Kindheit in der Schweiz. Erinnerungen

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Kindheit in der Schweiz. Erinnerungen
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Zu diesem Buch

Ein Lesebuch zu Schweizer Kindheit: Autorinnen und Autoren aus allen Landesteilen erinnern sich. Sie waren Wunschkinder, aber manchmal auch ein Esser zu viel. Sie wuchsen an der Zürcher Goldküste auf oder im hintersten Walliser Bergtal, im Dorf, in der Stadt, auf dem Bauernhof. Sie waren Kinder von Fabrikbesitzern, Bäckern, Pfarrern, Arbeitern, Wirten, Migranten. Sie wurden gehätschelt oder verdingt, gefördert oder übersehen, verwöhnt oder geschlagen. Sie lernten, spielten, arbeiteten und beobachteten die Erwachsenen und deren Tun. Rund dreissig Autorinnen und Autoren erinnern sich an ihre Kindheit an ihrem Ort in der Schweiz: im Tessin, Graubünden, Wallis, Basel, Bern, Zürich, St. Gallen, im Jura oder im Emmental … Neben bekannten Namen wie Charles-Ferdinand Ramuz, Laure Wyss, Niklaus Meienberg, Friedrich Glauser, Aline Valangin oder Daniel de Roulet schreiben viele Nichtprominente, denen allen eines gemeinsam ist: Sie wissen packend, anschaulich, sinnlich und prägnant Geschichten aus ihrer Kindheit zu erzählen. So entsteht ein einzigartiges Panoptikum von Kindheit in der Schweiz des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts.

Kindheit in der Schweiz

Erinnerungen

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Erwin Künzli unter Mitarbeit von Patrizia Huber

Limmat Verlag

Zürich

«Es sind die Mütter, die sich erinnern, die Liebenden und die Dichter.»

Erika Burkart

«Jemand hat gesagt, es sei nicht gut, an den Ort seiner Kindheit zurück­zu­kehren. Vielleicht hatte er recht. Ein Wiedersehen, man weiss es, kann ­enttäuschen, weil unterdessen so vieles geändert hat, die Gegend aussen und die Gegend innen. Die Kindheit, die noch ein Versprechen war, liegt schon weit zurück, eine verdämmernde Traumwelt; und was nachher kam – ein ­Leben mehr oder weniger fragwürdig, eine Kette von Wider­sprüchen, Niederlagen und Versäumnissen, fragmentarisch wie alles. Hat man sich überhaupt ­gekannt? Weiss man, wer man gewesen ist und wer man ­hätte sein können?»

Oscar Peer

Erzählte Kindheit

«Wie es war – war es so?»

Laure Wyss

Vierunddreissig Personen erzählen aus ihrer Kindheit in der Schweiz der letzten beiden Jahrhunderte. Der älteste, Jakob Senn, war ein Zeitgenosse von Gottfried Keller, er wurde 1824 in Fischenthal in ärmlichste Verhältnisse geboren, die jüngste, Meral Kureyshi, wurde 1983 in Prizren im Kosovo geboren und kam mit zehn Jahren in die Schweiz.

Die Texte stammen aus Büchern, die im Limmat Verlag im Verlauf der vierzig Jahre seit seiner Gründung erschienen sind. Sie sind alle in der Ich-Form gehalten, Erwachsene erzählen selbst aus ihrer Kindheit – auch wenn sie das Erzählte manchmal nicht selbst aufgeschrieben haben. Dabei wurden auch Auszüge aus Texten aufgenommen, welche die Gattungsbezeichnung Roman tragen, aber erklärtermassen autobiografisch geprägt sind. Die neuere Gedächtnisforschung hat festgestellt, dass Erinnerung etwas sehr Bewegliches und Veränderliches ist und dass das Erinnerte im Augenblick des Erinnerns gewissermassen ‹erfunden› wird. In diesem Sinn können wir mit Fug und Recht feststellen, dass alles ‹wahr› ist, was in diesem Buch steht.

Die Anthologie versucht nicht, irgendeine Art Geschichte der Kindheit in der Schweiz abzubilden, das ist einerseits kaum möglich, andererseits ist es erstaunlich, wie sehr sich die Welten der Kinder vom neunzehnten bis in die Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts noch ähneln – fast möchte man sagen, dass die Schichtunterschiede prägender sind als die historischen. Das Auffallendste ist vielleicht, wie selbstverständlich Kinder arbeiteten, wie stark das Leben geprägt war von Religion und allerlei Autoritäten und wie selbstverständlich Kinder gestraft und geschlagen wurden, zu Hause, in der Schule. Daneben taten sie das, was Kinder bis heute tun: Spielen, Lesen, Lernen – nicht zuletzt durch das Beobachten der wunderlichen Welt der Erwachsenen.

Die Texte sind also nicht chronologisch angeordnet, der Reigen beginnt mit Geburt und ersten Erinnerungen, dann gibt der eine dem andern das Stichwort, als sässen die vierunddreissig Menschen zusammen, erzählten sich ihre Geschichten, und eine Erzählung ruft die nächste auf. Für die Leser und Leserinnen entsteht so ein weites Panorama der Kindheit, das sie vielleicht im Kopf mit ihren eigenen Erinnerungen ergänzen werden.

Erwin Künzli

1908, Val d’Anniviers VS
Adeline Favre

Ich wurde an einem 22. Mai geboren. Mama war an jenem Tag ganz allein zu Hause, denn mein Vater war ins Tal hinunter gegangen, um nach den Reben zu sehen. Im Tal unten war ein halber Meter Schnee gefallen, eher ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Wie alle Leute aus dem Val d’Anniviers hatten auch wir in der Gegend von Sierre, in ­Niouc, unsere Reben. Sie waren für uns fast die einzige Quelle für Bargeld, und eine Naturkatastrophe brachte schwe­re finanzielle Folgen für das kommende Jahr. Nun hatte Papa in diesem Jahr vorgearbeitet und die Reben schon frühzeitig aufgebunden. Dies im Hinblick auf meine bevorstehende Geburt: Er wollte zu Hause sein, wenn er benötigt wurde. Als er an diesem 22. Mai den Schnee sah, stieg er sofort ins Tal hinunter, um den Schaden an den Reben festzustellen. Es zeigte sich übrigens, dass er nicht so gross war wie bei den Nachbarn. Papa hatte auch die Kühe hinuntergetrieben, damit sie die abgebrochenen Zweige fressen konnten, die er auf dem Rücken des Maultiers bis nach Niouc gebracht hatte. Hierher trug man auch die dürren Rebenblätter, die man mit Heu mischte und den Kühen zu fressen gab.

So musste mich Mama an jenem 22. Mai allein zur Welt bringen. Zudem wurde ich in Steisslage geboren. Die Hebamme, Madame Pont, eine Cousine von Mama, sagte zu ihr: «Ich kann dir nicht helfen, du musst es ganz allein fertigbringen. Ich kann dir nicht helfen …» Sie betete in einer Ecke des Zimmers, und Mama presste.

Madame Pont war verzweifelt, dass sie nicht helfen konnte. Zu ihren Gunsten muss man sagen, dass die Hebammen damals nicht vorbereitet waren auf Komplikationen und dass ihnen die medizinischen Kenntnisse, die mir später zugute kamen, fehlten. Sie taten ihr Bestes mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Oft allerdings blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu beten …

Weil Papa nicht da war, holte Madame Pont voller Angst ihren Mann zu Hilfe. Es geschah oft, dass der Ehemann der Hebamme zur Hand ging. Monsieur Pont war Schuhmacher. Mama hat uns später oft erzählt, wie sie sich um seinen Hals geklammert hatte, um besser pressen zu können. Ich war offenbar ein recht grosses Bébé, das achte und das erste der zweiten Hälfte von vierzehn Kindern.

1939, Meggen LU
Otto Scherer

Kaum auf der Welt, da ging der Teufel los. Der Vater und der Karrer mussten einrücken. Die beiden Pferde und ein Wagen wurden eingezogen. Der Melker schirrte den Zuchtstier und eine Kuh ein und versuchte, den widerspenstigen Viechern das Fuhrwerken beizubringen. Joch und Geschirr waren noch oben in der Remise geblieben vom Ersten Krieg.

1939. August, September, Oktober. Die Ernte war in vollem Gang. Oder eben nicht. Das Emd verfaulte draussen im Regen, die Kartoffeln warteten darauf, eingebracht zu werden. Das Mostobst sollte auf- und das Tafelobst abgelesen werden. Arbeit, wohin man schaute. Und zu wenig Hände, die zupacken konnten.

Wohl hatten die im Dorf einquartierten Truppen die Bauern und Knechte unter ihren Soldaten auf die Höfe zum Helfen abkommandiert. Aber im Eiholz fehlte der Meister. Dieser grub als Artillerie­kanonier hinter der Grenze Haubitzenstellungen aus, übte den Gewehrgriff, das Marschieren in Zweier-, Vierer- und Achterkolonne, das Zerlegen und Zusammenbauen der Waffen, das Schiessen. Aber auch das Faulenzen. Das war von allem beinahe das Schlimmste, denn er wusste von der Lücke, die er zu Hause hinterliess. Er ging fast drauf vor Sorge um Hof und Familie. Wer sollte jetzt dort das Zepter führen? Der gebrechliche, aber immer noch resolute Grossvater, der Karrer oder der Melker? Wohl jeder gegen jeden. Alles gehe drunter und drüber, hatte ihm Mutter geschrieben. Keiner pariere, keiner setze sich durch.

«D’Allmänd abhaue!»

«Domms Züg! Zerscht tömmer s’Chlöschterli ine!»

«Ich go met em Meieriesli zom Schtier!»

«Morn, hani gseit! Herrgottsakramänt!»

«Nei, hött sägi! Schtärne feufi nomol!»

«Ich be vor dier im Eiholz gsii.»

«Jetz losed emol.»

Klein, energisch, kaum dreissig Jahre alt, seit zwei Jahren erst auf dem Hof, stellte sich die Mutter zwischen die Riesen. Sie, die den grossen Haushalt zu führen hatte, musste zusätzlich auch noch zwischen drei oder vier Hitzköpfen schlichten.

Jetzt bestimmte sie die Richtung: «I d’Allmänd, ond zwar alli zäme. Klar? Oder hed no öpper e Frog?» Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte ihr Auftritt Erfolg.

Aber da waren auch ihre Ängste: Sie könnte ihrer neuen Aufgabe nicht gewachsen sein, der Krieg könnte auf das Land übergreifen, ihr Mann könnte umkommen. Da war Lisbeth, die einjährige Tochter, und da war ich, der Säugling und Stammhalter, der Vaters Namen trug und der sich nicht entscheiden konnte, ob er leben oder sterben wollte.

Mutter hätte zerbrechen können. Aber sie hatte es geschafft. Wir hatten es beide geschafft. Die Knechte nannten sie Meisterin.

1889, Vevey VD
Aline Valangin

Das Kind würde ein schöner Knabe werden, klug und rasch und in allem ganz anders als der Vater. Es würde ihr Freund werden und alles ersetzen, was sie in Brüche gehen sah. Ja, das Kind.

 

Fast ist sie daran gestorben. Der Mann hatte sich nicht die Mühe genommen, in seiner grossen Trägheit nachzudenken, dass die Geburt eine schwere schwere Stunde für die Frau ist. Die erste beste Hebamme wurde bestellt. Sie erschien betrunken. Die Geburt dauerte zwei Tage und drei Nächte, und die ganze Zeit über war die trinkende und ständig angeheiterte Frauensperson um meine Mutter als einzige Hülfe. Sie schrie, in grösserer seelischer Not noch als in körperlicher, obschon die physische Qual längst unerträglich war; sie schrie zum Himmel, er möge das Kind aus ihrem Leibe erlösen; sie schrie, sie brüllte, als die Schmerzen stiegen und unendlich sich ausdehnten, dass nichts als eine Hölle der Pein um sie war, das Kind möge unverletzt bleiben, es möge leben. Sie bäumte sich gegen die Schatten, die nach ihr griffen, gegen die Schwäche, die überhand nahm, und immer wieder schrie sie ihre Bitte um Erlösung. Langsam fing sie an, in Nacht zu tauchen. Seltsam war das. Sie wollte doch leben, aber etwas wollte nicht, dass sie lebe. Sie staunte. Müsste sie vielleicht sterben? Und ein Nein in ihr geschrien als Antwort. Und wieder beginnt der Kampf. Aber lahmer. Und wieder so eine Nacht und daraus eine Frage behalten: Wohl muss sie sterben? Oh, das schöne Leben. War es schön? Ja früher und jetzt … das Kind. Schrei um Schrei. Das Kind darf nicht sterben, auch nicht allein bleiben; also muss auch sie leben. Leben. Nicht dein Wille geschehe, nein, oh, bitte nein, nicht der deine. –

Und das Kind wurde geboren, mit ganz verschobenen Schädeldecken und einem Schopf braunen Haares. Es war ein braunes Mädchen. Ich.

1939, Zürich
Jeannot Bürgi

Ich war meinen leiblichen Eltern kein Wunschkind. Mit dieser Feststellung und Erkenntnis bin ich sicher nicht allein, kein Sonderfall. Trotzdem, eine Frage beschäftigte mich ein Leben lang: Warum hat mich meine Mutter ausgesetzt, in einer Kartonschachtel beim Müll am Strassenrand entsorgt? Ich dachte, ich sei schon längst darüber hinweg, es mache mir überhaupt nichts aus, darüber zu sprechen, nachzudenken. Jetzt entdecke ich, nachdem ich siebzig Jahre alt geworden bin und ein ganzes, reiches Leben hinter mir habe, dass es mir noch immer etwas ausmacht, dass da noch immer die Frage im Raum steht, dieses «Warum», auf das ich bis zum heutigen Tag keine Antwort gefunden habe.

Meine Erklärung ist einfach und auf der Hand liegend: Ich war ihr Last und Störung, ich passte nicht in ihr Leben, sie hatte sich das so nicht vorgestellt. Ein Gof, das fehlte gerade noch, damals Ende der dreissiger Jahre, mitten in Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, mit dem Krieg vor der Tür. Das Leben damals war schon allein schwer genug, ein Kind ein Esser mehr, eine Sorge dazu, ein Hindernis, Verantwortung und Kosten. Sie musste über die Runden kommen, Anschaffen hiess das in ihrem Fall, für sich und wahrscheinlich auch für ihren Zuhälter. Sicher war sie jung, leichtsinnig und oberflächlich, schliesslich war es ihr egal, was mit dem geschah, was sie da in die alte Schachtel stopfte. Abfall eben, den man los sein will.

1951, Basel
Urs Schaub

Fürs Erste, was ich tat, als ich auf die Welt kam, war ich zwar nicht verantwortlich, aber ich tat es gründlich: Ich enttäuschte meinen Vater.

Sein Herzenswunsch war eine Tochter. Sogar wie sie heissen sollte, war längst ausgemacht. Warum sich allerdings ausgerechnet jener Name in seiner Seele eingenistet hatte, war aus ihm nie herauszubringen gewesen. Hatte er ein Pin-up der nationalen Schönheit gesehen, deren internationale Filmkarriere kurz nach meiner Geburt begann? Wie auch immer: Aus traditionellen Gründen war ebenso klar, dass zwei Kinder genügen mussten, es also auch in Zukunft für den geliebten Namen keine Verwendung mehr geben würde. Basta und aus. Kurzerhand wurde der Name um seinen weiblichen Teil amputiert, und die übrig gebliebenen drei Buchstaben wurden zu meinem Namen. Ein hierzulande sehr verbreiteter Name, der im Ausland – zumindest in zwei von vier Himmelsrichtungen – nicht besonders gut auszusprechen war. Mir hätten die drei abgeschnittenen Buchstaben besser gefallen. Vor allem in meiner Indianerphase wären mir diese mythisch klingenden drei Buchstaben unbedingt willkommen gewesen.

1878, Trimmis GR
Paul Thürer

Ich wurde geboren am 17. Juli 1878 als erstes von vier Kindern des Bauers Georg Thürer, Bürger von Valzeina, wohnhaft in Trimmis, Kanton Graubünden und der Elisabeth Meng von Says, wohnhaft auf Valtana [Valtanna] und wurde in der evangelischen Kirche von Trimmis am 21. Juli von Pfarrer Paul Hitz getauft. Nach seiner Verheiratung wohnte mein Vater ein Jahr lang bei seinem Schwiegervater Johannes Meng-Engi auf Valtana. Er erkannte aber bald, dass er es hier nicht weit bringen würde und gab daher seinem Freunde und Geschwisterkind seiner Frau, Peter Florian Meng auf dem Hofe Plankis bei Chur den Auftrag, sich für ihn nach einem Bauerngut in der Nähe von Chur umzusehen. Dieser meldete ihm bald darauf, dass die Gaisweid [Geissweid] in der Nähe von Plankis käuflich sei. Das Gut wäre billig, allerdings in sehr schlechtem Zustande. Ein junger, tüchtiger Mann könnte aber etwas aus ihm machen. Mein Vater kaufte das Gut und zog am 8. Februar 1879 mit seiner Familie auf die Gaisweid. Die Schwester meines Vaters, Betti Thürer, trug mich kleinen Burschen mitten im Winter auf ihren starken Armen drei Stunden weit von Valtana bis auf die Gaisweid. Denn einen Kinderwagen besassen meine Eltern nicht und haben einen solchen überhaupt nie besessen. Man legte die Kinder zum Schlafen in die Wiege oder trug sie im Sommer in einer Zeine aufs Feld oder machte im Baumgarten aus einem Heutuch für sie eine Hängematte, der man einen Stoss gab, wenn sie zu schreien anfingen. Oft habe ich so als kleiner Knabe meine Schwester geschaukelt, wenn sie in der Matte oder in der Wiege lag.

1924, Schwyz
Martha Farner, *1903

Im Vorsommer 1924 – ein unvergleichlich schöner Tag. Die Fenster im Parterre weit geöffnet zum Hof hinaus, ich hörte ein dünnes Stimmchen, es weinte. Darauf eine tiefe Frauenstimme, die sagte «Nenäi, Chindli, die Stäinli tüend dier nid wee. Lueg d Vögäli hend au ekäni Schue und singid nu derzue!» Wie schön, dachte ich, aber schon läutete die Hausglocke. Ich öffnete. Vor mir stand eine Frau mit einem kleinen Kind kaum älter als drei Jahre. Tränen bahnten ihren Weg über das schmutzige Gesichtlein. Die Hand lag in der seiner Mutter. Die Frau war klein von Wuchs und von einer dürren Magerkeit. Braun gebrannt die Haut, lachte sie mir entgegen mit dunklen Augen und langen Wimpern. Mutter und Kind waren barfuss. Der Rockschurz hing an ihr wie an einem Kleiderbügel, obschon sie hochschwanger war. Auf den ersten Blick sah ich es: Diese Frau war eine Feckerin. «Guten Tag, Frau», sagte sie, «ich bitte um die Ehre als Patin für mein sechstes Kind.» Noch die schöne Antwort von den Vögelein ohne Schuh in den Ohren, gab ich sofort meine Zusage. Als ich später dies meiner Mutter erzählte, freudig natürlich, sagte sie lächelnd: «Du dummes Kind, diese Frau hätte viel lieber eine Absage mit einem Fünfliber entgegengenommen, diese Leute machen das so.»

Einige Tage später kam der, wie mir schien, glückliche Vater; er zeigte die Geburt eines gesunden Buben an. Die Taufe war in zwei Tagen. Es war damals der Brauch, dass die Patin eines Knaben alles für die Taufe organisiert und bezahlt, hingegen bei einem Mädchen musste der Pate alles berappen. Der Götti war ein gut beleumdeter Handwerker. Ich setzte mich sofort mit ihm in Verbindung, da ich meinte, es wäre besser, den Leuten das Geld zu geben, statt zu festen. Aber die Antwort kam sehr spontan und energisch: «Nüd isch, gschlotteret muess sii und de nu miteme Gutschli.» (Gschlotteret heisst Taufessen).

Der Götti holte mich mit einem Einspänner ab, und wir beide fuhren zusammen zur Kirche. Ich fand es furchtbar lustig, so durch das Dorf zu fahren. Vor der Kirchentür erwartete uns die Hebamme, dies war bei uns so der Brauch und für die Hebamme die Krönung nach der Arbeit einer «Vorgängerin». Dieses Wort wurde damals noch gebraucht für Hebamme, weil sie doch vor der Geburt nach der Schwangeren sehen musste. Diese Frau trug den Säugling in einem richtigen Bettfederkissen, die eine Ecke so fest eingedrückt, dass es wie ein Tragkissen aussah. Bald kam der Pfarrhelfer mit dem Sigrist; der «Herr» war zu meiner Schulzeit mein Religionslehrer, zum Teil gefürchtet, weil er den Kindern, die er nicht mochte (nicht etwa die nichts lernten), mit dem «Kanisi» (Katechismus) auf den Kopf hackte. An diesem Buch war eine Ecke extra verhärtet; auch ich spürte diesen Kanisihack. Dies war seine Originalstrafe, und am Ende nahm man ihm diese Strafe auch gar nicht so übel. Wer keinen Hack bekam, musste die Stunde durch auf dem Holzboden knien.

Unter der offenen Kirchentür wurde gebetet und gesegnet, denn das Kind, welches ja noch ein Heide war, wurde erst durch die Taufe zum Christen. All meinen Patenkindern gab ich den Namen Johann oder Johanna, weil meine Mutter sich so nannte. Der Götti und ich legten die Hände auf den Täufling, also auf das Heidenkind, derweilen der Pfarrhelfer seine lateinischen Gebete murmelte. Mitten im Gebet stockte er, schaute mich an und fragte: «Wie soll das Kind heissen?» – «Johann», sagte ich mit klarer Stimme, und der Herr fuhr weiter mit seinem lateinischen Murmeln. Ganz plötzlich und leise sagte er auf deutsch: «Da merkt me wider, wer Gotta isch», und weiter ging das Gebet. Anschliessend ging man zum schönen Taufstein der herrlichen Barockkirche in Schwyz. War das Kind getauft, musste die Patin mit dem Getauften in den Armen vor dem Marienaltar knien und ein Gebet verrichten, welches die Hebamme vorsagte. Das kleine Menschlein stank füchterlich. Erleichtert gab ich es der Hebamme zurück.

Hier stand während der Taufe niemand «z Ehrä», so waren auch wir allein beim Schlottern. «Z Ehrä staa» ist ein schöner Brauch, z. T. heute noch: Verwandte, Freunde und Bekannte stehen um den Taufstein herum, so quasi als Zeugen und Bewunderer des Täuflings. An der Taufe meiner jüngsten Schwester standen über 25 Personen rund um den Taufstein, welche man natürlich auch zum Schlottern eingeladen hat.

Niemals jedoch durfte die Mutter des Täuflings dabeisein.

In der Herrengasse dann wartete unser Gutschli. Wir wollten gerade abfahren, das Rössli zog an, da rief ich: «Nei au, halt, wir haben den Pfarrhelfer vergessen.» (Ich kannte die Bräuche anscheinend noch zuwenig.) Aber da kam schon der «Herr» mit fliegendem Chorhemd und vor sich hinschimpfend eiligen Schrittes auf uns zu. Böse schaute er mich an und sagte: «Ich ha dich meini idr Schuel nid gnuäg glehrt, ier wärid oni mich abgfahrä.» Aber im Gutschli beruhigte sich der Pfarrhelfer, und schliesslich verlief die «Schlotteretä» sehr friedlich. Dies war aber sonst gar nicht immer der Fall. Einmal stritten sich die Grossväter so sehr, dass man den Arzt rufen musste. Einmal trank die Hebamme ein bisschen über das Mass. Der Heimweg im Schnee war so mühselig, dass sie den Täufling verlor; er rutschte aus dem Kissen, und leider wurde dies erst im Bergheimen oben bemerkt. Als man ihn endlich gefunden hatte, war er bereits erfroren. Dem sagte man: «Er ist nun ein Engel im Himmel.» Einmal war ich an einer Beerdigung eines Kleinkindes, einziges, langersehntes Kind eines rechtschaffenen Bauernehepaars. Nach der Beerdigung stand die Frau am Ausgang des Friedhofs; bleich, starr und wie aus Stein gegossen, nahm sie die Gratulationen entgegen, weil sie nun eben einen Engel im Himmel hatte.

Später besuchte ich die Wöchnerin, die Mutter meines Täuflings, in ihrem «Verschlag»; ein Wohnwagen am Bach oder an einem See wäre weniger schlimm gewesen als dieses verlotterte Haus. Es war ja alles ein Jammer, aber helfen hätte man nur von Grund auf können.

Offenbar war der Göttibub doch kein gesunder Knabe; kaum drei Wochen nach der Taufe stand die Feckerfrau wieder vor meiner Tür. Sie sah aus wie ein «Maschgrad»: Auf dem kleinen Kopf baumelte ein riesiger Hut, der wohl einmal schwarz gewesen war. Die Frau war noch magerer, die Wangen eingefallen, und von ihren Schultern hing ein schwarzweisses Baumwolltuch, das den Boden berührte. Durch diese Kleidung gab sie ihre Trauer kund, denn sie sagte. «Frau, üüche Göttibueb isch tot. Wills Gott chönd ier übers Jahr wider Gottä sii.» Es war ein alter Brauch, dass man, wenn ein junges Patenkind starb, dem nächstfolgenden Kind denselben Götti gab.

Die Beerdigung war gleich anderntags; diese Leute hatten keinen Platz im Haus. Früh um sieben Uhr kam das Totenzüglein von Ibach heraufgezogen, dem Hauptplatz zu. Bei der Kirche stellten sich der Pfarrherr, Kreuz und Fahnenträger ein. Ich reihte mich am Schluss des Zuges ein. Noch lag eine morgendliche Stille über dem Dorf, nur das Totenglöcklein für Kinder schwang seine hellen Töne in die Landschaft hinaus. Ein prachtvoller Morgen, die Sonne stand neben dem Grossen Mythen, der noch kurz seine Schatten in den Wald hineinwarf. Es war ein Bild, als hätte Richter es gezeichnet: Der Götti, in schwarzem Kleid, trug das kleine, weisse Särglein unter dem Arm. Der Johann benötigte keinen Totenwagen. Nach dem Götti folgten die Grabbeterin und ein kleiner Zug von Begleitern, den Schluss machte ich. Der Pfarrhelfer und die Grabbeterin beteten den Rosenkranz vor, und alle Begleiter stimmten ein. Der Zufall wollte es, dass derselbe «Herr» die Beerdigung ausführte wie damals die Taufe des kleinen Johann. Die Grabbeterin winkte mir, sich rückwärts drehend, energisch zu, dann noch einmal, und alle Köpfe der Begleiter schauten ebenfalls zurück, immer wieder. Ich wusste kaum mehr was tun. Alles an meinen Kleidern war in Ordnung – so liess ich sie schauen und betete mit. Der Weg von der Kirche bis zum Friedhof hat seine gute Viertelstunde; man macht ihn unter stetigem Beten des Rosenkranzes. Aber in diesem Leichenzüglein hatte niemand die richtige Andacht. Immer wieder wurde nach mir geschaut, die Köpfe drehten sich, war ich doch am Ende des Zuges. Wiederum kontrollierte ich mich unbemerkt – alles war in Ordnung, Strümpfe, Rocksaum, Mantel –, doch schon traf mich ein böser Blick des Pfarrhelfers. Endlich standen wir vor dem schmiedeisernen Tor des Friedhofs, es war weiss Gott ein langer Gang unter diesen Blicken.

 

Bevor man in den Friedhof trat, wurde die Leiche im Sarg mit Weihwasser besprengt, gesegnet. Erst dann ging man zur Reihe der Kindergräber, wo eine schmale Grube in lehmiger Erde bereitstand. Niemand weinte. Auf dem nahen Kastanienbaum sang eine Amsel ihr Morgenlied. In Gedanken ging ich dem Friedhoftor zu, wo sich die Leute besammelten.

Laut den Rosenkranz betend, kam der Pfarrhelfer als letzter auf uns zu. «Heilige Maria, Muttergottes», pumps, hatte ich einen heftigen Ellbogenstoss an meinen Rippen. Zischend zwischen den Lippen, aber laut genug, sagte er: «Du dummä Lümmel du, d Gottä lauft doch z voruus.» So lief ich an der Spitze des Zügleins, hinter dem Kreuzträger und der Grabbeterin – und alle Betenden waren es zufrieden.