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Herausgegeben von Florian Huber

IM FREIEN FELD

Begegnungen mit Vögeln


Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur

Huber, Florian (Hg.): Im freien Feld. Begegnungen mit Vögeln / Florian Huber

Wien: Czernin Verlag 2020

ISBN: 978-3-7076-0694-2

© 2020 Czernin Verlags GmbH, Wien

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

ISBN Print: 978-3-7076-0694-2

ISBN E-Book: 978-3-7076-0695-9

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Stieglitz, eins mit mir | Ossip Mandelstam (1891–1938)

Am 23.9.1955 steige ich in Brest auf das Schiff | Olivier Messiaen (1908–1992)

… Sehen Sie den großen Nagel | Katherine Mansfield (1888–1923)

Der stumme Angler | Henry David Thoreau (1817–1862)

Strandläufer | Elizabeth Bishop (1911–1979)

Es war ein langer, sandiger Strand | Selma Lagerlöf (1858–1940)

An einem Sommerabend | August Strindberg (1849–1912)

Nachtigallen | Brigitte Kronauer (1940–2019)

Der Kakadu ist zwar ein Vogel | Sei Shōnagon (um 966–1025)

Es begann mit dem Ausbrüten | Bruno Schulz (1892–1942)

Kraniche landen in der Dämmerung | Richard Powers (*1957)

Wenn uns der poetische Wahnsinn packt | Henry David Thoreau (1817–1862)

Um Tiere anzulocken | Teresa Präauer (*1979)

Wenn wir alle uns verfügbaren Fäden zusammenziehen | Ambrose G. H. Pratt (1874–1944)

Der Blauhäher | D. H. Lawrence (1885–1930)

Was für Vögel waren das da? | James Joyce (1882–1941)

der turmfalk | Norbert Hummelt (*1962)

Liebe kleine Schwalbe | Robert Walser (1878–1956)

Im September waren die Vögel still | Annie Dillard (*1945)

Die Tage wurden länger | Esther Kinsky (*1956)

Alle Bestrebungen des Menschen | Henry David Thoreau (1817–1862)

Der Nebel hob sich | J. A. Baker (1926–1987)

Große Vögel mit stumpfen hakigen Schnäbeln | Theodor Lessing (1872–1933)

Fasan | Sylvia Plath (1932–1963)

Der Gesang der Lerchen | Philippe Jaccottet (*1925)

Der Gefangene | Laurence Sterne (1713–1768)

Der Staar | Laurence Sterne (1713–1768)

Der angrenzende Wald wimmelte | Henry David Thoreau (1817–1862)

In tausend Farben funkelnd | Micheil Dschawachischwili (1880–1937)

Johannes ging mit dem Lehrer durch den Weinberg | August Strindberg (1849–1912)

Die Reiher | Gertrud Kolmar (1894–1943)

30. Mai | Gerard Manley Hopkins (1844–1889)

Die Seidenschwänze | William Carpenter (*1940)

Das ist nicht der Weg | Peter Handke (*1942)

Der Frühlingssturm singt im Rauchfang | Konrad Lorenz (1903–1989)

Wenn ich wieder nach Baden zur Kur komme | Hermann Hesse (1877–1962)

Johannes befand sich einst auf Wanderschaft | August Strindberg (1849–1912)

sollte man Gelegenheit haben, gegen Ende April | Bodo Hell (*1943)

Ich bin entzückt, wenn ich im Hochsommer | Henry David Thoreau (1817–1862)

Eines Tages hatte ich mit meinen Hunden | Gerald Durrell (1925–1995)

Wir kamen vorwärts und passirten Punta Gorda | Charles Darwin (1809–1882)

Ich habe immer in der Nähe des Meers gelebt | Karl Ove Knausgård (*1968)

Der hohe bewaldete Hügel hinter meinem Garten | Lafcadio Hearn (1850–1904)

Manchmal wieder kehrte ich zurück zu dem Bild | Michael Donhauser (*1956)

Die kleine grüne Rohrdommel | Henry David Thoreau (1817–1862)

Wir können den Flug der Vögel nicht mehr so erleben | Vilém Flusser (1920–1991)

Wie ein Adler. | Ernst Herbeck (1920–1991)

Im Garten des Paradieses | Hans Christian Andersen (1805–1875)

Es gibt Leute | Peter Altenberg (1859–1919)

Je weiter wir nun uns gegen die höhern Organisationen bewegen | Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)

Man hört den angenehmsten Schall | Angelus Silesius (1624–1677)

Habt ihr nicht etwas in unserem Garten gehört | Adalbert Stifter (1805–1868)

Auch möcht’ ich dann eine Vergleichung der Blumen und Vögel | Justinus Kerner (1786–1862)

Wacholder | Marcel Beyer (*1965)

Es ist ein Wunder, wie es den Vögeln gelingt | Henry David Thoreau (1817–1862)

Den Fischreiher gibt es | Inger Christensen (1935–2009)

Nachbemerkung

Nachweise

Textanfänge

Ossip Mandelstam (1891–1938)

Stieglitz, eins mit mir, den Kopf nach hinten

Schaust du auf die Welt, ganz neu:

Ob er dir ins Auge schlägt, der Winter,

Gleich wie mir, so stachlig wie die Spreu?

Bötchengleicher Schwanz, die Federn: schwarz-und-gelbe,

Röte sich zum Schnabel gießt –

Weißt du denn, mein Stieglitz, du derselbe,

Wie sehr du Spiegel-Dandy bist?

Was für Luft da herrscht auf seinem Scheitel:

Schwarzer, roter, weißer Ort!

Wachsam schaut er aus nach beiden Seiten –

Schaut nur kurz. Flog fort.

Olivier Messiaen (1908–1992)

Am 23.9.1955 steige ich in Brest auf das Schiff Enez-Eusa (was »Ouessant« bedeutet), um auf die Insel Ouessant zu fahren. Dort werde ich den Seevögeln zuhören, auf Einladung von Robert-Daniel Etchécopar, einem berühmten Ornithologen, der mich begleitet und gleichzeitig die Beringung von Vögeln vornehmen wird.

 

Das Meer ist schön: marineblau, nattierblau, preußischblau mit Silber- und Goldschimmern. Das Meer wird vom Kielwasser des Schiffes aufgefaltet, runzelig gemacht. Weißer Schaum bleibt zurück, und hohe Wellen werden emporgehoben: Hügel, die zu Tälern werden, zu Hügel verwandelte Täler in einem unaufhörlichen Wechsel.

Die Sonne zeichnet Achter-Spuren in das Blau des Meeres mit blassen grünlichen bis blau-grünen Zirkeln in der Mitte. Klippen, steile Felswände, von niedrigem, dunkelgrünem Bewuchs bedeckt mit einigen ziegelroten Flecken an ihrem Fuß.

Jetzt wechselt das Meer zu einem Silberblau in seinen erleuchteten Flächen, zu einem Schwarzgrün in seinen dunklen.

Auf dem Schiffsdeck bin ich hin- und hergerissen zwischen dem Notieren der Wellen – Bündel von Meereswasser, die gegen große Felsen zersplittern, die selbst, moos- und tangbewachsen, zerklüftet sind – und der Beobachtung der Vögel mit dem Fernglas, auf die mich Herr Etchécopar hinweist und deren Schreie ich ebenfalls notiere … Eine Symphonie aus unerhörten Klangfarben: Austernfischer, Großer Brachvogel, Brandseeschwalbe, Zwergseeschwalbe, Rosenseeschwalbe, Basstölpel, Krähenscharbe, Mantelmöwe, Silbermöwe, Sturmmöwe, Trottellumme, Möwen, Flussuferläufer, Rotschenkel, Trauerseeschwalbe, Steinwälzer, Flussregenpfeifer, Papageitaucher usw. usw.

Alle diese Vögel fliegen über dem Wasser, dem Schiff, den Küstenfelsen, die von wütenden Wellen geohrfeigt werden, die sich wie in einem Ansturm auf Säulen, Treppen, Backenzähne, Kopfformen von Hunden, Löwen, Adlern oder erschreckenden vorgeschichtlichen Ungeheuern werfen.

Ich muss gegen den Lärm der Fluten, gegen das mein Notenpapier benässende Salzwasser, gegen den Wind ankämpfen, der mir mein Fernglas, meinen Regenmantel, meine Tasche entreißt, als ich diese so wertvollen und neuartigen Rufe und Gesänge notiere … Es ist kein einfaches Unterfangen. Ich habe auch mit der Seekrankheit (die Reise dauert mehr als eine Stunde) und der Angst zu kämpfen, denn das Schiff muss gefährliche Riffe vermeiden, die es zerschmettern könnten, wenn der Wind es gegen sie schleudern würde …

Also Angst, Lärm, Sturm … Aber auch die unermessliche Freude, endlich alle diese Seevögel zu hören, von denen ich seit so langer Zeit träume! Ich kann nicht ausführlich über alle diese Vögel sprechen, weil so viele Spezies am Ozean und an den Meeresküsten leben, dass man ein ganzes Buch schreiben müsste …

Katherine Mansfield (1888–1923)

… Sehen Sie den großen Nagel rechts von der Haustür? Selbst jetzt noch mag ich kaum hinschauen, und doch bring’ ich’s nicht über mich, ihn rauszuziehen! Ich möchte gern denken, daß er immer dort bliebe, auch wenn ich nicht mehr da bin. Manchmal hör ich, wie die Leute, die nach mir hier wohnen, zueinander sagen: »Dort muß mal ein Käfig gehangen haben!« Und das tröstet mich; dann denke ich, er ist nicht ganz vergessen.

… Sie können sich nicht vorstellen, wie wunderschön er sang! Gar nicht wie andere Kanarienvögel. Und das bilde ich mir nicht etwa bloß ein. Vom Fenster aus habe ich oft gesehen, wie die Leute an der Gartenpforte stehenblieben, um ihm zuzuhören, oder wie sie sich beim Jasmin über den Zaun lehnten und eine ganze Zeitlang zuhörten, so hingerissen waren sie. Wahrscheinlich kommt es Ihnen verrückt vor – aber nicht, wenn Sie ihn gehört hätten –, doch mir schien es wirklich immer, daß er ganze Lieder sang – mit einem Anfang und einem Ende.

Wenn ich zum Beispiel am Nachmittag mit meiner Hausarbeit fertig war und eine andre Bluse angezogen hatte und meine Näharbeit hier auf die Veranda brachte, dann hüpfte er immer hopp-hopp-hopp von einer Stange auf die andre, klopfte gegen die Gitterstäbe, wie um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, nippte einen Schluck Wasser wie jeder Sänger und stimmte dann ein so herrliches Lied an, daß ich die Nadel sinken lassen mußte, um ihm zuzuhören. Ich kann’s nicht beschreiben – ich wollte, ich könnt’s. Dabei ging’s jeden Nachmittag so, und immer war mir, als hätte ich jeden Ton verstanden.

… Ich habe ihn geliebt! Und wie ich ihn geliebt habe! Vielleicht kommt es nicht so sehr darauf an, was man in dieser Welt liebt. Aber etwas lieben muß man. Natürlich hatte ich immer mein kleines Haus und den Garten, aber aus irgendeinem Grund genügte mir das nicht. Blumen haben ihre eigene, wundervolle Sprache, aber Mitgefühl kennen sie nicht.

Den Abendstern – den hab’ ich geliebt. Klingt Ihnen das töricht? Nach Sonnenuntergang bin ich immer in den Hof gegangen und hab’ auf ihn gewartet, bis er über dem dunklen Eukalyptus aufgegangen ist. Dann hab’ ich geflüstert: »Da bist du also, mein Guter!« Und genau in jenem ersten Moment schien er für mich allein zu leuchten. Er schien zu verstehen, was mich bewegte – etwas, was wie Sehnsucht und doch keine Sehnsucht war. Vielleicht Trauer – ja, eher wie Trauer. Aber weshalb denn Trauer? Es gibt vieles in meinem Leben, wofür ich dankbar sein muß.

… Doch nachdem er in mein Leben gekommen war, vergaß ich den Abendstern. Ich brauchte ihn nicht mehr. Aber es war sonderbar. Als der Chinese, der immer an die Tür kommt und Vögel verkaufen will, ihn in seinem kleinen Käfig hochhielt, flatterte er nicht ängstlich herum, wie die armen kleinen Stieglitze, sondern er piepste nur einmal ganz leise, und ich – genau wie ich’s dem Stern über dem Eukalyptus immer zugeflüstert hatte – sagte: »Da bist du also, mein Guter!« Von dem Augenblick an war er mein.

… Selbst jetzt in der Erinnerung wundert es mich, wie er und ich miteinander lebten. Sowie ich frühmorgens nach unten kam und das Tuch von seinem Käfig zog, begrüßte er mich mit einem schläfrigen kleinen Ton. Ich wußte, er meinte: ›Missie! Missie!‹ Dann hängte ich seinen Käfig draußen an den Nagel und machte für meine drei jungen Burschen das Frühstück zurecht, und ich holte ihn erst wieder herein, wenn wir das Haus ganz für uns allein hatten. Nachdem ich das Geschirr abgewaschen hatte, begann eine richtige kleine Vorstellung. Ich breitete auf der einen Tischecke eine Zeitung aus, und sowie ich den Käfig draufstellte, schlug er wie ein Verzweifelter mit den Flügeln, als wüßte er nicht, was käme. »Du bist ein richtiger kleiner Komödiant!« schalt ich dann. Ich schrubbte den Einsatz, streute frischen Sand drüber, füllte sein Körner- und Futternäpfchen und klemmte etwas Vogelmiere und eine halbe Paprikaschote zwischen die Stäbe. Und ich bin ganz sicher, daß er jede Einzelheit dieser kleinen Prozedur begriff und schätzte. Er war nämlich von Natur überaus reinlich. Nie hat er seine Stange bekleckert. Und man mußte nur sehen, wie er sein Bad genoß – dann wußte man sofort, daß er einen geradezu leidenschaftlichen Sauberkeitsfimmel hatte. Sein Bädchen kam immer zuletzt hinein. Und kaum hing es drin, da stürzte er sich förmlich hinein. Zuerst spreizte er den einen Flügel, dann den andern, dann tauchte er den Kopf ein und besprengte seine Brustfedern. Er hatte die ganze Küche voll Wassertropfen gespritzt, aber er wollte noch immer nicht heraus. Meistens sagte ich zu ihm: »Das genügt jetzt wirklich – du spielst dich nur auf!« Und endlich hüpfte er heraus, und auf einem Bein stehend, begann er sich trocken zu zupfen. Schließlich schüttelte er sich noch einmal, wippte und piepste und reckte die Kehle – oh, ich kann’s kaum ertragen, daran zu denken. Es war immer die Zeit, in der ich die Messer putzte, und es schien mir fast, als sängen auch die Messer, wenn ich sie auf dem Brett blank rieb.

… Gesellschaft, verstehen Sie – das bedeutete er für mich. Eine einzigartige Gesellschaft! Wenn Sie allein gelebt haben, werden Sie einsehen, wie kostbar so etwas ist. Ich hatte natürlich meine drei jungen Burschen, die abends zum Essen kamen, und manchmal blieben sie hinterher im Eßzimmer und lasen die Zeitung. Aber ich konnte nicht von ihnen erwarten, daß sie sich für die hunderterlei Kleinigkeiten interessierten, die zu meinem Alltag gehörten. Warum auch? Ich bedeutete ihnen ja nichts. Eines Abends hörte ich sogar, wie sie auf der Treppe von mir als der ›Vogelscheuche‹ sprachen. Macht nichts. Es machte mir nichts aus. Nicht ein bißchen. Ich versteh’s gut. Sie sind jung. Warum sollte ich’s übelnehmen? Aber ich erinnere mich, daß ich an jenem Abend besonders dankbar war, nicht ganz allein zu sein. Nachdem sie weggegangen waren, hab’ ich’s ihm erzählt. Hab’ zu ihm gesagt: »Weißt du, wie sie deine Missie nennen?« Und er hat seinen Kopf auf die Seite gelegt und mich mit seinen glänzenden Äuglein angeschaut, bis ich lachen mußte. Ihm schien es Spaß zu machen.

… Haben Sie sich je Vögel gehalten? Wenn nicht, dann muß Ihnen das alles vielleicht übertrieben vorkommen. Die Leute glauben immer, Vögel seien herzlos und kalt – nicht wie Hunde und Katzen. Meine Waschfrau, wenn die montags kam, wunderte sich, weshalb ich mir keinen ›netten Foxterrier‹ hielte, und sagte: »Ein Kanarienvogel kann einen doch nicht trösten, Miss!« Stimmt nicht. Stimmt überhaupt nicht! Ich kann mich an eine Nacht erinnern: ich hatte einen furchtbaren Traum gehabt – Träume können schrecklich grausam sein –, und noch, nachdem ich wach war, konnte ich ihn nicht abschütteln. Daher zog ich mir meinen Morgenrock über und bin in die Küche hinunter, ein Glas Wasser trinken. Es war eine Winternacht. und es regnete sehr. Vermutlich war ich noch halb im Schlaf, denn mir schien es, daß durchs Küchenfenster – es hatte keine Stores – die Finsternis hereinspähte und spionierte. Da fand ich es auf einmal unerträglich, daß ich niemanden hatte, dem ich hätte sagen können: »Mir hat was Furchtbares geträumt!« oder »Steh mir bei vor der Finsternis!« Eine Minute hab’ ich sogar die Hände vors Gesicht geschlagen. Und plötzlich hör’ ich ein kleines ›Piep! Piep!‹ Sein Käfig stand auf dem Tisch, und das Tuch war ein bißchen verrutscht, so daß ein Lichtspalt in den Käfig fiel. ›Piep! Piep!‹ sagte das liebe Kerlchen noch mal ganz leise, als wollt’s mir sagen: ›Ich bin hier, Missie! Ich bin hier!‹ Und das hat mich so wunderbar getröstet, daß ich beinah geweint hätte.

… Und jetzt ist er nicht mehr da. Nie wieder will ich mir einen Vogel halten, auch kein andres Tier. Wie könnte ich wohl? Als ich ihn fand, wie er mit matten Augen und verkrampften Krällchen auf dem Rücken lag, und als ich begriff, daß mein kleiner Liebling nie wieder für mich singen würde, da war mir, als würde etwas in mir sterben. Mein Herz war ausgeleert, leer wie sein Käfig. Ich werd’s verwinden. Natürlich. Ich muß ja. Mit der Zeit kann man alles verwinden. Und die Leute sagen immer, ich hätť eine fröhliche Gemütsart. Da haben sie ganz recht. Dafür bin ich Gott dankbar.

… Immerhin, auch ohne krankhaftes Grübeln und Nichtloskommen von – von Erinnerungen und dergleichen muß ich doch gestehen, daß das Leben was Trauriges zu haben scheint, finde ich. Es ist schwer zu sagen, was es eigentlich ist. Ich meine nicht den Kummer, den wir alle kennen: Krankheit und Armut und Sterben. Nein, es ist etwas anderes. Es ist da – tief innen ist es, ein Teil von einem selber – wie der eigene Atem. Und wenn ich mich noch so sehr abrackere und plage – sowie ich aufhöre mit der Arbeit, weiß ich, daß es da ist und wartet. Ich frage mich oft, ob alle Menschen das spüren. Man weiß ja nie. Aber ist es nicht seltsam, daß in all seinen fröhlichen kleinen Liedern es gerade das war – diese Trauer – oder was sonst –, was ich gehört habe?

Henry David Thoreau (1817–1862)

Der stumme Angler, stehende Gestalt, förmlich dazu geschaffen, in Wolken und Schnee gehüllt zu werden. Sein Umriss in eine abgelegene Bucht gestellt.

Wir laufen nun Schlittschuh nahe dem Ort, wo der Starling, der Königsvogel, der Tyrannvogel ihre Nester über dem Wasser bauten – und dort hängen sie noch leer. Wir können uns auf diesen Wiesen den vom Ahornbaum hängenden Hornissennestern nähern. Im Winter ist die Natur ein Kuriositätenkabinett. Sie ist voll getrockneter Exemplare in ihrer natürlichen Ordnung und Haltung – Die Wiesen und Wälder sind überall ein hortus siccus.

Die Blätter und das Gras sind durch die Winterluft perfekt gepresst, ohne durch Bänder oder Gummi arabicum befestigt zu sein. Die Vogelnester hängen nicht an einem künstlichen Haken, sondern dort, wo der Erbauer sie anbrachte.

Wir gehen umher, um die Arbeit des Sommers zu sichten. Seht den Wuchs der Erlen, Weiden und Ahornbäume – die von so vielen warmen Sonnenläufen und befruchtendem Tau und Regen zeugen. Und jetzt ruhen sie – Seht, welche Fortschritte sie machten im üppig gedeihenden Sommer – und bald wird eine dieser schlummernden Knospen den Zweig um eine weitere Spanne aufwärts in die weglose Luft treiben – In diesem hohlen Baum zog die Brautente ihre Brut auf – und glitt jeden Tag davon, um im Röhricht jenes Fenns dort Nahrung zu suchen.

 

Wo wir jetzt über glattes Eis gleiten, »wetzte jüngst der Mäher seine Sichel«. In jener Astgabel der Weide hängt das Nest des Gelbkehlchens.

Wie viele fröhliche Sänger, die jetzt der Sonne folgen, sind von diesem Nest aus Weißbirkenrinde und Disteldaunen überallhin geflogen – am Rand der Sümpfe hängen diese verlassenen Städte, die im Sommer kein Fuß betrat – diese über Wasser hängenden Dörfer …

Elizabeth Bishop (1911–1979)

Strandläufer

Das Dröhnen neben sich nimmt er hin,

und dass die Welt ab und zu bebt.

Er läuft, läuft nach Süden, pingelig, ungeschickt,

in kontrollierter Panik, ein Student von Blake.

Der Strand zischt wie Fett. Links von ihm fließt

eine trennende Wasserschicht ein und zurück

und glasiert seine dunklen, zerbrechlichen Füße.

Er läuft, läuft grad hindurch, seine Zehen im Blick.

– Betrachtet, genauer, den Sand dazwischen,

auf dem sich (nichts ist zu klein) der Atlantik

rasend zurückzieht und in die Tiefe.

Im Laufen starrt er auf die ziehenden Partikel.

Die Welt ist ein Nebel. Und dann ist sie

mikrofein, riesig und klar. Die Flut

steht höher oder tiefer. Er könnte nicht sagen, wie.

Den Schnabel in Anschlag: Er sucht

gedankenverloren etwas, etwas, etwas.

Armes Ding, er ist besessen!

Millionen Körner, grau, hellbraun, weiß und schwarz,

vermischt mit Quarzkristallen, rosé und violett.