Kirchlicher Dienst in säkularer Gesellschaft

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2. Zwischen Marktbehauptung und öffentlicher Erwartung

Die Dienste und Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände stehen untereinander und mit privatgewerblichen Trägern in einem Wettbewerb, der politisch gewollt ist. Weit verbreitet ist hierzu aber eine schizophrene Haltung bei Politik und Öffentlichkeit: Einerseits soll sich die Caritas im Wettbewerb behaupten, andererseits werden aber unternehmerische Entscheidungen, die damit notwendigerweise verbunden sind, als in Teilen anrüchig empfunden. Dies gilt für alle gemeinnützigen Akteure, für die kirchlichen Verbände aber in verschärfter Weise. Will ein Träger aus Caritas oder Diakonie beispielsweise aufgrund wegbrechender Finanzierung eine Dienstleistung reduzieren oder einen Dienst aufgeben, wird ihm vorgeworfen, „allein des Geldes wegen“ hilfesuchende Menschen im Stich zu lassen. Mit besonderen Risiken der öffentlichen Reputation sind betriebsbedingte Kündigungen verbunden, die angesichts der hohen Abhängigkeit der Leistungserbringer von öffentlicher Refinanzierung ebenfalls nicht immer vermieden werden können. Häufig findet eine den Kritikern nicht bewusste Vermischung zwischen einer individualethischen und einer sozialethischen Argumentationsebene statt. Es erfordert von den Leitungskräften erhebliches Rückgrat, unangenehme unternehmenspolitische Entscheidungen, die zur Sicherung eines Dienstes bzw. der sie tragenden Organisation notwendig sind, gegen die Erwartung durchzusetzen, dass die Kirche „so was nicht tun darf“.

3. Zwischen Refinanzierungsbedingungen und Qualitätsstandards

Die beruflichen und ehrenamtlichen Mitarbeitenden und die Nutzer ihrer Dienste und Einrichtungen erwarten, dass unter dem Dach der Caritas eine Hilfe erbracht wird, die hohen fachlichen Standards entspricht, wohnortnah angeboten wird und möglichst flexibel den unterschiedlichen Bedarfen der hilfesuchenden Bürger entspricht. Ob ein solcher Anspruch erfüllt werden kann, hängt aber nicht allein von der Bereitschaft und den unternehmerischen Leistungen der Caritas ab, sondern wird in starkem Maße durch die leistungsrechtlichen Bestimmungen und die Refinanzierung seitens der Leistungsträger bestimmt. Der Zusammenhang zwischen Preis und Qualität, der den Konsumenten in anderen Märkten bestens vertraut ist, ist im Bereich der sozialen Dienstleistungen verdeckt, weil häufig die Finanzierung der Leistungserbringer direkt durch die Leistungsträger erfolgt und die Kosten dem Hilfeberechtigten oft nicht einmal bekannt sind. Eine aus Sicht der Nutzer unbefriedigende Qualität wird dann vorschnell als Defizit der Leistungserbringer attribuiert, auch wenn sie Folge nicht verrückbarer Grenzen der Personalausstattung ist. Latent oder offen wird der Caritas entgegengehalten, wenn „es um den Menschen geht“, dürfe „das Geld“ keine Rolle spielen.

Allerdings sollen die Ausführungen zum Spannungsverhältnis zwischen den Refinanzierungsbedingungen und den Qualitätsstandards die Leistungserbringer nicht pauschal exkulpieren. Nur wer unter den gegebenen Refinanzierungsbedingungen am Qualitätsoptimum arbeitet, kann mit Verweis hierauf berechtigt jeglichen Anspruch auf Qualitätsverbesserung abwehren. Zwar sind Personalschlüssel als eine zentrale Determinante der erreichbaren Dienstleistungsqualität ohne Vereinbarung mit den Leistungs- und Kostenträgern nicht erweiterbar. Aber es bleibt ein weites Feld von Dimensionen der Leistungserbringung, die darüber entscheiden, welches Maß an Teilhabe und Nutzerzufriedenheit unter den Refinanzierungsbedingungen geleistet werden kann.

Die Grenzen, die die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit setzen, können Wohlfahrtsverbände ein Stück weit dehnen, wenn sie ihre Stärken ausspielen. Das berufliche Hilfesystem und das bürgerschaftliche Engagement sind im Miteinander gefordert. Zum Glück gehen die über lange Zeit gepflegten Vorbehalte hauptamtlicher Kräfte gegenüber dem ehrenamtlichen Engagement in den Diensten und Einrichtungen zurück: sie verdränge berufliche Arbeit, schwächte professionelle Standards, lüde den Staat ein, sich aus der sozialen Verantwortung zurückzuziehen. Erst in der kooperativen Verschränkung von beruflichem Hilfesystem und zivilgesellschaftlichem Engagement kann es gelingen, Dienste niederschwelliger zu gestalten und Kooperationen im Sozialraum zu erschließen.

4. Zwischen Tarifbindung und Marktlöhnen

Die Caritas soll sich nicht nur mit guter Qualität in den Märkten sozialer Dienstleistungen behaupten, sie soll auch ihre Mitarbeitenden gut bezahlen. Hierbei ist sie deutlich besser als ihr Ruf, auch wenn die Umbrüche seit Mitte der 1990er Jahre die Spannungen zwischen Ansprüchen und Möglichkeiten erhöht haben. Unter den Bedingungen eines stark korporatistisch geprägten Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses orientierte sich die Caritas wie die anderen frei-gemeinnützigen Dienstleistungserbringer, die damals in nahezu allen Hilfefeldern ohne privat-gewerbliche Konkurrenz agierten, an der Vergütung des öffentlichen Dienstes. Heute treten auf einigen Märkten sozialer Dienstleistungen auch privat-gewerbliche Anbieter auf, die nicht tariflich gebunden sind bzw. Haustarife abschließen; sie können ihre Leistungen billiger anbieten als ihre tarifgebundenen Wettbewerber. Seit Mitte der 1990er Jahre entstand ein Entlohnungswettbewerb zwischen gemeinnützigen und privatgewerblichen Anbietern und in der Folge auch innerhalb der Wohlfahrtspflege selbst. In den 2000er Jahren war der daraus resultierende wirtschaftliche Druck insbesondere auf Anbieter von Pflegeleistungen ein intensiv diskutiertes Thema im Deutschen Caritasverband. Mit einer Neuordnung der Arbeitsrechtlichen Kommission wurden Möglichkeiten geschaffen, Tarife nach Regionen und Branchen zu differenzieren, um so eine Anpassung an unterschiedliche Wettbewerbslagen zu ermöglichen. Allerdings sind diese neuen Instrumente der Entlohnungsgestaltung nur in geringem Umfang genutzt worden, weil entsprechende Beschlüsse nicht die notwendige Drei-Viertel-Mehrheit fanden. In den Regionalkommissionen waren und sind Konflikte zwischen Markterfordernissen und Gerechtigkeitsvorstellungen auszuhandeln. Norbert Feldhoff hat in diesen Auseinandersetzungen den Dritten Weg des kirchlichen Arbeitsrechts verteidigt, dabei aber stets deutlich gemacht, dass dieser nur dann zukunftstauglich ist, wenn dabei das Verhandlungsgleichgewicht der abhängig beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewahrt wird und wenn die unternehmerisch verantwortlich Handelnden und die bischöfliche Aufsicht der „unerlaubten Versuchung“ des sogenannten „Ersten Weges“, einer einseitigen Festsetzung von Arbeitsbedingungen ohne Beteiligung der Betroffenen widerstehen.10

Der Sozialsektor hat als Ganzes den Ruf, schlecht zu bezahlen, das erschwert die Gewinnung von Auszubildenden. Aber das Bild ist deutlich differenzierter, wie am Beispiel der Altenhilfe erläutert werden soll. Erfahrene Fachkräfte der Altenpflege verdienen, wenn sie tariflich entlohnt werden, etwa wie Fachkräfte in der Chemieindustrie, dem Baugewerbe und der Energiewirtschaft. Gehaltsnachteile haben sie vorrangig in den ersten Jahren nach dem Berufseinstieg zu tragen. Allerdings sind bei einem Gehaltsvergleich auch die deutlich unattraktiveren Arbeitszeiten zu berücksichtigen, die in der Pflege mit Nacht-, Schicht- und Wochenenddienst nicht vermieden werden können. Das Friseurhandwerk ist weiterhin ein von Frauen häufig gewählter Ausbildungsberuf. Nach einer Ausbildung zur Altenpflegerin könnten sie bis zum Doppelten dessen verdienen, was im Friseurhandwerk gezahlt wird.

Pflegedienstleitungen verdienen etwa so viel wie Meister im Kfz-Gewerbe oder der Chemieindustrie.11 Manchmal hat man den Eindruck, dass Vertreter der Wohlfahrtsverbände aus einem Übereifer im Kampf mit den Kostenträgern die eigenen Vergütungen in undifferenzierter Weise schlecht reden und damit ungewollt die Probleme der Rekrutierung von Personal noch verschärfen.

Zu den Merkwürdigkeiten der Sozialdebatte gehört, dass den Vergütungen, die im Dritten Weg vereinbart werden, ein schlechter Ruf anhängt. Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di greift den Dritten Weg der Kirchen an; doch die kirchlichen Entlohnungssysteme, insbesondere die Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) des Deutschen Caritasverbandes, leisten weiterhin eine nahezu flächendeckende Regelbindung der Entlohnung, die sich an der Entgeltstruktur und den Eurowerten des öffentlichen Dienstes ausrichtet. Ver.di hat mit unterschiedlichen Dienstleistungserbringern Tarife deutlich unterhalb der im öffentlichen Dienst üblichen Vergütung abgeschlossen, um – was sehr verständlich ist – überhaupt zu tariflichen Vergütungen zu kommen. Ver.di bemüht sich derzeit, die gute Beschäftigungssituation zu nutzen, um diese Lücke wieder zu verkleinern.

An dieser Stelle soll auch das heikle Thema der Vergütung von Leitungskräften angesprochen werden. Auch Führungskräfte der Caritas vergleichen ihr Gehalt mit dem, was sie anderenorts verdienen könnten. Das ist auch in Ordnung. Auch an der Spitze kann sich die Caritas nicht völlig vom Markt abkoppeln. Aber hier sollte man es sich nicht zu einfach machen. Auch wenn man zu einem gewissen Maß unterhalb dessen bleibt, was privat-gewerbliche Konkurrenten für ihre Führungskräfte bezahlen, kann man Leistungsträger finden. 20 % mehr Gehalt führt nicht automatisch zu einer um 20 % besseren Führungskraft. Eine Gehaltspolitik für Führungskräfte, die etwas hinter der privat-gewerblichen Konkurrenz zurückbleibt, hat einen Vorteil, der nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist: Er führt zu einer Selbstselektion der Führungskräfte: Die Caritas gewinnt diejenigen, die sich bewusst für einen caritativen Träger entscheiden, auch wenn sie damit monetär nicht das maximal mögliche erreichen. Gut leben kann man ja auch mit Gehältern, die im Vergleich mit anderen Gutsituierten ein wenig zurückstecken.

 

5. Zwischen Dezentralität und leitbildkonformer Angebotspolitik

Die Caritas ist (aus guten Gründen) kein Konzern. Das „Angebot der Caritas“ ist die Summe vieler dezentral getroffener Entscheidungen. Die Glaubwürdigkeit der Caritas hängt dennoch davon ab, dass diese Summe mit ihrem anwaltschaftlichen Anspruch zur Deckung zu bringen ist. Eine Angebotspolitik, die unausgesprochen allein dem Grundsatz folgte, „gemacht wird das, was refinanziert wird“, würde letztlich die Legitimationsgrundlage der Caritas untergraben. Natürlich kann es keine Angebotspolitik geben, die sich von den Refinanzierungsbedingungen abkoppelt, aber es muss Teil der Unternehmenspolitik der Caritas sein, auch unter widrigen Bedingungen Hilfen für Menschen in prekären Lebenslagen vorzuhalten, deren soziale Bedarfe bisher nicht durch sozialrechtlich kodifizierte Leistungsansprüche gedeckt sind, oder die, wie Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität, außerhalb unseres Sicherungssystems stehen. Die Caritas muss hierzu politische Unterstützung, Spenden und ehrenamtliches Engagement einwerben. Diesen Anspruch zu stellen und ihm trotz Widrigkeiten einigermaßen gerecht zu werden, sollte ein Markenzeichen der Caritas bleiben.

V. Nicht die Schlachten der Vergangenheit schlagen

In der Literatur mangelt es nicht an harschen Urteilen daran, wie die Wohlfahrtsverbände und mit ihr die verbandliche Caritas die Umbrüche auf den Märkten sozialer Dienstleistungen bewältigt haben. Sie hätten die Marktorientierung verinnerlicht, dies habe „zu starken Einbußen des traditionellen verbandlichen Selbstverständnisses [geführt], welche die Identität und Legitimität der Freien Wohlfahrtspflege dauerhaft in Frage stellen.“12 „Das neue Leitmedium: Geld entfernte die Wohlfahrtsverbände vom Gedanken der gelebten Solidarität. Ein freiwilliges Engagement der Bürger in Wohlfahrtsverbänden – als nunmehr zu Wirtschaftsverbänden konvertierten Organisationen – wird immer unwahrscheinlicher.“13 Auch werfen sie den Wohlfahrtsverbänden eine „passive Anpassungsstrategie“ und „ein offenkundiges Strategie- und Philosophiedefizit“ vor.14 Und Möhring-Hesse konstatiert „die langsame Auflösung der Freien Wohlfahrtspflege bei gleichzeitiger Stabilität ihrer Institutionen“:

„Sie entwickelt sich in der Bundesrepublik prächtig, aber sie entwickelt sich in eine Richtung, dass sie immer weniger die Freie Wohlfahrtspflege ist, die man unter dem Begriff „Freie Wohlfahrtspflege“ u. a. in normativer Absicht erwartet, – und dies obgleich die Institutionen, an die diese Erwartungen adressiert werden, in hoher Kontinuität bestehen.“15

Diese Kritiken beruhen auf der Grundposition, eine stärker wettbewerbliche Steuerung der Erbringung sozialer Dienstleistungen sei ein Irrweg; den Wohlfahrtsverbänden wird implizit oder offen vorgeworfen, diese Entwicklung nicht verhindert zu haben. Ob sie den dazu erforderlichen politischen Einfluss gehabt hätten, ist mehr als zweifelhaft. Der Vorwurf der Strategielosigkeit stimmt für den Caritasverband, wie die obigen Darlegungen zum verbandlichen Einsatz zur Sicherung eines offen gestalteten Sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses zeigen, nicht – auch wenn die eingeschlagene Strategie zweifelsohne nicht diejenige war, die die Kritiker sich gewünscht hätten.

Das Bild der „Auflösung“ der Freien Wohlfahrtspflege durch die „Vermarktlichung“ hat Elemente der Verklärung der Verhältnisse unter den Bedingungen des Neokorporatismus. Unternehmerische Interessen, die mit den Interessen der Nutzer im Konflikt stehen können, gab es auch zu Zeiten des Selbstkostendeckungsprinzips, es wurde über sie aber wenig gesprochen. Auch in diesen Zeiten war Geld ein „Leitmedium“. Auch damals gab es zum Beispiel ein Spannungsverhältnis zwischen den Interessen an Bestandssicherung großer stationärer Einrichtungen und Bedürfnissen der Nutzer nach stärker individualisierten, dezentralen, wohnortnahen Hilfeformen. Die Auseinandersetzung hierzu war etwa in der Behindertenhilfe von Bedeutung.

Ohne Zweifel haben die Herausforderungen der Marktbehauptung die Wohlfahrtsverbände verändert. In Leitungspositionen arbeiten vermehrt Betriebswirte statt allein oder vorrangig Fachkräfte sozialer Professionen; in Vorständen örtlicher Gliederungen arbeitet häufig ein Tandem beider Qualifikationen. Eine gewisse Mitverantwortung an dieser Verschiebung zwischen den Professionen dürften auch die Hochschulen für Soziale Arbeit tragen; wenn in der Ausbildung für die Sozialberufe Studierende in einer Aversion gegen „das Ökonomische“ bestärkt werden, werden sie nicht darauf vorbereitet, fachliche und betriebswirtschaftliche Herausforderungen gemeinsam im Blick zu behalten. Die Hochschulen haben so auf Leitungsebene zu jener „Verbetriebswirtschaftlichung“ beigetragen, die aus ihren Reihen so vehement kritisiert wurde.

Ob Wohlfahrtsverbände, wie unterstellt, ihr sozialanwaltschaftliches Engagement reduziert haben, ist eine empirische Frage. Bis heute halten alle Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege den Anspruch hierauf aufrecht. Nicht plausibel ist, dass die stärker wettbewerbliche Erbringung sozialer Dienstleistungen einen solchen Rückzug erzwingen würde oder, falls er zu konstatieren wäre, erklären könnte. Wenn man argumentiert, dieser erfolge aus Rücksichtnahme auf die Interessen der Leistungs- und Kostenträger, so wird man konzedieren müssen, dass auch im „Ancien Régime“16 des gefestigten Korporatismus die Leistungserbringer von den Leistungs- und Kostenträgern abhängig waren. Man kann sogar vermuten, dass die Abhängigkeit unter den Bedingungen der Objektfinanzierung höher war als sie heute bei der Subjektfinanzierung in einem Markt mit freiem Zutritt ist; denn die Objektfinanzierung erzwingt Ermessensentscheidungen, bei denen Wohlverhalten eine Rolle spielen kann. Für Verbände, die sich als frei bezeichnen, sollte es eher mit der verbandlichen Identität vereinbar sein, von den tagtäglichen Wahlentscheidungen leistungsberechtigter Nutzer abhängig zu sein als von nach Ermessen getroffenen Bewilligungsentscheidungen der Objektfinanzierung. Die Gefahr einer schleichenden Transformation der Wohlfahrtspflege hin zu reinen Abnehmern staatlicher Aufträge wäre vermutlich real geworden, wenn Ausschreibungen nach Vergaberecht zum Regelverfahren der Beziehung zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern geworden wären. Das Sozialrechtliche Dreiecksverhältnis blieb aber die dominante Marktordnungsform.

Auch der Vorwurf, mit der „Vermarktlichung“ die Sachzielorientierung aufgegeben zu haben,17 ohne die gemeinnützige Organisationen ihre Berechtigung verlieren, ist empirisch nicht untermauert. Diesen Vorwurf könnte man erheben, wenn sich die Freie Wohlfahrtspflege aus den Hilfefeldern zurückgezogen hätte, mit denen keine über Rechtsansprüche gesicherte Refinanzierung verbunden ist, etwa aus der Straffälligenhilfe oder der Hilfe für Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität oder aus zum Teil prekär finanzierten Beratungsdiensten. Eine systematische Forschung gibt es dazu nicht. Bei den Ortsverbänden der Caritas ist das Bewusstsein hoch, dass eine Caritas, die nicht an den Rändern der Gesellschaft präsent ist, ihre Legitimität gefährdet. Auch der behauptete Rückgang ehrenamtlichen Engagements18 ist empirisch nicht untermauert. Wie die 2018 abgeschlossene quantitative Erhebung zum Ehrenamt im Deutschen Caritasverband19 zeigt, kann von einem Wegbrechen des Ehrenamts keine Rede sein.

Weder bietet eine in fest gefügten korporatistischen Strukturen arbeitende Caritas die Gewähr dafür, besonders anwaltschaftlich zu sein, noch muss sie dies in einem stärker wettbewerblich geprägten Umfeld zwingend aufgeben. Die Caritas muss die Spannungen zwischen Marktbehauptung und sozialpolitischem Anspruch aushalten, gestalten und offen kommunizieren. Unkenrufe, eine Caritas, die sich selbstbewusst in den Märkten sozialer Dienstleistungen behauptet, gebe in einem schleichenden Prozess ihre anwaltschaftlichen und sozialpolitischen Ansprüche auf und werde zum reinen Unternehmensverband, haben sich nicht bewahrheitet. Das sollte doch ermutigen, nicht die Schlachten längst vergangener Zeiten zu schlagen, ob Markt und Wettbewerb zur Erbringung sozialer Dienstleistungen genutzt werden sollten. Es geht dagegen um viele, hochkomplexe Fragen, wie Märkte sozialer Dienstleistungen zu ordnen sind, damit sie gute Dienstleistungen für Bürger sichern können, die bei allen Einschränkungen, die es in ihrer jeweiligen Situation geben mag, autonom handeln wollen. Und es geht um eine Marktordnung, die in einem sozialrechtlich verlässlichen Rahmen Raum lässt für das Engagement der Caritas und anderer nicht-staatlicher Organisationen, die die Sorge für die Bürgerinnen und Bürger in einem subsidiär gestalteten Sozialstaat mittragen.

1 Cremer/Goldschmidt/Höfer, Soziale Dienstleistungen. Ökonomie, Recht, Politik (2013), S. 115 ff.

2 Deutscher Caritasverband, Leitbild des Deutschen Caritasverbandes, (2016), https://www.caritas.de/cms/contents/caritas.de/medien/dokumente/dcv-zentrale/leitbild-des-deutsch/caritas_leitbild_210x270_d_web.pdf (Zugriff: 27.04.2019).

3 Den Vorsitz des Forums hatte der damalige Direktor des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn, Volker Odenbach. Der Autor war in der Antragskommission der Vertreterversammlung für dieses Forum zuständig.

4 Siehe u.a. Kloos, Große Träger machen mobil. In: Neue Caritas 7/2000.

5 Zu weiteren Beispielen zur Aktualität der ordnungspolitischen Auseinandersetzung vgl. Cremer, Wohlfahrtsverbände zwischen Marktbehauptung und sozialpolitischem Anspruch. In: Sozialer Fortschritt 68 (2019), S. 35–40; Rixen, Sozialrechtliche Regulierung des Sozialstaats. Rechtswissenschaftliche Orientierungen zur Governance sozialer Dienstleistungen. In: Zeitschrift für Politik 65 (2018).

6 Deutscher Caritasverband (2007).

7 Der Erwägungsgrund 4 der Vergabe-Richtlinie stellt fest: „Ebenso sollten Fälle, in denen alle Wirtschaftsteilnehmer, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, zur Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe – ohne irgendeine Selektivität – berechtigt sind, wie beispielsweise bei einer Auswahl durch den Kunden und bei Dienstleistungsgutscheinsystemen, nicht als Auftragsvergabe verstanden werden, sondern als einfache Zulassungssysteme …“. (EU, Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG, Amtsblatt der Europäischen Union, L 94, 28.03.2014: S.65–143 http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014L0024&from=DE (Zugriff: 27.04.2019), S. 66) Der entsprechende Erwägungsgrund 13 der Konzessions-Richtlinie führt aus: „Regelungen, nach denen ohne gezielte Auswahl alle Wirtschaftsteilnehmer, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, berechtigt sind, eine bestimmte Aufgabe, wie beispielsweise Kundenwahl- und Dienstleistungsgutscheinsysteme, wahrzunehmen, sollten darüber hinaus nicht als Konzessionen gelten, was auch für Regelungen gilt, die auf einer rechtsgültigen Vereinbarung zwischen der Behörde und den Wirtschaftsteilnehmern beruhen. Derartige Systeme beruhen typischerweise auf der Entscheidung einer Behörde, mit der transparente und nichtdiskriminierende Voraussetzungen für den kontinuierlichen Zugang von Wirtschaftsteilnehmern zur Erbringung bestimmter Dienstleistungen, wie soziale Dienstleistungen, festgelegt werden, wobei den Kunden die Wahl zwischen den Anbietern freisteht.“ (EU, Richtlinie 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe, Amtsblatt der Europäischen Union L 94, 28.03.2014, L 94/1-64 http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014L0023&from=de (Zugriff: 27.04.2019), S. 3).

8 Die Darstellung erfolgt unter Rückgriff auf Cremer, Dilemmata von Wohlfahrtsverbänden im Wettbewerb. In: Greiling/Gmür/Theuvsen (Hg.), Ressourcenmobilisierung durch Nonprofit-Organisationen. Theoretische Grundlagen, empirische Ergebnisse und Anwendungsbeispiele (2015); Cremer, Caritas: Leitbildtreu und marktkonform? Zum Spannungsverhältnis zwischen Auftrag und Handeln im Wettbewerb. In: Tripp/Zinnecker (Hg.), Aufmerksam, entschieden, eigensinnig, solidarisch: Caritas in Bewegung - den Menschen nahe. Stuttgart: Schwabenverlag (2015).

 

9 Einrichtungsstatistik des Deutschen Caritasverbandes zum Stichtag 31.12.2016: 660.000 hauptamtliche Mitarbeitende, davon 250.000 in Vollzeit, 410.000 in Teilzeit (davon knapp 50.000 geringfügig beschäftigt).

10 Feldhoff, Der Stellenwert des Dritten Weges. In: Tripp/Zinnecker (Hg.): Aufmerksam, entschieden, eigensinnig, solidarisch: Caritas in Bewegung - den Menschen nahe (2015).

11 Jahrbuch Tarif und Entgelt, So zahlt die Sozialwirtschaft. Wohnfahrt intern, Sonderausgabe 2017, S. 146–155; Jahrbuch Tarif und Entgelt, So zahlt die Sozialwirtschaft. Wohnfahrt intern. Sonderausgabe 2018, S. 130–136.

12 Jüster, Die verfehlte Modernisierung der Freien Wohlfahrtspflege. Eine institutionenanalytische Analyse der Sozialwirtschaft (2015), S. 480.

13 Jüster, Die verfehlte Modernisierung der Freien Wohlfahrtspflege. Eine institutionenanalytische Analyse der Sozialwirtschaft (2015), S. 501.

14 Boeßenecker/Vilain, Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege: eine Einführung in Organisationsstrukturen und Handlungsfelder sozialwirtschaftlicher Akteure in Deutschland (2013), S. 304–305.

15 Möhring-Hesse, Verbetriebswirtschaftlichung und Verstaatlichung. Der destruktive Formenwandel der Freien Wohlfahrtspflege. In: Heinze/Lange/Sesselmeier (Hg.): Neue Governancestrukturen in der Wohlfahrtspflege. Wohlfahrtsverbände zwischen normativen Ansprüchen und sozialwirtschaftlicher Realität (2018), S. 58.

16 Schroeder, Die freie Wohlfahrtspflege und die wachsenden Steuerungsansprüche des Staates. In: Sozialer Fortschritt 68 (2019), S. 12.

17 Möhring-Hesse, Verbetriebswirtschaftlichung und Verstaatlichung. Der destruktive Formenwandel der Freien Wohlfahrtspflege. In: Heinze/Lange/Sesselmeier (Hg.): Neue Governancestrukturen in der Wohlfahrtspflege. Wohlfahrtsverbände zwischen normativen Ansprüchen und sozialwirtschaftlicher Realität (2018), S. 65.

18 Jüster, Die verfehlte Modernisierung der Freien Wohlfahrtspflege. Eine institutionenanalytische Analyse der Sozialwirtschaft (2015), S. 501.

19 Spiegel/Becker, Erhebung zum caritativen ehrenamtlichen Engagement in der Caritas. Abschlussbericht – Onlineversion mit einer Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes. Katholische Hochschule Freiburg (2018), https://www.caritas.de/cms/contents/caritas.de/medien/dokumente/spende-und-engagemen/engagement/erhebung-zum-caritat/onlineversion_stellungnahme_dcv_und_abschlussbericht_ehrenamtserhebung.pdf (Zugriff: 27.04.2019).