Manfred Maurers Reise in den Süden

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Manfred Maurers Reise in den Süden
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Manfred Maurers

Reise in den Süden

Texte eines Steyrer Literaturpreises

Herausgegeben von Gerhard Klausberger

ENNSTHALER VERLAG STEYR

www.ennsthaler.at

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-7095-0034-7 (EPUB)

Manfred Maurers Reise in den Süden

Herausgeber: Gerhard Klausberger

Copyright © 2014 by Ennsthaler Verlag, Steyr

Ennsthaler Gesellschaft m.b.H. & Co KG, 4400 Steyr, Österreich

Satz & Umschlagestaltung: Thomas Traxl & Christoph Ennsthaler

Umschlagmotiv: jamdesign/fotolia

Intro

14 großteils unveröffentlichte Erzählungen werden in diesem Band präsentiert. Manfred Maurers literarisches Werk, allen voran die Erzählung »Erste Reise in den Süden«, bildete während der letzten Jahre den Schreibanlass für über 100 junge Autorinnen und Autoren, ihre Beiträge zum »Manfred Maurer-Literaturpreis« einzureichen. Diese Anthologie stellt nun die Siegertexte aus den Wettbewerben der Jahre 2008, 2010 und 2012 vor, erweitert um einige gelungene Einreichungen, die beim Preis zwar leer ausgingen, aber deutlich über bloße Talentproben hinausweisen. Manfred Maurers Erste Reise in den Süden, erstmals erschienen 1985, wird in diesem Erzählband neu aufgelegt.

Der Süden steht im Mittelpunkt der meisten in der vorliegenden Anthologie abgedruckten Erzählungen. Das zehnjährige Pflegekind Alfred in Manfred Maurers Geschichte erlebt es in den 60er Jahren als etwas völlig Exotisches, mit den Nachbarn im Auto ans Meer zu reisen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine solche Reise in den Süden völlig normal. Italien, Griechenland oder Kroatien gehören zum Alltag, exotisch ist vielleicht – wenn überhaupt – noch der Südpol. Die Gegenwartstexte, die hier vorgestellt werden, vermitteln das aktuelle Bild. In den Erzählungen ist der Süden vielschichtiges Symbol, das Reisen zur Metapher geworden.

Manfred Maurer wurde am 8.11.1958 in Steyr geboren, wo er auch aufwuchs und, nach der Pflichtschule in St. Anna, die Handelsakademie (HAK) besuchte. Seit 1981 lebte er als freier Schriftsteller in Wien. Er war Verfasser von Romanen, Krimis, Hörspielen, Drehbüchern, Erzählungen und Kurzprosa. Im Jahr 1983 erhielt Manfred Maurer als 24-Jähriger den Literaturpreis der Kulturinitiative »Junges Steyr«, deren Vorsitzender damals Gerhard Klausberger war. Zu Maurers erfolgreichsten Werken zählen »Sturm und Zwang«, »Land der Hämmer« und »Das wilde Schaf«. Am 11. November 1998, nur drei Tage nach seinem 40. Geburtstag verstarb Manfred Maurer an den Folgen einer Gehirnblutung, die er sich bei einem Sturz zugezogen hatte.

Gerhard Klausberger, der Herausgeber dieser Anthologie, war in den 70-er Jahren Manfred Maurers Deutschlehrer und Klassenvorstand an der Steyrer HAK. Er hat im Jahr 2008 als Direktor der ehemaligen Schule Maurers den »Manfred Maurer-Literaturpreis« ins Leben gerufen und fungiert auch als Juryvorsitzender dieses Wettbewerbs. »Es war mir ein wichtiges Anliegen, dieses Buch herauszugeben«, sagt Klausberger, »um einerseits zeitgemäße Themen an die Leserschaft heranzutragen, anderseits für junge Autorinnen und Autoren eine Plattform herzustellen und, last but not least, um den – zu Unrecht – in der Erinnerung des Lesepublikums mancherorts nur mehr peripher vorhandenen Schriftsteller Manfred Maurer eineinhalb Jahrzehnte nach seinem tragischen Tod wieder stärker ins Zentrum der Lektüre zu rücken.«

Einstieg
manfred maurer – erste reise in den süden

manfred maurer

erste reise in den süden

die großen ferien haben längst begonnen. lumpi, der vogel, zwitschert auf der schattenseite am balkon. alfred hat heut keine lust zu essen. er fühlt sich nicht wohl, ist ein bisschen krank vielleicht.

du mußt aber etwas essen, sagt die pflegemutter, essen muß man. du schaust eh aus wie ein suppenkasperl. die leute glauben noch, sagt sie, ich geb dir nichts. die glauben, ich steck das geld für dich ein und laß dich verhungern. komm, iß was, wozu stehe ich denn sonst den ganzen vormittag in diesem dunst?

sie nimmt einen brocken vom grießbrei auf die gabel und schiebt ihn sich in den mund, zeigt alfred, wie gut er schmeckt.

aber alfred kann beim besten willen nichts hinunterkriegen. auch nicht, wenn er ihr eine freude machen wollte, wozu er sich des öfteren verpflichtet fühlt, sozusagen als dank für alles, was sie für ihn tut, und damit er kein schlechtes gewissen zu haben braucht.

ich kann nicht, sagt er, ich will nicht.

sie verzieht das gesicht und beginnt zu leiden.

so etwas stures wie dich, sagt sie, habe ich überhaupt noch nie erlebt. aber tu nur so weiter, dann wirst dich schon noch an meine worte erinnern, wenn ich einmal nicht mehr bin. du bringst mich ins grab, aber das willst du ja, schreit sie, du willst mich umbringen, sonst wärst du ganz anders. nicht einmal das eigene kind, jammert sie, aber sekkiert mich bis aufs blut, das gfrast[1]. womit habe ich das verdient? wofür muß mich der herrgott so bestrafen.

alfred schlägt die tür hinter sich zu.

will ich sie wirklich umbringen, denkt er, auf der schwarzen klobrille sitzend, bin ich wirklich so schlecht? werde ich einmal bestehen können vor dem jüngsten gericht oder ewige höllenqualen erleiden müssen?

angst befällt ihn. sie kriecht vom bauch in die brust hinauf. was soll ich tun, was soll ich bloß tun? denkt er. tränen steigen ihm in die augen.

ich will diesen verdammten grießbrei nicht, ich will ihn nicht essen, und wenn ich nicht will, dann will ich nicht, denkt er und schlägt mit der flachen hand auf die badewanne, die gleich neben der klomuschel steht.

hau da draußen nicht herum wie ein verrückter, schreit die pflegemutter in der küche.

halt den mund, flüstert alfred, du hast ja einen vogel.

die angst schlägt in haß, in wut um.

das kommt alles nur davon, weil ich keinen vater habe, denkt er, alle gehen sie los auf mich, alle beißen sie her. bei mir trauen sie sich, weil ich keinen papa habe, der mir hilft und der es ihnen zeigt.

er versucht krampfhaft das schluchzen zu unterdrücken. er will nicht, daß ihn beim weinen jemand sieht oder hört. da schämt er sich sonst zu tode, wenn alle sehen, wie arm er ist, und vielleicht auch noch mitleid mit ihm haben. er verkriecht sich immer irgendwo, wenn er weint, und kommt erst wieder hervor, wenn er sich halbwegs beruhigt hat.

ich bring mich um, denkt er, ich häng mich auf. dann werden sie schon schauen, dann werden sie diejenigen sein, die weinen.

nach einer viertelstunde verläßt er das klosett wieder.

ich geh jetzt zur tante mitzi hinauf, ruft er in die küche, wo die pflegemutter das geschirr abwäscht, wir gehen dann nach rosenegg baden.

daß du mir ja nicht ins wasser gehst, schreit sie.

alfred schlüpft in die sandalen und knallt die tür hinter sich zu. er geht die paar schritte über die grünanlage, was natürlich verboten ist.

alfred wohnt mit seinen pflegeeltern und deren jüngster tochter, die fünfundzwanzig ist, in einer stadtrandsiedlung. vierstöckige, gemeindeeigene mietskasernen mit zwei- und dreizimmerwohnungen, waschküchen, trockenräumen, abstellräumen, dachböden. grünanlagen, mit birken und ziersträuchern und parkplätzen vor den häusern, teppichklopfstangen, zwei sandkisten mit bänken rundherum hinter den häusern.

andauernd kreuzt der gemeindeeigene aufseher in seinem dreiradler auf und sieht nach, ob auch nicht ball gespielt wird, ob auch keiner in die wiese steigt oder mit dem rad fährt, wo es nicht gestattet ist. vor ihm haben alle panische angst. was er sagt, das gilt. man darf ihm nicht widersprechen, sagt die pflegemutter immer, sonst bekommt man schwierigkeiten und wird delogiert. alfred drückt auf den klingelknopf. franz, der cousin, öffnet die tür.

komm herein, sagt er.

grüß dich, sagt alfred zu tante mitzi, die in der küche hantiert.

grüß dich, sagt sie, setz dich, wir sind gleich fertig.

alfred setzt sich in einen der weinroten fauteuils und starrt vor sich hin. sein schweigen ist ihm unangenehm. er hat das verlangen, etwas zu sagen, das ihnen spaß macht oder freude bereitet, weil sie sich um ihn kümmern und ihn an ihrem leben teilhaben lassen.

er bringt aber nichts heraus, und auch die beiden anderen sagen nichts. das ist alfred recht, denn er hat angst davor, angeschaut, angesprochen zu werden, nichts entgegnen zu können, rot, belächelt und bemitleidet zu werden.

an der wand hängt ein großes, gerahmtes bild, das eine hochalpine landschaft zeigt mit hütte und bach, saftigen grünen wiesen und grauen deckweißbergen. das hat herr maier gemalt, weil onkel karl ihm beim bau einer garage geholfen hat.

das ist mindestens dreitausend schilling wert, sagte onkel karl einmal und freute sich.

in der ecke steht die leselampe mit dem weißen schirm, die onkel karl selbst gebastelt hat. er ist ja so geschickt, er kann einfach alles. ganz anders alfred, der ist ungeschickt, ein tolpatsch, er kann überhaupt nichts. man sagte es ihm so lange, bis er es glaubte, und jetzt ist er es wirklich. er bringt einfach nichts fertig, hat keine geduld, wegen jedem handgriff muß er zu einem anderen gehen und ihn bitten.

auch franz, der cousin, ist ganz anders. er hilft seiner mutter, wo er nur kann. er trocknet das geschirr ab, hilft ihr beim kochen, wäscht die wäsche, hängt sie auf und nimmt sie ab, bügelt. und alfred tut keinen handgriff, er ist faul und »fliegt« den ganzen tag auf der straße herum.

 

so, franz, sagt tante mizzi, räumst mir noch das geschirr ein?

ja, mutti.

ich gieße noch die blumen, sagt tante mitzi, dann können wir gehen.

wie im fernsehen beim onkel bill, denkt alfred, nicht so wie bei uns, wo immer nur gestritten und nichts – nicht einmal das essen – gemeinsam geschieht. jeder hat seine aufgaben, jeder weiß, was er zu tun hat. der vater, »die starke hand«, befiehlt. aufmucken, das gibt es nicht, das traut sich der franz gar nicht.

alfred schaut auf die uhr, die am sekretär steht. ein uhr vorbei schon.

die sollen gefälligst weitertun, denkt er, draußen ist es so schön, und ich sitze hier herum, wegen denen.

franz räumt gemächlich das strahlende geschirr in die selbstgebaute einbauküche. er zerbricht nie etwas. alfred darf man nichts in die hand geben, sagt die pflegemutter immer und gibt ihm auch nichts.

tante mitzi gießt sorgfältig die blumenstöcke. kein tropfen geht daneben, alles wasser sickert in die braune blumenerde, wie es sich gehört.

fertig, gehen wir, sagt sie dann endlich.

franz muß noch aufs klo.

alfred steht in dem kleinen vorzimmer mit dem selbstgebauten eschenen einbauschrank und weiß nicht, wo er hinschauen und was er mit tante mitzi reden soll.

baden heißt für ihn heute: im schatten sitzen und zuschauen, wie die anderen plantschen, spritzen, schwimmen, tauchen, sich von den felsen hinunterstürzen. das verbot der pflegemutter sitzt zu fest im kopf. alfred traut sich nicht, er hat angst, daß er sich zur strafe für seine unfolgsamkeit eine lungenentzündung holt und sterben muß.

rosenegg heißt rosenegg, weil das schloß auf der anhöhe schloß rosenegg heißt. es gibt viel wald in dieser gegend, auen entlang des flusses. die landschaft erinnert ihn immer an das bild, das er in einem buch über kanada gesehen hat. dann kommt die verwitterte wehranlage: eine stufe aus morschem holz. das wasser schießt hinunter, taucht hinein, überschlägt sich, sprudelt in die höhe. zwei meter hohe wellen, schneeweiße wellenkämme, grüne tiefe, luftmatratzen, haarschöpfe.

DAS BADEN IM WEHRBEREICH IST VERBOTEN! BETRETEN DER WEHRANLAGE NUR AUF EIGENE GEFAHR!

danach nimmt die wucht des auf wasser aufschlagenden wassers ab mit jedem meter. die wellen werden kleiner und kleiner, das wasser seichter, der fluß beruhigt sich und fließt dann zügig. am wasser entlang befindet sich eine schotterbank, auf der sich hunderte von badegästen tummeln. alfred sitzt mit tante mitzi und frau burgfrau im schatten eines alten baumes. franz treibt sich mit seinen taucherbrillen im wasser herum. der fluß hat in diesem sommer zwanzig grad celsius.

und du gehst nicht ins wasser? fragt frau burgfrau alfred.

nein, er ist ein bißchen krank, sagt tante mitzi, er darf nicht, weil wir ja am sonntag nach jugoslawien fahren, und da muß er schauen, daß er wieder ganz gesund wird, sonst muß er zu hause bleiben, und das wäre ja ein blödsinn.

ah, ihr fahrt nach jugoslawien am sonntag und nehmt ihn auch mit, sagt frau burgfrau und zeigt mit dem finger auf alfred.

bei tante mitzis badeanzug schauen zwischen den beinen etwa sieben sehr lange haare heraus. alfred ist scharf darauf, etwas von der schambehaarung der frauen zu sehen. er freut sich schon sehr auf den augenblick, wenn sich bei ihm selbst die ersten härchen zeigen.

jetzt ist er eh schon zehn jahre alt und war noch nirgends, sagt frau burgfrau.

doch, in deutschland war er schon, sagt tante mitzi, da nimmt ihn die frau hausmann immer mit, wenn sie zu ihrer schwester fährt.

ah so, sagt frau burgfrau, ah ja, stimmt schon.

alfred wirft mit einer blechbüchse und muß an seine mutter denken, die oft sagt: jetzt bin ich dreißig vorbei und war noch nirgends, außer in die fabrik komme ich nirgends hin.

die luftveränderung wird ihm guttun, sagt tante mitzi, er schaut eh so schlecht aus und ist immer krank.

ja wirklich, sagt frau burgfrau, schlecht schaut er aus, so weiß im gesicht, gar keine farb hat er.

das kommt nur, weil er kein obst und kein gemüse ißt, sagt tante mitzi.

was, kein obst und kein gemüse? aber das ist doch das wichtigste, frau burgfrau kann es gar nicht glauben.

aber was glauben sie denn, sagt tante mitzi,wie der heiklig[2] ist, der ißt ja fast überhaupt nichts. die frau hausmann ist viel zu gut mit ihm, wenn er was nicht ißt, dann kocht sie ihm eben etwas anderes. bei mir gibt es das nicht. wenn er nicht ißt, was auf den tisch kommt, dann kriegt er eben nichts, aus. der franz ißt alles.

der schaut auch anders aus, sagt frau burgfrau, aber von klein auf, von klein auf hätte man das machen müssen.

natürlich von klein auf, sagt tante mitzi, da hat die frau hausmann einen großen fehler gemacht.

alfred steht auf und geht zum wasser.

immer nörgeln sie an mir herum, denkt er. immer wissen sie besser, was ich will und was ich brauche, nichts paßt ihnen. jetzt gehen sie auch noch auf die mutti los, nur weil sie mir etwas gutes zum essen kocht. was wissen den die blöden kühe, wie sehr mir vor dem verdammten obst und dem gemüse graust, wass wissen denn die? warum muß ich mir immer alles gefallen lassen? warum hilft mir keiner? am liebsten würde ich ihnen, denkt er, einen stein auf den schädel schießen, daß das blut herausspritzt und daß sie hin sind.

vom anderen ufer weht ein leichter wind herüber und bewegt die äste der großen, starken bäume. im wasser brechen sich die sonnenstrahlen. alfred hat angst, seine eingeweide verkrampfen sich. eines tages wird die ganze welt einstürzen, denkt er, und alles wird aus sein. dann kommt das jüngste gericht, dann werden trompeten erschallen, und jesus wird die guten von den bösen trennen. er setzt sich neben das wasser auf den warmen schotter. sanfte wellen rollen heran, ohne ihn erreichen zu können. das geschrei der wasserratten verstört ihn. die angst wird stärker, wie immer, wenn er unter leuten ist, ohne einen menschen, an den er sich klammern kann.

obwohl sich alfred den ganzen nachmittag nur im schatten aufgehalten hat, brennt seine haut. weiter unten auf der schotterbank werden lagerfeuer entzündet, würstchen gebraten. tante mitzi beschließt, daß es nun zeit ist, nach hause zu gehen. die drei machen sich auf den weg durch den kühlen wald.

die haselnüsse sind noch nicht reif, sagt tante mitzi, es hat keinen sinn, sie herunterzureißen.

alfred läßt es sein.

franz weiß allerlei zu berichten von seinem badeerlebnis. er ist ein kräftiger, gesunder, anständiger bub. er geht ins gymnasium und will später einmal arzt werden, sein vater ist werkmeister in einer maschinenfabrik, hat schlosser gelernt, war dann tüchtig und fleißig, jetzt ist er wer. alfreds vater stammte von einem bergbauernhof, der zehn kinder aus zwei ehen zu ernähren hatte, ging als hilfsarbeiter in die fabrik, wo er alfreds mutter kennenlernte, und starb dann plötzlich über nacht, einige tage nach alfreds erstem geburtstag, einundzwanzigjährig.

alferds mutter, die wie tante mitzi aus einer zehnköpfigen flüchtlingsfamilie – siebenbürger, die vierundvierzig nach österreich kamen – stammt, arbeitet seit ihrem vierzehnten lebensjahr. zuerst in der landwirtschaft, dann fertigte sie billigen schmuck, wechselte schließlich in die eisenverarbeitende industrie über, wo sie wohl bis zur pensionierung bleiben wird. alfreds vormund ist das jugendamt, vor dem er panische angst hat, weil die pflegemutter immer damit droht, wenn er nicht »brav« ist, sondern wieder einmal »unausstehlich und lästig«.

kommst heut abend herauf, alfred, sagt tante mitzi, zum essen? heut gibts cevapcici, was jugoslawisches, damit du siehst, was wir in jugoslawien essen werden.

ja, sagt alfred.

sie sind inzwischen zu hause angelangt. auf der straße krabbeln kleinkinder in sandkisten herum, größere spielen zwischen den häusern unter den birken cowboy und indianer, kämpfen, raufen, führen krieg und schließen frieden. am wäscheplatz ist ein fußballmatch im gange. das spiel muß immer dann unterbrochen werden, wenn jemand vom fenster herunterschreit, der wäscheplatz sei kein spielplatz und man werde sich auf dem gemeindeamt beschweren.

oder wenn der gemeindebedienstete, den noch niemand anders als in knickerbockerhosen gesehen hat und der auch hier wohnt, den ball kassiert und mit aufs amt nimmt. andere hängen auf den teppichklopfstangen und vollführen kunststücke, was natürlich auch verboten ist. die braven mädchen spielen gummitwist: PETER ALEXANDER, HAXN AUSEINANDER, HAXN WIEDER Z’AMM, UND DU BIST DRAN!

hausfrauen und pensionisten tratschen, autobesitzer polieren, wer überhaupt nichts zu tun hat, hängt am fenster und schaut sich die welt an.

die pflegemutter trocknet das geschirr ab.

ich bin hundsmüde, sagt sie.

sie hatte heute gemeinsam mit ihrer zweitältesten tochter, die mit ihrem mann, der elektroschweißer ist, und den vier kindern gleich nebenan wohnt, großen waschtag. und sie ist ja auch nicht mehr die jüngste, sie wird bald sechzig.

willst jetzt was essen? fragt sie.

nein, sagt alfred, ich geh dann zur tante mitzi hinauf, da gibts cevapcici.

cevapcici, fragt die pflegemutter, was ist denn das?

das sind jugoslawische würstel, sagt alfred, ich kenn sie auch noch nicht.

und da haben sie dich eingeladen, sagt die pflegemutter, dir gehts aber gut, mich lädt nie jemand ein.

alfred geht hinunter und setzt sich vor die haustür, wo ein paar seiner freunde kartenspielen. er schaut zuerst zu und spielt dann mit, als einer der spieler einkaufen gehen muß.

franz ist selten auf der straße, er ist meistens drinnen bei der mutter. am nachmittag beim baden am steinkasten ist er ab und zu dabei. er kann sehr gut und sehr weit tauchen und hat auch eine luftmatratze. sie wandern viel, kennen alle berge in der näheren und weiteren umgebung. sie haben ausgezeichnete wanderschuhe, ein tourenbuch mit einem enzian vorne drauf, zwei rucksäcke, die die männer tragen, das vokabular der bergsteiger, daß alfred nur so schaut, wenn sie ihn mitnehmen auf den berg.

sieben uhr: die glocken der expositur st. anna läuten.

ich muß jetzt gehen, sagt alfred zu seinen freunden. ich muß noch wo hin heut abend, sagt er verschmitzt.

hunger hat er inzwischen und auch wieder dieses unangenehme gefühl, das er jedesmal hat, wenn er vor dieser tür, nummer drei, steht. er kommt fast immer als bittsteller: ob ihm onkel karl das fahrrad reparieren, die bindung montieren kann, die rodel ist kaputt, ob er mit in die wachau, auf den schoberstein, die grünburgerhütte fahren darf, wenn sie fahren. das sind gänge zum schafott. alfred sitzt oft stundenlang, bis er es herausbringt, zählt hundertmal bis zehn und tut es dann doch nicht. sie wissen natürlich, was los ist, lassen ihn aber zappeln. alfred schwitzt blut und würde sich am liebsten selbst ins gesicht schlagen.

zu weihnachten kommt er, um gute feiertage zu wünschen und die hundert schilling, die sie ihm in einem blauen briefkuvert überreichen, abzuholen. einmal hat er auch ein buch über die freibeuter der antarktis bekommen. am ersten jänner wünscht er ein gutes neues jahr.

tante mitzi führt ihn ins wohnzimmer. onkel karl blickt von seiner zeitung, den oberösterreichischen nachrichten, auf. alfred gibt ihm die hand. vor ihm hat er die größte angst. onkel karl ist ein strenger mann, aber auch ganz lustig. alfred gefällt beides nicht. er hat es am liebsten, wenn man ihn in ruhe läßt.

na, hast schon gepackt, fragt onkel karl lachend.

nein, sagt alfred und wird knallrot im gesicht.

er versucht krampfhaft, ein lächeln zu spielen.

so einen vater, sagt die pflegemutter immer, würde auch er brauchen. ihm geht nur der vater ab, sagt sie, der ihm »die wadeln nach vorne richtet«, dann würde er sich nicht mehr erlauben, was er sich mit ihr erlaubt, dann würde er sich schon überlegen, ob er lästig ist oder nicht.

franz kommt aus der küche. er hat eine weiße schürze umgebunden.

wirds eh was? fragt onkel karl.

ich glaub schon, sagt franz und schüttelt sich vor lachen.

und dann kommen sie, tante mitzi serviert die kleinen, braunen würstchen auf jausenbrettern.

schauen gut aus, sagt onkel karl.

 

dann ist es ruhig, dann wird gegessen, beim essen spricht man nicht.

super, was die alles kennen, schmecken wirklich gut, denkt alfred. doch plötzlich wird seine begeisterung gedämpft. er entdeckt, daß auch zwiebeln in den knusprigen dingern sind, und zwiebeln mag er nicht, vor ihnen ekelt er sich wie vor so vielen anderen dingen auch. er versucht verbissen, kein stück davon zu erwischen. gleichzeitig muß er darauf achten, daß ihm die anderen nicht dabei zusehen, wie er fein säuberlich die zwiebelstückchen aussortiert, sonst würden sie ihn darauf ansprechen, und er würde wieder rot werden, nicht wissen, was er sagen soll.

er ist froh, daß er endlich fertig wird und der spießrutenlauf ein ende nimmt. franz war schon vor ihm fertig.

magst noch was? fragt tante mitzi, es sind noch welche da.

nein danke, sagt franz, ich hab keinen hunger mehr.

du, alfred?

nein danke, sagt er.

nach dem essen, tante mitzi und franz haben die bretter und das besteck in die küche geräumt, sitzen sie gemütlich beisammen. alfred fühlt sich nun einigermaßen wohl. tante mitzi holt das fotoalbum mit den bildern vom letzten jugoslawienaufenthalt, etwa hundert stück, die sie mit der kamera gemacht haben, die alfreds verstorbenem vater gehört hat.

da hat franz eine burg aus sand gebaut, da hat er sich eingegraben, da schwimmt er im meer, da springt er vom sprungturm herunter. das ist der onkel fritz, der onkel vom franz. der hat am abend immer so einen spaß gemacht. das ist die tante herta. da sind wir alle beisammen vor unserem zelt beim kochen. der onkel karl und der franz haben sich immer um die größten kartoffeln gestritten, das war die größte gaudi.

da bin ich und die tante herta in der kurzen hose, sagt tante mitzi, so sind wir ins hotel zündhölzer kaufen gegangen. die waren alle gerade beim abendessen, alle im schwarzen anzug und im abendkleid, die haben schön geschaut, wie wir da so hereingeschneit sind, aber wir haben uns da überhaupt nichts angetan. das ist der hafen und das große salzschiff, sagt franz, das war mehr als hundert meter lang.

sie beginnen geschichten zu erzählen. alfred hört gespannt zu. er kann es schon gar nicht mehr erwarten, alles mit eigenen augen zu sehen und selbst mittendrin zu stecken. am liebsten würde er die zeit bis dorthin durchschlafen, damit sie schneller vorbeigeht.

ich muß jetzt gehen, sagt er und steht auf.

was, zehn uhr ist es schon? sagt tante mitzi, die zeit ist aber schnell vergangen. franz, du gehst auch gleich ins bett.

ja, mutti, sagt franz.

alfred läuft durch die dunkelheit, sperrt die haustür auf und wieder zu, steigt die stufen in den ersten stock hinauf, sperrt die wohnungstür auf und wieder zu und schleicht, ohne licht zu machen, auf zehenspitzen durch das wohnzimmer, in dem maria, die tochter seiner pflegeeltern, auf der couch schläft, ins schlafzimmer, wo die pflegeeltern im ehebett schnarchen. jeder in einer anderen ecke zusammengerollt. alfred legt sich in sein bett, das an der wand steht. die drei müssen immer früh aufstehen, deshalb gehen sie auch früh zu bett. der pflegevater muß auf die baustelle, wo er als hilfsarbeiter beschäftigt ist, und maria in die schuhfabrik, wo sie als oberteilstepperin arbeitet. die pflegemutter muß das frühstück machen und die jausen herrichten und einpacken.

über das bett hat alfred einige poster mit popstars und filmschauspielern geklebt. sein sehnlichster wunsch ist ein eigenes zimmer. er hat angst davor, daß ihn jemand besucht und dann sieht, wie er wohnt. er glaubt, daß ihn jedermann, der es erfährt, ablehnt und verachtet. so setzt er alles daran, freunde und andere menschen in solchem abstand zu halten, daß sie gar nicht auf die idee kommen, ihn zu besuchen.

aber jetzt wird ja alles ganz anders. in ein paar tagen fährt er nach jugoslawien. dort wird er in einem zelt schlafen und abenteuer erleben. wenn es doch schon heute wäre, denkt er, kurz bevor er einschläft.

es ist samstagnachmittag. heute nacht also ist es soweit, heute nacht geht es auf in den süden. alfred ist außer sich, aufgeregt, ein wohliges gefühl aus freudiger erwartung und angst vor dem neuen, unbekannten. er bringt seine sachen zu onkel karl und tante mitzi hinauf, damit sie sein zeug in ihre koffer packen können. das wichtigste, was er mitnimmt, sind natürlich die beiden badehosen. aber das zweitwichtigste ist die braune windjacke mit den rot-weiß-blauen rändern, die gleiche, die heintje in einem seiner filme trug. alfred und die pflegemutter kauften sie im frühling vom anschaffungsbeitrag, den alfred zweimal jährlich von der fürsorge erhält. das sind die beiden schrecklichsten tage des ganzen jahres für ihn. schon lange vorher ist er am boden zerstört. es freut ihn nichts mehr, er hat nur wahnsinnige angst davor, daß er wieder gemeinsam mit der pflegemutter in einem der kleiderhäuser der stadt stehen wird, und sie, nachdem er hosen, hemden, jacken, mäntel, pullover probiert und das »lässigste« ausgewählt hat, den kleinen, weißen schein zückt und der kassiererin vorlegt.

sie sagt dann: ich hab da was vom jugendamt. die kassiererin setzt die brille auf, nimmt den schein zwischen die finger, betrachtet ihn lange und sagt dann: ja, ist in ordnung.

dann muß eine verkäuferin die ausgewählten kleidungsstücke der reihe nach ansagen, und die kassiererin trägt sie schön langsam und fein säuberlich in eine liste ein. ist dies geschehen, muß die pflegemutter schein und liste unterschreiben. und alfred steht dabei und glaubt zu zerspringen, so schämt er sich. ein schweißausbruch jagt den anderen, ein schwindelgefühl erfaßt ihn, und er fühlt, wie sich die kopfhaut zusammenzieht. am liebsten möchte er davonlaufen, doch er ist wie gelähmt. er möchte laufen, laufen, laufen, alles zurücklassen: die pflegemutter, die mit zittriger hand ihre unterschrift aufs papier bringt, das geschäft mit den verkäuferinnen und den kunden, die straße, die stadt, irgendwo auf einem grasbewachsenen hügel zusammenbrechen und zu den sternen hinaufschauen. er schämt sich so. er hat so schreckliche angst, daß ihn jemand sieht, der ihn kennt und dann weiß, daß er auf kosten anderer lebt, daß er von der fürsorge eingekleidet wird, weil er ein halbwaisenkind ist. er fühlt sich schlecht und minderwertig wie ein stück dreck, daß er gar nicht mehr leben möchte. und die sekunden werden zur ewigkeit. alfred kann sich gar nicht vorstellen, daß er jemals aus dem geschäft hinauskommen könnte. irgendwie geschieht es aber doch immer wieder, und dann nimmt er das paket und läuft seiner pflegemutter davon. er will nicht mit ihr gesehen werden, alles vergessen, unerkannt nach hause hetzen und sich dort verstecken. haben sich dann die verkrampfungen gelöst, freut er sich über den kostenlosen zuwachs an kleidung. er hat es wieder einmal geschafft, ohne daß jemand hinter sein schreckliches geheimnis gekommen ist. dann atmet er erleichtert auf, ballt die hände zu fäusten und schwört sich, daß er einmal etwas besonderes werden wird, etwas großes, daß er es allen zeigen und nicht mehr abhängig sein wird, daß dann er derjenige ist, der jemanden beschenkt.

den film mit dem heintje hat er gemeinsam mit seiner mutter am 25. dezember im stadtkino gesehen und war begeistert vom heintje und der windjacke.

obwohl alfred erst zehn jahre alt ist, hat er schon viele filme gesehen. er geht jeden sonntag nach der heiligen messe mit seinem freund hari ins stadtkino in die matineevorstellung. sie sitzen immer in der zweiten reihe, das kostet sieben schilling. wenn noch geld übrigbleibt, kaufen sie sportgummi oder gebrannte aschanti. am liebsten sehen sie karl-may- und tarzanfilme. sie kennen alle anderen stammgäste, gehören einer lockeren gemeinschaft an. der wildeste unter ihnen ist der neger-willi, ein brutaler hund. alfred fürchtet sich vor ihm, doch da der hari sein freund ist, hat auch er nichts zu befürchten.

die zeiger der uhr zeigen halb zwei. alfred ist richtig gut aufgelegt. er hat keine angst, kann sogar ein bißchen sprechen, er ist beinahe übermütig. onkel karl packt gerade die koffer, denn er bringt am meisten hinein. zwei stück und eine reisetasche sind schon gepackt. sie stehen verstreut auf dem blankgeputzten parkettboden. alfred benutzt sie als slalomstangen, wedelt in gelben socken dazwischen hindurch. schon seit einer halben stunde unterhält er sich prächtig in der feindlichen wohnung.