HUNDE JA-HR-BUCH ZWEI

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
HUNDE JA-HR-BUCH ZWEI
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


Geschichten von Hunden und ihren Menschen


Inhalt

Cover

Titel

Für alle Hunde, wo auch immer ihr seid

Begegnung

Bibi Bellinda

Die Alte und der Hund

Berta Berger

Fliegende Hunde

Heinz Bohn

Das kleine rote Halsband

Petra Braig

Der elektrische Hund

Kerstin Brose

Der große Bruch bei Fleischer Krause

Lars Buchmann

Axel von der Tankstelle

Barbara Burkert

Chico

Ute Dissemond

Queen Mum

Andrea Feder

Falsches Spiel

Ines Heckmann

Seelenverwandtschaft

Petra Herrmann

Die Kannibalin

Stania Jepsen

Italien

John Kraft

Ein wenig Reichtum

Simone Kunde

Ich und der Neue

Stefanie Lasthaus

Zotti

Margareth Matzneller

Hund und Esel

Hans-Jürgen Mülln

Keiner wird vergessen

Karin Oehl

Ich wünsch mir was

Elke Parker

Gina drückt

Michael Pick

Die Läuferin

Roman Schaupp

Haare auf den Zähnen

Barbara Schilling

Vom Nobody in Valencia zum Katalonischen Zwergwolf im Rheinland

Jürgen Streich

Wie die Dalmatiner zu ihren Tupfen kamen

Evi Weidlich

Die Autorinnen und Autoren

Die Reihe HUNDE JAHRBUCH (Anthologie)

Impressum

Fußnote

Für alle Hunde, wo auch immer ihr seid …

Ein wenig Barmherzigkeit,

eine Prise Gnade,

ein Schuss Liebe,

ein bisschen Verständnis,

ein Löffelchen Güte,

ein Quäntchen Mitgefühl,

ein Hauch Zärtlichkeit,

ein Fingerhut Friede,

ein Häubchen Sanftmut.

Alles gut verrühren und fertig ist das Rezept,

das diese Welt etwas erträglicher macht.

Nach einer Idee von John David Kraft


Begegnung
Bibi Bellinda

Vielleicht sollte ich eines vorausschicken: Ja, ich habe Angst vor Hunden. Immer wieder werde ich gefragt, an welchem Vorfall das liege, aber es sind eher kleinere Begebenheiten, aus denen ich gelernt habe, wie unberechenbar, unfolgsam und ungestüm Hunde sein können.

Auf einem Wanderweg traf ich vor einigen Wochen mehrmals einen Mann mit einem Hund, der jung, aufgeweckt und kräftig war und offensichtlich gerade abgerichtet wurde. Jedes Mal, wenn ich den beiden begegnete, befahl der Mann seinem Hund, sich neben ihn zu setzen und zu warten, bis ich vorbeigegangen war. Da sich der Hund an der Leine befand, beobachtete ich das Geschehen mit Interesse, nicht mit Angst. Eines Tages begegneten mir die beiden wieder. Der Hund war direkt neben dem Mann, diesmal aber nicht an der Leine. Nachdem der Mann mich gesehen hatte, blieb er stehen und befahl seinem Hund wieder, sich zu setzen. Aber in dem Moment, als ich an den beiden vorbeiging, war der Hund nahe daran auszubrechen. Ein weiteres Kommando seines Besitzers und mein scharfes „Nein!“ hielten ihn davon ab. Adrenalin durchströmte meinen Körper, aber ich bemühte mich, möglichst gleichmäßig weiterzugehen. Nach ein paar Schritten drehte ich mich um und traf den Blick des Mannes. Ob er die Gefahr dieser Situation genauso wie ich erlebt hatte?

„Hier herrscht Maulkorb– oder Leinenpflicht“, ermahnte ich ihn.

„Er kann noch nicht lesen“, antwortete der Mann scherzend.

„Aber Sie hoffentlich!“

Mir war wirklich nicht zum Lachen zumute. Mit um Mitgefühl ersuchendem Stirnrunzeln und entschuldigender Miene entgegnete der Mann: „Aber irgendwo muss er ja laufen.“

Ich hatte mich mittlerweile weit genug vom Ort des Geschehens entfernt, um Mut zu fassen und Verständnis für meine Situation zu fordern: „Ich habe Angst vor Hunden und …“ Mit fast schon tränenerstickter Stimme führte ich meinen Satz zu Ende: „Sie schränken meine Freiheit ein.“

„Wieso?“ Er sah mich fragend an und wirkte dabei eigentlich sympathisch und intelligent. Ich war davon überzeugt, dass er sich auf seine Frage selbst eine Antwort geben konnte. Außerdem hätte ich es nicht mehr geschafft weiterzusprechen, ohne loszuheulen. Wortlos drehte ich mich um und setzte meinen Spaziergang fort, fast mit Genugtuung, auf jeden Fall aber zufrieden mit mir, richtig gehandelt zu haben. Ich war nicht auf Konfrontation gegangen, hatte den Mann nicht beschimpft, sondern versucht, Verständnis für meine Situation zu wecken.

Die nächsten Tage mied ich diesen Wanderweg, zu tief steckte die Angst in meinen Knochen. Aber schließlich ging ich wieder dort entlang und der Zufall wollte es, dass ich dem Mann und seinem Hund erneut begegnete. Alle meine Muskelfasern spannten sich an, während ich versuchte, möglichst konstant und unauffällig weiterzugehen. Wieder befahl der Mann seinem Hund, sich zu setzen, und – zu meiner großen Überraschung – nahm er den Hund daraufhin sofort an die Leine.

„Danke!“

Erleichtert schenkte ich dem Mann ein vorsichtiges Lächeln.

„Gerne“, antwortete er und fügte hinzu, „es tut mir leid. Ich weiß, was Sie letztens gemeint haben.“

Solch einfühlsame Worte hatte ich nicht erwartet. Sofort schossen mir Tränen in die Augen.

„Danke“, sagte ich nochmals und wandte im Weitergehen beschämt mein Gesicht ab, weil ich spürte, wie eine Träne meine Wange entlanglief. Diesmal drehte ich mich nicht mehr nach dem Mann und seinem Hund um. Ein paar Tage später wiederholte sich diese Situation. Der Hund musste sich setzen und wurde angeleint. Ich fühlte mich bei dieser Begegnung schon um einiges wohler, grüßte erfreut und bedankte mich.

„Entschuldigen Sie“, sagte der Mann, „darf ich Ihnen etwas geben, ohne dass Sie auf mich böse sind?“

Ich blieb überrascht stehen und nickte. Aus seiner Jackentasche zog der Mann ein Buch und reichte es mir. Sein Hund folgte jeder seiner Bewegungen mit dem Kopf. „Die Sprache der Hunde“ lautete der Titel des Buches. Ich musste lachen.

„Nicht böse sein, okay?“, wiederholte der Mann.

„Nein“, erwiderte ich. Mehr brachte ich nicht heraus und schaute auf das Hundefoto auf dem Cover des Buches.

„Einen schönen Tag noch“, wünschte mir der Mann und lächelte mich an, als ich wieder aufblickte. Dann drehte er sich um und ging, den Hund weiterhin an der Leine führend.

Während ich meinen Weg fortsetzte, schlug ich das Buch auf und las die handgeschriebenen Zeilen auf dem ersten Blatt: Ich heiße Joy und bin erst drei Monate alt. Es gibt noch so vieles für mich zu entdecken, zu beschnuppern und zu lernen. Ich freue mich darauf. Darunter stand: Dirk für Joy und in Klammern eine Telefonnummer. Ich drehte mich um, aber die beiden waren nicht mehr zu sehen.

Abends las ich einige Seiten in dem Hundebuch, interessiert, aber doch unkonzentriert, weil ich mich immer wieder fragte, ob und wann ich diese Telefonnummer anrufen sollte. Dann gab ich mir einen Ruck und wählte.

 

„Dirk, hallo?“, meldete er sich.

„Hier ist Bibi. Ich möchte mich noch einmal für das sehr interessante Buch bedanken. Und auch für die lieben persönlichen Zeilen.“

„Gern geschehen.“ Seine Stimme war weich und sympathisch.

Bei unserem nächsten Treffen am Wanderweg begrüßten wir einander erfreut und Dirk fragte: „Dürfen wir dich beschnuppern?“ Ich musste lachen. Dirk nahm meine Hand und führte sie langsam zur Schnauze seines Hundes. Joy schnüffelte zuerst an Dirks Hand, dann an meiner. Ich fühlte ein feuchtes Stupsen an meinem Handrücken und zuckte. Mit seinen Fingern streichelte Dirk beruhigend meine Hand.

„Schau mich an“, forderte er mich auf. In seinem ermutigenden Blick fühlte ich mich geborgen und zuckte beim nächsten Stupser der feuchten Hundeschnauze schon nicht mehr. Dann fühlte ich plötzlich eine warme, nasse Hundezunge an meinen Fingern.

„Ich glaube, er schleckt mich ab“, sagte ich aufgeregt.

„Ich weiß. Mich auch. Keine Angst.“ Dirk drückte meine Hand kurz. Joy winselte. „Magst du ihn streicheln?“, fragte er. Ich zögerte. „Okay, ein andermal“, entschied Dirk, „dürfen wir dich begleiten?“

Zu dritt gingen wir den Weg hinauf, Joy, Dirk und ich. In einer Hand hielt Dirk die Hundeleine, an der anderen mich.

Die Alte und der Hund
Berta Berger

Einst lebte eine alte Frau. Sie war schon ein wenig wunderlich, denn das hohe Alter machte sich bereits bemerkbar. Auch lebte sie allein und hatte niemanden, mit dem sie reden konnte, sodass sie tagaus, tagein Selbstgespräche führte. Die anderen Menschen im Dorf schüttelten die Köpfe über sie, wenn sie aus ihrer Hütte kam.

Eines Morgens wollte die Alte ein paar Eier kaufen. Dazu musste sie quer über den Marktplatz gehen. Die Kinder, die am Platz spielten, stoben davon, denn die Frau war ihnen unheimlich. Es wurden schließlich immer wieder Schauermärchen über sie erzählt.

Nur zwei ganz Mutige schlichen ihr nach und tuschelten über die alte Frau.

„Die sieht wie eine richtige Hexe aus“, sagte einer.

„Wenn sie tatsächlich eine Hexe ist, wo hat sie dann ihren Besen? Warum geht sie zu Fuß?“, gab der andere zu bedenken.

„Das weiß ich nicht! So genau kenne ich mich mit Hexen nicht aus.“

Die Kinder schauten der Frau nach, als sie in einem Hauseingang verschwand.

Der Besserwisser meinte: „Hexen reiten auf Besen und können Milch sauer werden lassen. Außerdem haben sie immer eine Katze, denn die ist ihr Helfershelfer. Hat die Alte eine? Dann wüssten wir, ob sie eine Hexe ist.“

Der andere sagte: „Ich habe noch nie eine Katze in ihrer Nähe gesehen, aber das heißt nichts. Schließlich waren wir ja noch nie bei ihr in der Hütte!“

Da überlegten die beiden eine Weile, wie sie den Beweis antreten könnten, dass die alte Frau eine echte Hexe sei.

„Ich hab es! Unser Hund hat Junge bekommen. Wir haben schon alle hergegeben, nur einen wollte keiner haben, denn er ist hässlich und hinkt. Mein Vater hat gesagt: ‚Der Hund muss weg, denn er ist zu nichts nutze und frisst zu viel.’ Aber Hunde sind der Katzen Feind. Wenn wir ihn in die Hütte der Alten bringen, während sie nicht da ist, würde er die Katze, falls es eine gibt, aus ihrem Versteck treiben. So hätten wir Gewissheit.“

Der andere staunte über den Einfallsreichtum seines Freundes und sie beschlossen, ihre Idee noch am selben Tag in die Tat umzusetzen. Also holte der eine Junge seinen Hund und dann strichen die beiden Lausbuben den restlichen Tag um den Dorfplatz, immer in der Nähe der Hütte der alten Frau, um ja keine günstige Gelegenheit zu versäumen. Erst gegen Abend, als es schon kühler wurde, kam die alte Frau wieder aus ihrem Häuschen. Sie hatte einen struppigen Reisigbesen in der Hand, weil sie vor ihrem Haus den Gehsteig fegen wollte.

Da stieß der eine Junge den anderen an. „Na siehst du, sie hat doch einen Besen!“

„Ja, aber so einen hat meine Mutter auch. Nein, nein! Wir werden ihr den Hund in die Hütte bringen. Dann wissen wir es sicher.“ Wie immer murmelte die Frau vor sich hin und führte Selbstgespräche.

„Hör! Sie flüstert Zaubersprüche“, sagte der eine Bub verängstigt.

Sein Gefährte aber meinte: „Warum passiert dann nichts? Nein, nein, der Hund liefert uns den letzten Beweis.“

Die alte Frau war so ins Fegen vertieft, dass sie ihre Hütte immer weiter verließ, bis sie schließlich ganz außer Sichtweite geriet. Diese Gelegenheit nutzen die zwei Buben. Blitzschnell sausten sie hinter dem Brunnen hervor, hinter dem sie sich versteckt hatten, liefen über den Platz und öffneten die Haustür der Alten. Drinnen war es schummrig und sie konnten nicht viel sehen. Doch die Behausung einer Hexe hatten sie sich anders vorgestellt.

„Ich lass jetzt den Hund los!“, meinte der eine Knabe.

Der Welpe war neugierig. Er fing an, an jedem Gegenstand zu schnuppern.

„Glaubst du, er hat die Fährte von der Katze aufgenommen?“, fragte der andere.

„Weiß nicht! Aber wir müssen auf der Stelle fort. Wenn die Alte uns hier findet, geht es uns schlecht, egal ob sie eine Hexe ist oder nicht. Unsere Eltern dürfen nicht erfahren, dass wir unerlaubt in ein fremdes Haus eingedrungen sind, sonst gibt es eine Tracht Prügel!“

So liefen die zwei Buben hinaus und versteckten sich erneut hinter dem Brunnen. Von dort hatten sie eine gute Sicht auf die Tür des Häuschens.

Da kam auch schon die alte Frau mit schlurfenden Schritten zurück. Die zwei erwarteten jeden Augenblick, dass eine Katze aus der Tür stürmen würde, gejagt von dem Hund, doch als die Frau die Haustür öffnete, geschah nichts.

Von Ungewissheit getrieben schlug einer der beiden vor: „Komm! Wir schauen durchs Fenster!“

Vorsichtig schlichen sie sich ans Haus und stellten sich auf die Zehenspitzen, um hineinzusehen. Dort saß die alte Frau in einem Schaukelstuhl. Der Hund hatte sich auf ihrem Schoß zusammengerollt. Sie streichelte sein weiches Fell und sprach zu ihm. Beide sahen glücklich und zufrieden aus.

„Du, ich glaube, das ist doch keine Hexe! Bloß eine alte Frau, die einen Freund gefunden hat!“

Danach sah man die Alte nie mehr ohne den Hund. Sie redete auch nicht mehr mit sich selbst, sondern mit dem Tier. Und die Kinder hätten schwören können, dass die Alte sie seither immer anlächelte, so als wollte sie „Danke!“ sagen.


Fliegende Hunde
Heinz Bohn

Heiß, unerträglich heiß und drückend ist es. Seit gut zweieinhalb Stunden hänge ich in diesem Stau. Ich bin auf dem Heimweg von meiner Ausbildungsstaffel, auf der Autobahn Richtung Norden, zwischen Münster und Osnabrück. Trotz heruntergekurbelter Seitenscheiben ist es in meinem alten Daimler kaum noch auszuhalten. In der letzten Stunde bin ich gerade mal hundert Meter gefahren. Auf der Rückbank hechelt Arry, mein zwei Jahre alter Deutscher Schäferhund, gequält vor sich hin. Ein langer und harter Tag liegt hinter uns: Heute Morgen mussten wir dreihundert Kilometer von zu Hause zu unserer Ausbildungsstaffel in ein anderes Bundesland fahren, dann von neun Uhr bis zum Mittag ein „Intensiv-Training“ absolvieren, wie Max, unser Ausbilder, die schweißtreibenden Übungen nennt. Diese bestanden aus einigen Anzeigen des Hundes an einer Betonröhre – dabei muss der Hund seinen Fund verbellen –, dann sollte er das Gleiche sechs– bis achtmal hintereinander an einer freiliegenden Person ausführen, damit er den Ablauf „im Schlaf“ kann.* Danach ging es auf die Trainingsgeräte: Wippe, Rollen oder Fassbrücke, Zweimetergerüst, Kriechtunnel, Leiter waagerecht, Leiter senkrecht, Hängebrücke – all das musste bewältigt werden. Ich drehe mich kurz zu meinem Hund um und sage mehr für mich als zu ihm:

Es ist ein wunderschöner Samstag mitten im Juni und ich kann mir etwas Leichteres vorstellen. Zum Beispiel sehne mich nach einer angenehmen kühlen Dusche oder danach, an einem schattigen Plätzchen in unserem Garten im Liegestuhl zu liegen mit einem schönen kühlen Bier in der Hand. Arry träumt bestimmt von einem Baum und natürlich auch von einer Schüssel, gefüllt mit klarem, kühlen Wasser.

Himmel, Arm und Zwirn! Dieser dunkelblaue BMW da vorn versucht nun schon zum dritten Mal, seine Spur zu wechseln. Sicher glaubt er, dass er dann schneller vorankommt, denke ich. Immer wieder müssen die Fahrer hinter ihm Platz machen und vielleicht sogar bremsen, gewinnen kann man damit sowieso nichts. Es werden nur alle anderen Verkehrsteilnehmer nervöser bei dieser Hitze. Arry brummelt, über mein plötzliches Schimpfen unzufrieden, vor sich hin. „Ja ja, ich bin schon ruhig und schimpfe nicht mehr. Du kannst ja nichts dafür!“, sage ich zu ihm. Und ich überlege mir, dass ich vielleicht an der nächsten Raststelle zu Hause anrufen sollte. Meine Familie machte sich bestimmt unnötig Sorgen und wartete mit dem Abendessen auf mich. Weit vor mir kommt plötzlich Bewegung in diese Blechlawine hinein. In einer lang gestreckten Rechtskurve, wo in der flimmernden heißen Luft die weiß und rot gekennzeichnete Hochspannungsleitung die Autobahn kreuzt, bewegen sich die Fahrzeuge etwas schneller. Kaum merklich klettert die Tachonadel höher. Zwanzig, vierzig … Ich kurbele die Seitenscheiben hoch, damit Arry auf der Rückbank keine entzündeten Augen bekommt. Achtzig, hundert. Der Lüfter, den ich wieder angeschaltet habe, bringt endlich kühle Fahrtluft in das Wageninnere. Der Verkehr rollt, als ob es nie einen Stau gegeben hätte. Meine Tachonadel zeigt jetzt einhundertunddreißig Stundenkilometer an. Das ist meine Reisegeschwindigkeit, denn schneller zu fahren würde nur zusätzlichen Stress bedeuten. Morgen ist Sonntag und ich werde mit meinen Kindern ins Freibad gehen, wenn das Wetter so bleibt, am Nachmittag wollen wir dann gemeinsam im Garten hinter unserem Haus gemütlich grillen. Arry bekommt dann bestimmt wieder die „Reste“. Noch eintausendfünfhundert Meter sind es bis zur nächsten Raststelle, zeigt mir ein blaues Autobahnschild an. „Ich werde hier kurz anhalten und telefonieren, du bekommst dann auch deine Schüssel Wasser!“, sage ich zu Arry.

Als ich auf den Parkplatz der Raststelle zurolle, sehe ich fünfzehn bis zwanzig Reisebusse dort stehen. Langsam fahre ich an den Telefonzellen vorbei. Hier ist es auch brechend voll, fast in Dreierreihen stehen die Leute davor. Ich beschließe, zur nächsten Raststelle weiterzufahren. Arry dreht sich seufzend zur Seite. „Keine Angst, ich vergesse dich schon nicht. Aber sag doch mal ehrlich:

Hast du Lust, zwischen all den schwitzenden Menschen deinen Wassernapf leer zu trinken?“ Arry hebt noch nicht einmal seine Augenlider und harrt ergeben der Dinge, die da noch kommen. Arry ist ein toller Hund. Er hat ein ausgesprochen gutes Sozialverhalten seinen Artgenossen gegenüber. Auch mit den anderen Rüden in unserer Ausbildungsstaffel hat er keine Probleme. Arry ist schon vom Welpenalter an bei mir und ich hatte früh erkannt, dass er sehr neugierig, unerschrocken und nervenfest ist. Das sind alles Eigenschaften, die einen guten Rettungshund auszeichnen. Er hat eine gute Auffassungsgabe und lernt die ihm gestellten Aufgaben schnell. Auch das Suchen, also die Arbeit mit der Nase, macht ihm zunehmend richtig Spaß.

Von der Ausfahrt der Raststelle komme ich gut wieder in den fließenden Verkehr hinein. Nach kurzer Fahrtzeit finde ich einen kleinen Parkplatz, allerdings ohne Telefonzelle und Toilette. Hier ist alles ruhig, keine Menschenseele ist weit und breit zu sehen. Den Wagen abstellen, den Gurt lösen, die Fahrertür und die Hintertür öffnen – das geschieht in Sekundenschnelle. Wir beide, Arry und ich, stürzen auf die nächsten Bäume zu und mit einem erlösenden Schnaufen werden diese „gedüngt“!

Über mir am herrlich blauen Himmel ziehen von Südosten her Schönwetterwolken auf. Als ich mich wieder umdrehe, sitzt Arry erwartungsvoll neben dem Auto. Aus der Kühlbox im Kofferraum nehme ich den Wasserkanister, die Wasserschüssel stelle ich auf den Asphalt und warte geduldig, bis der Hund mit dem Trinken fertig ist. Mein kleines Einsatzgepäck und eine Flasche Mineralwasser hole ich auch noch aus dem Auto heraus. Für einen Rettungshundeführer ist es wichtig, dass er sein Einsatzgepäck immer griffbereit und in Ordnung hat. Er enthält neben dem Erste-Hilfe-Material noch einen Schreibblock, einen Bleistift, einen Kompass, einen faltbaren Trinknapf für den Hund, eine Trillerpfeife, einen Leuchtstab, Ersatzbatterien für die Taschenlampe, Traubenzucker und vielleicht noch etwas zum Knabbern.

 

Zwischen den Büschen ist etwas Schatten und auch der Rasen scheint sauber zu sein, Arry folgt mir dorthin. Meistens sind solche Parkplätze richtige Müllhalden. Hier jedoch liegen weder Müll noch Flaschenscherben herum. Der Hund legt sich ins Gras und ich setze mich neben ihn. Nach dem ersten Schluck aus der Flasche fühle ich mich frischer, obwohl die Flüssigkeit nicht gerade eiskalt ist. Aus dem Einsatzgepäck nehme ich mir die beiden Schokonussriegel und lege mich ebenfalls ins Gras, wobei ich das Proviantpaket als Kopfkissen benutze. Genüsslich esse ich die Schokolade und es tut richtig gut, nach der langen Fahrt die Beine auszustrecken. Über mir ziehen die Schäfchenwolken dahin. Ich denke gerade daran, wie ich mit der Rettungshundearbeit begonnen habe, als Arry neben mir lauthals zu schnarchen anfängt. Der Auslöser war ein Artikel in einer Hundezeitschrift. Die Überschrift lautete „Fliegende Hunde“ oder so ähnlich. Der Artikel beschrieb die Ausbildung von Rettungshunden und ich las unter anderem, dass sie auch flugtauglich sein müssen, um schnell zur Einsatzstelle gebracht werden zu können. Irgendwann einmal während eines Ausbildungstages habe ich mit Max über dieses Thema diskutiert. „Das Fliegen selber ist eigentlich nicht das Schlimmste für den Hund, ist es wie Autofahren. Nur das Ein– und Aussteigen ist das Problem!“, erklärte mir Max damals.

Neben mir im Gras beginnt eine Grille mit ihrem Abendlied. Von der Asphaltpiste der Autobahn ertönt monoton das Rauschen der vorbeifahrenden Autos. Wenn man etwas Fantasie hat, kann man in den Wolken, die immer noch über mir vorbeiziehen, Formen, Gebilde oder sogar Tiere erkennen. Gerade erkenne ich ein Huhn, da drüben sogar einen Schwan oder eine Katze und einen Hund. Einen fliegenden Hund sogar, ja richtig, dort ist ein fliegender Hund und hinter diesem folgen noch viele andere. In breiter Suchkette schwärmen sie über den blauen Himmel, von Westen nach Osten: fliegende Hunde im Flächeneinsatz, so weit das Auge reicht. Zeitweilig kann ich sogar ihr aufgeregtes Hecheln und Jaulen hören. Bestimmt sind sie auf der Suche nach einem Menschen, der sich in Not befindet. Aber komisch, ich sehe nirgendwo einen der Hundeführer. Urplötzlich höre ich dann den Standlaut, mit dem der Hund anzeigt, dass er den Vermissten gefunden hat. Aber wo denn nur? Immer noch ist keiner der Rettungshundeführer zu sehen. Die endlos lange Suchkette der fliegenden Hunde ist zum Stehen gekommen. Der Hund bellt immer noch, aber nicht freudig erregt, sondern böse und aggressiv. Das allerdings kenne ich überhaupt nicht von einem Rettungshund. Rettungshunde werden grundsätzlich menschenfreundlich erzogen und ausgebildet! Doch jetzt höre ich auch den Hundeführer sprechen: „Hallo, hallo Sie da, sind Sie in Ordnung, fühlen Sie sich gut?“

Von einer Sekunde auf die andere werde ich wach und richte mich, noch etwas benommen, auf.

Sofort erkenne ich die Situation, in der ich mich befinde, die Realität hat mich wieder. Etwa zwei Meter von mir entfernt steht Arry und bellt herausfordernd, als wollte er sagen: „Komm bloß nicht näher, ich warne dich, mein Herrchen macht gerade Siesta und möchte nicht gestört werden!“ Drei bis vier Meter hinter dem Hund steht ein Herr in einer khakifarbenen Uniform und mit einer weißen Mütze auf dem Kopf sowie einem Revolver am Gürtel. Es ist ein Beamter von der Autobahnpolizei, sein Kollege befindet sich neben dem Streifenwagen auf dem Parkplatz vor meinem Auto. Ich rufe Arry: „Aus und Platz!“ Arry legt sich sofort auf der Stelle hin und ist ruhig. Ich stehe, immer noch leicht benommen, auf und gehe an meinem Hund vorbei zu dem Polizisten. „Guten Abend!“, sagt dieser freundlich zu mir, „wir haben von einem Autofahrer einen Anruf bekommen, dass hier auf dem Parkplatz ein Mitarbeiter des ADAC verletzt liegen soll. Der Anrufer sagte, er hätte ihn an seinem orangefarbenen Overall erkannt!“

Jetzt muss ich lachen. Ich erkläre den beiden Beamten, dass ich Rettungshundeführer und dieser orangefarbene Overall meine Dienstbekleidung sei. Ich würde mich auf dem Heimweg befinden und hier nur eine kurze Rast machen. Außerdem zeige ich noch meinen Personalausweis vor. Sichtlich beruhigt lassen sich die beiden Beamten von mir etwas über die Rettungshundearbeit erzählen. „Interessant“, meint der, der mich zuerst angesprochen hat, „und das machen Sie alles in Ihrer Freizeit?“ „Ja“, erwidere ich, „meistens am Wochenende, bloß heute war es ganz schön nervig auf der Autobahn und deshalb habe ich hier eine Pause gemacht.“ „OK“, meint nun der andere Polizist, der beim Fahrzeug geblieben war, „hier ist alles in Ordnung, wir wünschen noch eine angenehme Weiterfahrt und ein schönes Wochenende!“ Ich bedanke mich bei den beiden und schaue ihnen hinterher, während sie den Parkplatz verlassen.

Als die beiden fort sind, drehe mich zu meinem Hund um, der die ganze Zeit brav im Platz liegen geblieben ist. Ich knie mich hin, nehme seinen Kopf in beide Hände und schaue ihm in die bernsteinfarbenen Augen. „Danke, dass du mich wach gemacht hast. Brav war das, es hätte ja auch jemand anderes sein können!“ Mein Einsatzgepäck hebe ich auf und gehe zu meinem Auto zurück.

Dort nehme ich noch einen langen Schluck aus der Mineralwasserflasche, während der Hund den erneut gefüllten Wassernapf leer macht. Kurze Zeit später rolle ich wieder mit meiner Reisegeschwindigkeit von einhundertdreißig Stundenkilometern über die immer noch heiße Asphaltbahn Richtung Norden. Arry hat sich wieder auf der Rückbank zusammengerollt. Es sind noch etwa zweihundert Kilometer bis nach Hause. Der kurze Schlaf hat mich wieder einigermaßen fit gemacht. Bei der nächsten Raststelle werde ich zu Hause anrufen, damit meine Familie weiß, wo ich mich im Augenblick befinde. Vor mir sehe ich das endlose Band der Autobahn, schnurgerade, und am Horizont den blauen Himmel mit den Schönwetterwolken. Ich lächele den Schäfchenwolken oder den „fliegenden Hunden“ zu.

Diese Geschichte ist mir wirklich passiert. Damals gab es in meinem Bundesland noch keine Rettungshunde. So fuhr ich fast drei Jahre regelmäßig jeden Monat sechshundert Kilometer bis zu meiner Ausbildungsstaffel! Arry war der erste Rettungshund in Niedersachsen. Er wurde am 3. Juni 1984 nach den Richtlinien des Bundesverbandes für Rettungshunde geprüft.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?