaiserzeit bis zur Adenauer-Ära zu führen.

Marie Bode (1885–1952) wurde in eine äußerst anregende kulturelle Atmosphäre hineingeboren. Ihr Vater, Wilhelm von Bode (1845–1929), war von 1905 bis 1920 Generaldirektor der Berliner Museen. Nach ihm wurde das Bode-Museum benannt. Er heiratete 1882 Marie Rimpau. Marie Bode war beider einzige Tochter, da Marie Bode-Rimpau bei der Geburt ihrer Tochter 1885 verstarb. Marie Bode, die Verfasserin der hier vorgelegten Tagebücher und Briefe, wurde 1907–10 als Lehrerin für Kunstgeschichte an den Kaiserhof nach Berlin und Potsdam berufen. Sie heiratete 1915 Prof. Dr. Viktor Bruns (1884–1943), den Begründer und langjährigen Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin, heute das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.

Die Tagebücher von Marie Bruns, geb. Bode sind von 1912 bis 1944, die Briefe von 1893 bis 1951 geschrieben. Als Tochter des Generaldirektors der Berliner Museen und als Frau des Direktors des Völkerrechts-Instituts und Mitglieds des vom Völkerbund eingesetzten Haager internationalen Schiedsgerichtshofes entsteht in ihren Tagebüchern und Briefen ein Bild der kulturellen und politischen Geschichte Deutschlands.

In einer Zeit, in der von den Frauen Unterordnung unter die Männer erwartet wurde – sodass Marie Bode sich selber in ihrer Jugend gewünscht hatte, als Mann geboren worden zu sein – gelang es ihr, aufrecht ihren eigenen Weg zu finden und zu verwirklichen. Nachdem sie sich und ihre Träume durchgesetzt hatte, fühlte sie sich als Frau wohl und wollte nicht mehr mit einem Mann tauschen!

In ihren Tagebüchern und Briefen spiegelt sich das gesellschaftliche Leben besonders des Berliner Bildungsbürgertums in den Zeiten Kaiser Wilhelms II., in der Weimarer Republik, der NS-Zeit und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1951.

Es treten darin unter anderem auf – immer aus selbstbewusst weiblicher Perspektive dargestellt:

•Wilhelm von Bode, andere Museumsdirektoren aus Europa und Amerika sowie große private Kunstsammler aus ganz Europa.

•Eine bedeutende Rolle spielt die Familie von Weizsäcker, eng mit Viktor Bruns verwandt und befreundet, in den Tagebüchern: Carl von Weizsäcker, württembergischer Ministerpräsident bis 1918, Ernst von Weizsäcker, Diplomat und unter Adolf Hitler Staatssekretär im Auswärtigen Amt, schließlich noch Richard und Carl Friedrich von Weizsäcker, die später als Bundespräsident bzw. als Atomphysiker und Philosoph wichtige Positionen erlangten.

•Mehrfach treffen wir auf Pastor Martin Niemöller, der eine Tochter von Marie Bruns 1933 konfirmierte. Niemöller taucht einige Seiten später wieder als entschiedener Gegner der NS-orientierten »Deutschen Christen« auf – in einem Gespräch zwischen einem NS-Minister und einem Bischof auf einer Abendgesellschaft, wobei letzterer betont: »Niemöller … wird jetzt demnächst beseitigt werden«.

•Diplomaten und Politiker im Zusammenhang mit Viktor Brunsʼ Auftreten im Internationalen Haager Gerichtshof.

•Professor Sauerbuch, bekanntester Chirurg seiner Zeit und Schwarm der Damen der »besseren Gesellschaft«, erscheint als charmanter Gesellschaftslöwe auf den großen Berliner Festen.

So stellt das Tagebuch ein Zeitgemälde der Gesellschafts-, Kultur-, Rechts- und Wissenschaftsgeschichte dar, erzählt von einer klugen und oft auch widerständigen Frau.

Dank ihrer künstlerischen Ausbildung in Berlin und Paris hat Marie ihre Tagebücher mit eindrucksvollen Aquarellen und Zeichnungen illustriert.

Leserinnen und Leser können durch die Lektüre eine überraschende Konkretisierung unseres viel zu holzschnittartig vereinfachten und durch die Perspektive von Männern geprägten Bildes der ersten Hälfte des

20. Jahrhunderts in Deutschland erleben.

Rainer Noltenius

Tagebücher 1909–1944

Die Liebe meiner Eltern

[Geschrieben zwischen 1909 und 1911. Nach den Berichten ihrer Tante Anna Rimpau in Langenstein und Thilli Wintzingerode, »der liebsten Freundin meiner Mutter«, erzählt Marie Bode:]

Aus den Worten beider habe ich die Geschichte meiner Eltern aufgebaut. Vater [Wilhelm von Bode] war ein seltsames Kind. Seine Mutter [Emilie Bode, geb. Rimpau] liebte ihn innig, Großvater [Oberlandesgerichtsrat Wilhelm H. B. Bode] konnte ihn nicht verstehen. Seine Anlage mochte an sich schon verschlossen sein – er wurde immer scheuer und seine etwas kränkliche Natur konnte mit den derberen Vettern (in Langenstein) nicht harmonieren. Wenn er auf dem Lande mit Rimpaus herumtollte, suchte er sich dann meistens die Gesellschaft seiner lebhaften, natürlichen und liebevollen Kusine Marie [Rimpau] aus.

 

Hand in Hand gingen die beiden durchs Dorf und hinter ihnen riefen die Buben: »Kick, do gahn Brut un Brüjam!« Es stand dem Pärchen auch ganz fest, dass sie später einmal Mann und Frau sein würden. Kindliche Kameradschaft wuchs sich zu reifer Freundschaft aus. Mein Vater hatte Naturhistoriker werden wollen, um den dunklen Erdteil zu durchforschen. Das verbot ihm seine zarte Gesundheit; er litt an Kopfkrämpfen, von denen im späteren Lebensalter nur Migräne zurückblieb. Seine zweite große Liebhaberei war Kunstgeschichte; aber der Vater behauptete, das sei kein Brotstudium und zwang ihn quasi zur Juristen-Karriere.

Widerwillig quälte er sich mit dem corpus juris herum und tagelang freute er sich auf ein paar Stunden in Langenstein, wo er der alten Liebhaberei leben konnte. Dann zog er mit meiner Mutter auf die »Altenburg« und Vetter und Kusine schwelgten im Anblick der Fotografien, die sich Vater allmählich von den verschiedenen Kunstwerken verschafft hatte. Seine Kusine hatte so viel Sinn für die Sache, dass es ihm oft schien, als ginge ihm durch sie erst das rechte Verständnis für seine Kunstblätter auf. Glücklich war der Referendar absolviert, und nun steckten sich einige verständnisvolle Leute dahinter, meinem Vater zu seinem rechten Beruf zu verhelfen. Es war der alte Braunschweiger Blasius, aber in erster Linie warʼs seine Kusine Marie, und sie trugen den Sieg davon.

Mit welchem verstärkten Interesse meine Mutter nun an der Laufbahn von Vater teilnahm, lässt sich denken. Aber sie verlor ihn auch oft fast jahrelang aus den Augen. So manche Liebesgeschichte spielte in ihrer beider Leben hinein, und als sie bereits 37 Jahre alt waren, kam ihnen die Erkenntnis, dass sie ja eigentlich nur füreinander geschaffen seien. An diesem Punkt stimmen meine Quellen nicht überein. Die eine sagt aus, dass Großmutter Ri.[mpau] Vater zur Verlobung ermutigt hätte, die andere meint, es sei die Liebe den Eltern meiner Mutter überraschend gekommen – ihre eigenen Briefe bestätigen mir diese Ansicht.

Jedenfalls hatten die beiden Liebenden schwere Zweifel am Erlaubten ihres Glücks. Vetter- und Kusinen-Heirat war schon einmal in unserer Familie vorgekommen und hatte Irrsinn in der nächsten Generation gezeigt. Dazu kamen die Bedenken von Vaters zarter Gesundheit; meine Mutter hatte ein Mädchenleiden erst vor kurzem überwunden – und so türmte sich manch ein Berg im Gewissen der zwei pflichttreuen Menschen auf. Es kam die Unzufriedenheit der [Rimpau-] Eltern hinzu, die selbstverständlich nur auf hygienischen Bedenken beruhte; aber beide liebten den Neffen, und so gaben sie ihre Einwilligung.

Kurz nachdem der Würfel gefallen war, wurde meiner Großmutter [Sophie Rimpau, geb. Bode] klar, was sie an dieser Tochter besessen hatte, was herzugeben ihr fast unmöglich schien. Der krittlige Mann [Landrat August Wilhelm Rimpau] war ihr oft langweilig gewesen, aber die heitere, witzige, kluge und selbstlose Tochter hatte das immer enger gezogene Familienleben aufgefrischt. Alle anderen Kinder hatten fortgeheiratet; nun sollte sie mit einem Mal in dem großen Schlosse nur für ihren Mann leben. Von Eifersucht gepeinigt suchte sie wohl nach einem Vorwand der Anklage gegen ihre Tochter, und wer sucht, der findet! Sie wetterte gegen Verwandtenheirat und füllte jeden Tag mit einer neuen Szene an. Wie mein Großvater in der Zeit zufällig einen Schlaganfall bekam, bezog meine Mutter die Schuld daran auf sich; weinend warf sie sich ihr um den Hals und stieß hervor: »Ich habe meinen Vater gemordet!« Auf dieses Hirngespinst des überreizten Gewissens hatte meine Großmutter nicht ein gütiges Wort, nicht einen freundlichen Blick. Kalt stieß sie die Tochter von sich. Zum Glück erholte sich mein Großvater bald; aber wie war der armen Tochter die Brautzeit verhagelt! In aller Eile wurde die Hochzeit vorbereitet und still, wie es sich nach den Worten meiner Mutter »für so alte Leute geziemte«, und der hohe Tag blieb ihr als der furchtbarste ihres Lebens in Erinnerung.

Hätten die Großeltern – und besonders die Großmutter – das junge Paar nun wenigstens in Frieden gelassen! Aber die Entbehrung war für die lebhafte alte Frau zu viel. Sie redete sich immer mehr in Härte herein und schrieb der unglücklichen Tochter einen Schmähbrief nach dem anderen! Vergebens warʼs, dass sie ihre Mutter für dies und jenes gedachte Verbrechen um Verzeihung bat! Vergebens, dass sie mit immer neuer Geduld freundlich und besänftigend schrieb. Das ferne Unwetter hörte nicht auf, grollend immer wieder über dem Horizont ihres Glückes aufzusteigen!

Und die beiden waren glücklich! Sie liebten sich mit einer Kraft, die gegen jede Anfeindung stählte. Sie gingen in den gegenseitigen Interessen, in der Freude am Charakter und Herzen ihrer Erwählten vollständig auf. Und meine Mutter hatte sich ihren Kreis erobert; alle Freunde ihres Mannes schätzten sich glücklich, sie zu kennen!

Da brach mit einem Mal das Leiden ihrer Mädchenzeit wieder auf. Ein Geschwür im Unterleib wuchs und verursachte grauenhafte Schmerzen. Die Ärzte trösteten, dass es nach einer Operation besser sein würde; aber sie könnte nie ein Kind haben! Der Arzt war im Irrtum, und bald darauf erfuhr sie, dass ihr und ihrem Kind der Tod gewiss sei. In dieser Aussicht schrieb sie an ihre Mutter und meinte, sie würde sich nun versöhnlich stellen. Aber die harte Frau sah in dem Schicksal ihrer Tochter nur die Strafe für solche leichtsinnige Heirat und weigerte sich, ihr vor dem Tode Lebewohl zu sagen. Wenn auch meiner tapferen Mutter das Sterben nicht schwer wurde – diese Härte und der Abschied von ihrem Wilhelm drückte sie schwer danieder. Trotzdem genossen die beiden jede Woche, jeden Tag, der ihnen noch geschenkt war, und die Todgeweihte strahlte den ganzen Reichtum ihrer Liebe auf Fern- wie Nahestehende aus. Sie ließ keine Wehmut aufkommen; jeder, der von ihr Abschied nahm, ging gestärkt und bereichert an seine Aufgabe.

Alles ging besser als man vorausgesehen. Das Kind war lebendig und gesund; eine helle dankbare Freude strahlt aus den Briefen, die meine Mutter damals an Tante Thilli geschrieben hat. »Schade, dass es kein Junge ist«, hatte ein Arzt gemeint, wie er mich besah – der mächtige Schädel schien ihm einen guten Knaben zu versprechen. »Schade, dass Du kein Junge bist«, hat Vater auch oft zu mir gesagt und meinem eigenen Bedauern Ausdruck gegeben. Aber jetzt, schon seit Jahren, möchte ich um die Welt nicht mit einem Mann tauschen. Meine Mutter selbst erholte sich und schöpfte wieder Lebenshoffnung. Aber es war nur Schein. Nach wenigen Wochen kam es zum Sterben.

Das war eine Trauer, wie sie selten um ein Menschenleben gehalten ist. Die Dorfleute in Langenstein weinten ebenso herzzerbrechend, wie ihre Neffen und Nichten, ihre Geschwister und zahllosen Freunde. Auf dem Begräbnis war ein Herr, den Vater nicht kannte. Hinterher machte er ihm einen Entschuldigungsbesuch. Es war ein Mann in den Siebzigern, der vor langen Jahren meine Mutter einmal in Langenstein gesehen – nur für wenige Stunden, und der konnte sichʼs nun nicht versagen, ihrer Leiche zu folgen. Aber noch wunderbarer tritt die Bedeutung ihrer Persönlichkeit aus einer anderen Erzählung hervor. Ich mochte schon 22 Jahre alt sein, da sagte mir Frl. Keller mal, dass sie mit einem Dr. Veit zusammen gekommen sei. Der habe sich sehr für mich interessiert, und viel von meiner Mutter gesprochen. Er war ein berühmter Frauenarzt, den man in ihrer letzten Krankheit herangezogen hatte. Und wie sie gestorben war, kam er heim mit den Worten: »Frau Bode ist tot« – und er und seine Frau wachten in Trauer die ganze Nacht hindurch.

Wenn ich bedenke, wie teuer mein Leben erkauft war, wie öde und zwecklos Vater sich lange Jahre fühlte – dann frag ich mich oft: Solltest Du nicht zu etwas ganz besonderem aufgehoben sein? Ich bin das Kind sehnsüchtiger, jahrealter, schwer erkämpfter Liebe. Was in den Eltern glühte, lodert womöglich noch stärker in mir – wozu?

[Außer dieser Kurzdarstellung schrieb Marie Bruns-Bode – zwischen 1938 und 1950 – den jahrzehntelangen Briefwechsel ihrer Eltern ab und kommentierte ihn: »Die Liebe meiner Eltern«, Umfang: 205 Seiten. Sie stellte fünf Exemplare davon her und verschickte zwei an ihre Töchter Hella in Bremen und Edith in der Schweiz sowie eins an Elisabeth Rimpau, Wernigerode (siehe den Brief an sie von 1950).]

Mädchenerinnerungen und die Memoiren als Lehrerin am Kaiserhof 1885–1912

Die ersten Kinderjahre

[geschrieben im Mai 1912, 27-jährig]

Aus dem Dämmer der ahnungslosen Kinderjahre tritt ein Bild des Erinnerns vor meine Seele. Vater [Wilhelm von Bode] liegt auf dem Sofa, wohl müde vom Amt [damals als Direktor der Berliner Gemäldegalerie], und ich hocke neben ihm mit einem Malbuch. Wo ich farblose Bildchen fand, musste ich sie bunt machen. Dann lief ich zu Vater und zeigte ihm mein Werk. Er lobte und gab Ratschläge für geeignete Farbenzusammenstellungen. Ich weiß, wie ich mir Mühe gab, seine Anerkennung zu erlangen, und mit welcher Freude ich schon in diesen jüngsten Jahren – ich mochte die Drei kaum erreicht haben – meinen primitiven Malversuchen oblag.


Wilhelm von Bodes Haus in der Uhlandstraße (heute Nr. 4/5, das Gebäude ist abgerissen).

Zum Glück wich die gute Mili [Marie Bodes Amme] nach zwei Jahren von meiner Seite und ich kam unter den direkteren Einfluss eines Menschen, den ich von keinem Sofa herunterjagen konnte [wie diese Mili!]: meiner geliebten »Tata« [Doris Spazier]. »Tata« war die Tochter eines sächsischen Arztes, der frühzeitig starb, ein paar unnütze Söhne hinterließ (die bald in Amerika verdufteten) und zwei Töchter als Stütze und Trost der Witwe. Anna ging später als Gesellschafterin in ein vornehmes Haus, Dorothea (meine »Tata«) wurde Erzieherin und kam viel in der Welt herum. Endlich musste sie aber zur Mutter heimkehren, die von Geistesschwäche befallen wurde. In einer Abendgesellschaft bei einem verwandten Künstler hatte Doris den Direktor der Berliner Gemälde-Galerie, meinen Vater, und seine Frau kennen gelernt. Sie gefielen sich gegenseitig sehr, und als meine Mutter ihren Tod nahen fühlte, bestimmte sie das eben geborene Töchterchen der Fürsorge ihrer kinderlieben Doris. Mit der Todesnachricht traf der letzte Wunsch der Verstorbenen bei meiner Tata ein. Lange saß sie weinend mit ihrer Schwester über dem Brief. Anne konnte die alte gebrechliche Dame, bei der sie im Dienst war, nicht verlassen; aber sollte nun Doris die geistesschwache Mutter fremder Hilfe in die Hand geben? Das erlaubten ihr weder ihr Herz noch ihre Mittel. Andererseits zog sie die stärkste Neigung zu dem verwaisten Baby in den Haushalt des armen Witwers. Während die beiden Schwestern laut über den Fall verhandelten, saß die greise Mutter im Nebenzimmer bei geöffneter Tür. Seit vielen Monaten hatte sie vor sich hin gedämmert und nie mit Worten oder Zeichen an dem Leben der Außenwelt teilgenommen. Anne und Doris trauten ihren Ohren nicht, als es aus der Nebenstube »Doris« rief. Die Weinende eilte herbei und die Mutter sprach gütig: »Geh hin und nimm Dich des Kindes an.« Es war das letzte bewusste Aufflackern ihres Geistes gewesen. Der Körper lebte noch eine Zeit lang fort; in der alt gewohnten Starre verharrte der Geist. Nur das Schluchzen ihres Kindes hatte die Mutterseele noch einmal zu bewusstem Leben geweckt. Doris vertrat die Mutterstelle und »Tata« gewann das ganze Vertrauen des kleinen Mariechens.

»Interessen« im gewöhnlichen Sinn des Wortes wusste die kluge und gebildete Tata sehr bald in mir zu wecken. An derselben Stelle, an der ich dem Laternenanzünder zusah, las sie mir, lang bevor ich einen Buchstaben kannte, die alten, ewig neuen biblischen Geschichten vor. Ich wusste sie bald auswendig. Oft erhob sich auch mein Pharisäerhochmut über die Fehler des jüdischen Volkes. »Sie waren doch böse Menschen, die Israeliten, nicht?!« Aber Tata meinte milde: »Wir hätten es in derselben Lage gradʼ so gemacht.« Gelegentlich fesselte mich ein anderes Buch noch stärker als die biblischen Geschichten: es war die Odyssee. Mit der tiefen Kraft ihrer schlichten Poesie sprach sie zum Kindergemüt und fesselte es für Zeit seines Lebens an die homerischen Gesänge. Ich hatte auch meine Lieblingshelden in Tatas Buch von der deutschen Geschichte. Immer wieder von Neuem begeisterte und rührte mich das Schicksal des kühnen Konradin, der später in meinem ersten Drama verherrlicht wurde, wie ich meinte.