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Geschlecht als Wissenskategorie

Obgleich unverkennbar ist, dass die Frage, wie oder warum ‚das Geschlecht‘ aus der Wissenschaft ausgeschlossen bzw. in die Wissenschaft eingelagert worden ist, tendenziell auf die Geschichte der Wissensordnung selbst zielt, ist der Anspruch des Bandes als Hand- und Arbeitsbuch bescheidener: Er konzentriert sich auf die kritische Darstellung der Bedeutung, welche Geschlecht als Analysekategorie in den aktuellen Theoriedebatten spielt, die ihrerseits einen langen historischen Vorlauf haben, aber gerade in der Gegenwart das Selbstverständnis der Wissenschaften in radikaler Weise zu verändern beginnen.56 Ein Blick in neuere Publikationen zeigt, dass in der aktuell boomenden Wissenschaftsforschung 57 die Einsicht in die geschlechtliche Codierung des Wissens [<< 38] und der Wissenschaften noch immer rudimentär ausgebildet ist. In dem repräsentativ aufgemachten Band Bilderwissen 58 heißt es in dem Abschnitt „Ikonen des Intellekts“ in gespielter Naivität: „wie ein Wissenschaftler (Künstler, Schriftsteller, Komponist etc.) aussieht, sollte uns egal sein, auch wenn es sich dabei um eine Frau handelt.“ 59 Abgebildet werden bezeichnenderweise dann jedoch Porträts von Einstein, Herschel und Hawking als charismatische Wissenschaftler, die zeigen, dass ‚große Männer‘ nicht nur Geschichte machen, sondern auch Wissenschaftsgeschichte schreiben. So gängig inzwischen auch die Auffassung ist, dass die Wissenschaften – wie andere kulturelle Praktiken – „historisch und kulturell variable Phänomene“ 60 sind, so wenig Beachtung hat bisher die Tatsache gefunden, dass Wissenschafts- und Geschlechterforschung eine Reihe von parallelen Entwicklungen und Überschneidungen aufweisen.

Seit die gesellschaftliche Benachteiligung und Diskriminierung der Frau in den späten 1960er-Jahren von der akademischen Frauenforschung aufgegriffen wurde, hat sich die Geschlechterforschung in einer engen interdisziplinären Verflechtung mit sozial­wissenschaftlichen Theorien und gesellschaftstheoretischen Modellen entwickelt: In den 1970er-Jahren wurde ‚Geschlecht‘ in die Analyse des gesellschaftlichen Lebens und der sozialen Räume, des Zugangs zu und der Teilhabe an politischer Macht und der Verteilung ökonomischer Ressourcen eingeführt und als weitere grundlegende Kategorie der wissenschaftlichen Analyse in den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften etabliert. Hierbei richtete sich das Augenmerk vor allem auf Fragen der Ungleichheit – etwa in der Lohnarbeit und der sozialen Hierarchie.61

Unter dieser Perspektive wurden auch die Wissenschaften in den Blick genommen, als seit den 1970er-Jahren weibliche Karriereverläufe, die Ab- und Anwesenheit von Frauen in den Wissenschaften, die institutionellen Barrieren und deren Folgen untersucht wurden. Dabei führte die feministische Wissenschaftskritik zu einer intensiven [<< 38] Auseinandersetzung mit der Funktion und Bedeutung der Wissenschaften bei der Ausgrenzung von Frauen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und ihrer Diskriminierung in den unterschiedlichsten sozialen Systemen. In einer Vielzahl von Arbeiten wurde untersucht, wie mit wissenschaftlichen Begründungsmustern soziale, histo­rische, politische und ökonomische Praxen begründet, legitimiert und aufrechterhalten werden. In diesem Zusammenhang wurde vor allem die Instrumentalisierung von Geschlechtsstereotypien, weniger aber die Geschlechtsstereotypien selbst hinterfragt; das heißt es wurde – vereinfacht gesagt – die Verwendung von wissenschaftlichem Wissen thematisiert, die missbräuchliche oder fehlgeleitete Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Tatsachen; diese wurden jedoch als an sich neutral und objektiv angesehen.62

Dieser Zugang entsprach weitgehend dem methodologischen Selbstverständnis der traditionellen Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsforschung. Zwar wurde die Herstellung und Beurteilung von Wissen seit Karl Mannheim als kontextabhängig betrachtet, doch galt der Inhalt wissenschaftlichen Wissens als weitgehend sakrosankt. So wurden in der traditionellen Wissenschaftssoziologie zwar die Bedingungen der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion, deren Institutionalisierung, Normen und Werte untersucht oder die Motivationen der beteiligten Akteure betrachtet, wissenschaftliche Aussagen (Erkenntnisse und Tatsachen) wurden jedoch nicht weiter hinterfragt. In den 1960er-Jahren rückten mit der sogenannten antipositivistischen Wende [<< 39] jedoch auch der Inhalt und die Struktur des Wissens in den Blickpunkt des Interesses. Die Kritik am naturalistischen Wahrheitsanspruch der Wissenschaften im Allgemeinen und der Naturwissenschaften im Speziellen bildet seitdem einen gemeinsamen Fluchtpunkt der Wissenschafts- und Geschlechterforschung.

Mit der Frage der Kontextabhängigkeit wurde auch die vorgebliche Geschlechtsneutralität des Wissens kritisierbar. In der Geschlechterforschung wurde nun eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Aussagen der Lebenswissenschaften über die Geschlechterdifferenz gesucht, um deren sexistische Annahmen zu enthüllen. Arbeiten aus verschiedenen Disziplinen legten die verborgenen androzentrischen Denkmuster in der wissenschaftlichen Darstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit offen oder analysierten die Reinigung und Säuberung wissenschaftlicher Erkenntnisgegenstände von der ihnen zugrunde liegenden Geschlechtlichkeit.63

In der Wissenschaftsforschung wurden ausgehend vom „strong program“ der ­Sociology of Scientific Knowledge vor allem zwei methodische Ansätze ausformuliert, um das Zusammenwirken von sozialen und kognitiven Bedingungsfaktoren zu erklären und zu beschreiben. Das Interessenmodell führte die jeweilige Wahl zwischen konkurrierenden wissenschaftlichen Aussagen auf das Wirken gesellschaftspolitischer und professioneller oder wissenschaftsstrategischer Interessen zurück und suchte das Soziale an externen Faktoren festzumachen, die das Handeln und Denken der Wissenschaftler gewissermaßen von außen steuern.64 Im Gegensatz dazu begriff das Diskursmodell wissenschaftliche Aussagen als soziale Konstruktion und stellte die Erzeugung, Stabilisierung, wissenschaftliche Anerkennung und gesellschaftliche Durchsetzung in den Fokus der Untersuchung, um die soziale Dimension (wissenschaftliches Ansehen, Geschlechtszugehörigkeit, Zugang zu Fachzeitschriften, Koalitionsbildung oder [<< 40] Mobilisierung der Öffentlichkeit) zu erfassen.65 Beide Ansätze setzen an der Frage an, wie die auch für naturwissenschaftliche Erkenntnisbildung charakteristische Wechselwirkung von sozialen und kognitiven Prozessen analysiert werden kann.

Auch in der Geschlechterforschung wurde zunächst versucht, die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen den sozialen Verhältnissen und den Androzentrismen der modernen Wissensbestände durch eine Differenzierung „externer“ und „interner“ Faktoren methodisch zu begründen. Analytisches Instrument war die Unterscheidung zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht, die sex als „naturgegebene“ biologische Ausstattung und gender als soziale Konstruktion und kulturelle Zuschreibung begriff.66 Carol Hagemann-White machte jedoch schon früh darauf aufmerksam, dass die unhinterfragte Klassifizierung der Menschen in Männer und Frauen keineswegs unproblematisch ist, da sie die Existenz von zwei – und nur zwei – Geschlechtern als außergesellschaftliches, naturgegebenes und unveränderbares Faktum voraussetze.67 In den 1980er- und 90er-Jahren wurde im Rückgriff auf sprachtheoretische bzw. poststrukturalistische Ansätze, die vor allem in den Kulturwissenschaften relevant geworden waren, kritisiert, dass diese Unterscheidung in letzter Konsequenz dem biologis­tischen Rahmen verhaftet bleibe, den sie sprengen will.68 Obwohl auch das biologische Geschlecht als diskursive Konstruktion betrachtet und damit die Grundstruktur der angeblich natürlichen Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt wird, reproduziere die Unterscheidung von sex und gender jene Dichotomie von Natur und Kultur, die wie andere binäre Oppositionen (Körper / Geist, Subjekt / Objekt) das abendländische Denken strukturieren. Da jeweils einem Begriff der binären Opposition der Status des Gegebenen, Unhintergehbaren zukomme, kritisierte u. a. Butler die „Metaphysik [<< 41] der Substanz“ als Effekt einer Bezeichnungspraxis, bei der die Begriffe als vorgängige oder außerdiskursive bezeichnet werden und damit deren diskursive Konstitution verschleiert werde.

Mit dem Diskursmodell hatte sich auch die Wissenschaftsforschung Ende der 1980er-Jahre in eine gewisse theoretische Sackgasse manövriert, die sich gleichfalls aus der Relativität der sozialen Konstruktion ergab und in die heftig ausgetragene Streitfrage mündete, ob es jenseits der sozialen Konstruktion noch so etwas wie naturgegebene Realität gebe.69 Hier hatte die letztlich unfruchtbare (weil ontologische) Zuspitzung in Form eines Sozialdeterminismus dazu geführt, dass man sich nunmehr auf den praktischen Herstellungskontext von wissenschaftlichen Tatsachen konzentrierte. Der technological oder practical turn verlagerte (im Gegensatz zum linguistic turn) die Frage der sozialen Konstruktion auf die Ebene der materiellen, d. h. technischen Grund­lagen der Wissensproduktion, um die Wechselwirkungen zwischen Diskurs und Praktik, zwischen sozialen Konstruktionen und den material constraints zu unter­suchen. Einen entscheidenden Einfluss hatten ethno-methodologisch orientierte Feldstudien, die deutlich machen konnten, dass sich die Herstellung und Stabilisierung von wissenschaftlichen Fakten durch eine Vielfalt sozialer Praktiken auszeichnen, die nur durch Akkulturation zu erwerben sind.70 Mit heuristischen Modellen wie boundary concept oder boundary object wurde nun versucht, die Bedeutung von wissenschaftlichen Tat­sachen als Grenzobjekt und Aushandlungsgegenstand unterschiedlicher sozialer Welten zu erfassen, oder es sollten mit der Rekonstruktion von Wissenshybriden die tradierten Dichotomisierungen relativiert, wenn nicht gar aufgelöst werden.71

 

Diese Überschneidungen in der bislang getrennt verlaufenden Entwicklungsgeschichte der Geschlechter- und Wissenschaftsforschung verweisen nicht nur in die Zukunft eines gemeinsamen Forschungsprogramms, in dem die kritischen Ansätze aus beiden Disziplinen produktiv gebündelt werden können, sondern zugleich zurück auf die Anfänge des abendländischen Denkens, wo die Kategorie des Geschlechts – wenn auch häufig verschlüsselt oder verschwiegen – in den Konstituierungsprozessen des Wissens und der Wissenschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat.

Der Begriff der ‚Kategorie‘ geht auf die Anfänge des abendländischen Denkens zurück, in welchem die Aristotelische Lehre von den zehn Kategorien den Schlüssel [<< 42] zum logischen Denken darstellte. Die Kategorienlehre von Aristoteles kennt bekanntlich kein Geschlecht. Wohl aber ist bereits bei Aristoteles das Geschlecht ein Gegenstand der Naturkunde. Es wird vorrangig in seinen naturphilosophischen Schriften in seiner Funktion für die Fortpflanzung thematisiert. Dort findet sich auch jene begriffliche Figur, die mit dem weiblichen Prinzip als passiver Matrix und dem männlichen als aktiver Formgebung das Denken über Geschlecht und die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem bis zur Entstehung der modernen wissenschaftlichen Disziplinen bestimmen sollte. Sie zeigt zugleich, wie eng die naturwissenschaftliche Beschreibung des Geschlechts mit der wissenschaftstheoretischen Reflexion bzw. mit der Kategorienlehre verflochten wurde. Denn für die aristotelische Philosophie war die Fortpflanzung der paradigmatische Fall des Werdens bzw. der Veränderung in der ersten Kategorie des Seins, der Substanz. Das Männliche steht für die Wirkursache, das Weibliche für die materielle Ursache. Was heute als soziale Konstruktion der Geschlechter gilt − dass Männer zur Fortpflanzung die Form, Frauen das Material beisteuern −, galt zur Zeit von Aristoteles als ‚Evidenz der Natur‘.

Bis heute ist Geschlecht Gegenstand der Naturkunde, jener Einzelwissenschaft, die sich auf Aristoteles als ihren Begründer beruft und sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts Biologie oder Life Science nennt. Geschlecht ist somit als verborgene, aber gleichwohl konstituierende Kategorie des wissenschaftlichen Denkens der abendländischen Wissenschaft ursprünglich. Sie begleitete von der klassischen Antike an das begriffliche Denken und wurde zugleich aus der philosophischen Reflexion der dieses Denken begründenden Grundlagen ausgeschlossen.72

Das Denken des Mittelalters war einerseits geprägt von den Traditionen der Antike, andererseits setzten sich aber auch neue wissenschaftliche Denkmuster durch, die sich vornehmlich christlichen Traditionen verdankten. War zunächst das asketische Ideal des Frühchristentums prägend für das Verhältnis von Glauben und Wissen, so wurden allmählich die Gelehrsamkeit der Klöster und dogmatisch-christliche Glaubensinhalte ausschlaggebend für das wissenschaftliche Denken, das alte heidnische Wissensformen überlagerte, integrierte oder verdrängte. In der Mystik des Hochmittelalters bezogen sich ‚Wahrheit‘ und ‚Wirklichkeit‘ auf ein transzendentes Wissen, das wiederum das [<< 43] Körperbild des mittelalterlichen Menschen wie das medizinische Wissen beeinflusste.73 Die ‚christliche‘ Körperwahrnehmung wirkte sich ihrerseits auf die Geschlechterbilder aus.74 Die Scholastik unternahm den Versuch, die christlichen Glaubensinhalte mit den Wissenstraditionen der Antike und deren auf der Ratio basierenden Wissensbegriff zu verbinden. Für die Mystik spielten Fragen des Bildes und der Bilderverehrung eine wichtige Rolle, was wiederum in der symbolischen Geschlechterordnung einen Ausdruck fand. War die weibliche Mystik des Mittelalters noch geprägt von dem ‚Wissen‘ um die ‚weiblichen‘ Anteile an dem Mensch gewordenen Gott, so sind bildende Darstellungen der Passionsgeschichte, die im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit entstanden, Indices für einen neuen Geschlechtercode, der die ‚Männlichkeit‘ des Erlösers in den Vordergrund rückt.75

Mit dieser Entwicklung kündigen sich schon die Renaissance und ein neues wissenschaftliches Denken an, das auch prägend werden sollte für einen Wandel der Geschlechterordnung. Das christliche Denken übte einen tiefen Einfluss auf die säkulare Welt des Mittelalters aus. War im frühen und im Hochmittelalter das höfische Leben, in dem sich sowohl heidnische als auch christliche Traditionen niederschlugen, noch prägend für sowohl das Wissen als auch für die Geschlechterordnung, so setzt sich nun ein Wandel der Körperwahrnehmung wie der Emotionalität durch.76 Gleichzeitig entwickelt sich mit technischen Neuerungen wie etwa der mechanischen Uhr sowie einer zunehmenden Geldwirtschaft und der allmählichen Durchsetzung einer Gesellschaft, die nach den Gesetzen der Schrift lebt, eine neue Gesellschaftsordnung, die nicht nur Einfluss auf das Wissen und wissenschaftliches Denken, sondern auch auf die Geschlechterrollen ausübt.77 [<< 44]

Aus der aristotelischen Philosophie entwickelte sich – befördert durch die Antiken­rezeption der Renaissance – im Abendland eine neue Form der Dichotomie, die prägend wurde für fast alle Bereiche der neu entstehenden Wissenschaften: Das hierarchische Geschlechterverhältnis ist präsent im philosophischen Diskurs, dessen Begriffe von Subjektivität und Autonomie, Freiheit und Gleichheit, Universalität und Transzendenz am männlichen Selbst ausgerichtet sind, während die Vorstellungen von Weiblichkeit, Körper und Natur als Kontrast zu diesen Selbstsetzungen fungieren.78 Ein ähnlicher Prozess vollzog sich mit der Entwicklung der Zentralperspektive auch in der Kunst, der Naturwissenschaft und auf dem Gebiet des Visuellen. Der penetrierende und einseitige männliche Blick imaginiert sich als Schöpfer, der die sichtbare Welt, indem er sie zum Objekt macht, seiner Verfügungsmacht und Kontrolle unterwirft.79 Dieser penetrierende Blick erzeugte nicht nur die Illusion männlicher Subjektivität, er spielte auch für die Entwicklung der Naturwissenschaften sowie für die Entstehung eines neuen Körperbildes eine entscheidende Rolle. Auch für die Naturkunde, die sich wie die Philosophia naturalis auf Aristoteles als ihren Begründer berief, wurde diese geschlechtsspezifische Codierung der Kategorien begründend und bei der Transformation der Naturgeschichte in die modernen Naturwissenschaften umgeschrieben. Sie findet sich heute in den Objektivitäts-, Universalitäts- und Neutralitätsan­sprüchen moderner Wissenschaftskulturen wieder, wo sie als epistemologische Basis für den wissenschaftlichen Umgang eingelagert wurde und eine kategoriale Vorgabe für die Beschäftigung mit Geschlecht und kultureller Differenz bildet.80 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Wirkungsmacht der Wissenskategorie Geschlecht stets eine ambivalente war, die in der Dialektik von dynamischen Innovationsschüben und traditionellem Beharrungsvermögen bestand.

In der „Sattelzeit“ (Koselleck) um 1800 vollzog sich ein Paradigmenwechsel: Mit der modernen wissenschaftlichen Beschreibung zweier biologischer Geschlechter wurde das [<< 45] Verhältnis der Geschlechter nicht mehr in der Opposition von sozialer Superiorität und Inferiorität gedacht, sondern als das Verhältnis einer Differenz konstruiert. Die Frau galt nun nicht mehr, wie bei Aristoteles, als „verkümmerter Mann“, sondern sie wurde zur Repräsentantin des „anderen Geschlechts“. In der Epoche der Aufklärung wurde die „Frau“ sogar in einer Art „weiblicher Sonderanthropologie“ zur Statthalterin der Natur erklärt. In dieser Funktion avancierte sie in der nachrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft zur Repräsentantin des moralischen Geschlechts. Der Mann stand für das rationale Geschlecht, das sich durch die Herrschaft über Natur definiert. Die Aufteilung des Menschen in zwei ungleichwertige Teile wurde in einem Zeitalter, das die Gleichheit aller Menschen zum Prinzip erhob, mit genuin aufklärerischen Prinzipien legitimiert. Die Natur bedeutete in den medizinischen, historiographischen, philosophischen und anthropologischen Diskursen für die Frau immer „Einschluss“ und „Begrenzung“, und Natur nahm – ob als die dem Organischen eigentümliche Produktivität, ob als Seelenleben oder ob als „Konstanz der Kräfte“ – immer eine doppeldeutige Funktion ein.81

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde mit der Entstehung und Herausbildung der modernen Disziplinen die traditionelle Hierarchie der Wissenschaften in eine funktionale Ordnung überführt. Dabei wurden auf dem Wege der disziplinären Abgrenzung spezifischer Gegenstandsbereiche tradierte Geschlechtermuster oft aufgehoben und überwunden und doch zugleich in Form disziplinärer Darstellungstechniken, Arbeitspraktiken und Forschungsstrategien wissenschaftlich rekonstruiert, ob in gynäkologischen Aufzeichnungstechniken, obskuren chirurgischen Praxen, psychologischen Deutungsmustern, wie etwa der Hysterie oder medialen Aufschreibesystemen.82 Auch die Entfaltung wissenschaftlicher truth claims überführte traditionelle Männertugenden in eine bürgerliche Werteökonomie, die die Aufspaltung zwischen individueller Subjektivität und wissenschaftlicher Objektivität und die ihr zugrunde liegenden Geschlechtsvorstellungen maskiert und verbirgt.

Ende des 19. Jahrhunderts kam es im Zuge der Auflösung des traditionellen Familienverbandes, veränderter Moral- und Wertvorstellungen, neuer ökonomischer und politischer Verhältnisse und Arbeitsbedingungen sowie eines neuen biomedizinischen [<< 46] Verständnisses von Zeugung und Reproduktion zu einer zunehmenden Entkoppelung von Fortpflanzung und Sexualität. Diese hatte Rückwirkungen auf die soziale und kulturelle Wahrnehmung von Geschlecht. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Entstehung neuer medialer Techniken wie Photographie und Film, die ihrerseits auf die Wahrnehmung von Geschlecht und Geschlechterrollen einwirkten.83

Geschlecht war mit Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl in der Naturgeschichte als auch in der Philosophie zu einem der zentralen Gegenstände der wissenschaftlichen Neugierde geworden – und ist es auf Gebieten wie der gentechnologischen Forschung bis in die Gegenwart geblieben. Wie die etymologische Verwandtschaft von Gen, Genus, Gentechnologie, Gender und Genre verrät, besteht zwischen dem wissenschaftlichen Gegenstand „Geschlecht“ und dem wissenschaftlichen Selbstverständnis eine für die wissenschaftliche Praxis konstitutive Verbindung, die mehr als 2000 Jahre lang kaum expliziert wurde.84 Dabei lässt sich verallgemeinernd sagen, dass die Kategorie Geschlecht in den eher anwendungsorientierten Disziplinen zwar eine bedeutende, jedoch meist kaum reflektierte und damit weithin unsichtbare Rolle spielt. Das gilt auch für die Medizin bis in jüngere Zeit. Hier sind auch die neuen molekular ausgerichteten Lebenswissenschaften zu nennen, deren Forschungsprogramme dazu tendieren, Geschlechtskategorien radikal auf Genanlagen zu reduzieren und zugleich Geschlechtsvorstellungen und Geschlechtszuschreibung im Sinne eines genetischen Determinismus neu zu begründen.85 Ähnliches gilt auch für die Rechtswissenschaft, in der Geschlecht als normatives Leitbild wirkt und zugleich immer wieder neue Leitbilder des Geschlechts durch juristische Regulierung geformt und über die Strukturen eines staatlichen Gewaltmonopols durchgesetzt werden.86

 

Für die Hinterfragung solcher Normierungsprozesse und die damit einhergehende Wissenschaftsreflexion spielen die sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächer eine [<< 47] wichtige Rolle, bieten sie doch das notwendige Instrumentarium, um die Entstehung, Einschreibung und Perpetuierung von Diskursen und Praktiken des Wissens zu untersuchen. Methodisch kann hier auch von einer Wende des Blicks die Rede sein: von den materiellen, ökonomisch / sozialen Verhältnissen zur Wahrnehmung der sprachlichen und medialisierten, bildlichen, insgesamt kulturellen Formen der Konstruktion von Wirklichkeit. Der genetic turn, der mit der Verabschiedung der These einer Naturhaftigkeit der Geschlechter einhergeht, begleitet so den linguistic turn und den pictorial turn, die sich zusammen und analytisch orientiert als ­discursive turn fassen lassen.

Diese verschiedenen turns haben zu einer Dynamisierung der Forschungsdebatten geführt, von der auch der vorliegende Band profitiert. Durch die Interventionen, die aus den einzelnen Fächern heraus entwickelt wurden, sind nicht nur neue inter- und transdisziplinäre Forschungsfelder erschlossen worden, sondern wurde der Blick auch für die geschlechtliche Codierung des Wissens und der Wissensordnung insgesamt geschärft. Die bisherigen Versuche, die Erträge der Geschlechterforschung in systematischer Weise zu erfassen und zu präsentieren, beschränkten sich zumeist auf die Übersicht einzelner Disziplinen oder stellten disziplinäre Entwicklungen oder Erkenntnisse mehr oder minder additiv nebeneinander.87 Der vorliegende Band zeigt erstmalig, welche bedeutsame Rolle die Kategorie Geschlecht in den theoretischen Debatten der Gegenwart spielt. Wenn hierbei im weitesten Sinne kulturkritische Ansätze wie etwa die Gedächtnisforschung oder neuere Forschungsrichtungen wie z. B. die Media Studies als Paradigmen aufgegriffen werden, so geschieht das vor allem deshalb, weil die „Ansichten der Wissenschaften“ 88 bzw. die „Bühnen des Wissens“ 89 von eben jener kulturhistorischen Wendung profitiert haben, der auch die Genderforschung am Ende des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse verdankt. Die theoretischen Debatten über Identität, Sexualität, Körper und Gewalt etc. haben dabei Rückwirkungen weit über die sich kulturwissenschaftlich verstehenden Disziplinen wie etwa die Literaturwissenschaften oder die Postcolonial Studies hinaus, sie betreffen auch sozialwissenschaftliche, juristische oder medizinische Diskurse und bringen die unterschiedlichen Wissenschaftskulturen in ein neues Gespräch, das die von Snow beklagte Trennung der „zwei Kulturen“ in eine literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz 90 überwinden kann. Auch wenn [<< 48] der Band keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt – nicht zuletzt aus pragmatischen Überlegungen bleiben eher anwendungsorientierte, in den politischen Bereich zielende Debatten über „Erfahrung“, „Alltag“, „Öffentlichkeit“ oder „Arbeit“ ebenso ausgegrenzt wie komplexe, wissenschaftsübergreifende Überlegungen zu „Genealogie“, „Differenz“ oder „Rhetorik“ 91 – so bietet er doch eine repräsentative Übersicht über aktuelle Diskussionsverläufe und stellt ein Wissen zur Verfügung, das für die Wissenschafts- wie für die Geschlechterforschung gleichermaßen unverzichtbar ist.