Geist & Leben 2/2020

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Geist & Leben 2/2020
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Inhalt

Heft 2 | April–Juni 2020

Jahrgang 93 | Nr. 495

Notiz

Ambivalentes „magis“

Jörg Nies SJ

Nachfolge

Pause von der Entfremdung. Anapausis und die Erlösungssehnsucht der Wüstenväter

Gregor Taxacher

Jules Monchanin. Die Mission des Katholischen und die Begegnung mit Indien

Markus Kneer

Philipp Dessauer (1898–1966). Ein Lehrer des Meditierens

Lorenz Wachinger

Nachfolge | Kirche

Mystagogie und Sakrament. Myrrha Lot-Borodine (1882–1954)

Iuliu-Marius Morariu

Ökumenisch Kirche sein

Ulrich Ruh

Der Charme des Anfangs. „Emmaus“ – langsam gelesen (Lk 24,13–36)

Christian Herwartz SJ

Cur vadis? Der Synodale Weg zwischen Missbrauch und Evangelisierung

Martin Höhl

Nachfolge | Junge Theologie

Feindbild-Dekonstruktion. Von Jesus zu Amos Oz’ Judasfigur

Martin Steiner

Reflexion

Geteilte Spiritualität. Herzstück der Begegnung von Christen und Muslimen

Christoph Gellner

Enttäuschung und Vertrauen. Eine geistliche Bildbetrachtung

Jörg Nies SJ

Ungeteilt beim Herrn. Annäherung an ein mögliches Missverständnis

Edith Kürpick FMJ

Lektüre

Vom Dennoch der Hoffnung getragen. Literarisches zum Gebet Jesu

Stephan Schmid-Keiser

Franz von Assisi in historischer Sicht. Drei neue Biografien

Niklaus Kuster OFMCap

Das dritte Gedicht. Oder: Zur Metaphysik der Übersetzung

Burkhard Conrad OPL

Buchbesprechungen

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Deutsche Provinz der Jesuiten Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Britta Mühl (Lektorats-/Redaktionsassistenz) Redaktionsbeirat:

Bernhard Bürgler SJ / Wien

Edith Kürpick FMJ / Köln

Ralph Kunz / Zürich

Margareta Gruber OSF / Vallendar

Stefan Kiechle SJ / München

Bernhard Körner / Graz

Jörg Nies SJ / Stockholm

Klaus Vechtel SJ / Frankfurt

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

Tel. +43–(0)664–88680583

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Ambivalentes „magis“

Wer sich mit der ignatianischen und jesuitischen Spiritualität beschäftigt, wird schnell auf das Wort magis aufmerksam. Das lateinische magis, im Spanischen más, bedeutet zunächst einmal schlicht mehr. Heute ist es u.a. der Name eines Programms, das um den Weltjugendtag 2005 entstand und seitdem jungen Erwachsenen Erfahrungen ermöglichen will, anhand derer sie sich selbst, andere und Jesus Christus besser kennenlernen sollen. Das Ziel ist, mehr mit Gott zu leben.

Gerade für jene, die mehr erleben wollen, ist Abwechslung und Aktivität reizvoll. Kombiniert mit der Frage, wie und wo ich Gott erfahren kann, öffnen sich viele Möglichkeiten, die ein ignatianisches Vokabular beschreibt. Experimente sind bereits in der ersten Ausbildungsphase der Jesuiten, dem Noviziat, von entscheidender Bedeutung. In verschiedenen Kontexten wird erprobt, wie Gott in allen Dingen gesucht und gefunden werden kann. Die Geistlichen Übungen (GÜ) sind dabei besonders wichtig. Sie helfen einerseits bereits gemachte Erfahrungen betend zu reflektieren und andererseits eine neue Haltung für kommende Aufgaben und Situationen zu entwickeln. Leitend ist die Frage, wie Gott mehr gedient werden kann. Entsprechend greift der Wahlspruch des Jesuitenordens den Komparativ auf: ad maiorem Dei gloriam – alles zu größerer Ehre Gottes.

Wie kann Gott also mehr, und dabei schwingt auch besser und wirksamer mit, verherrlicht werden? Das ist nicht allgemeingültig festzulegen. Vielmehr geht es darum, immer wieder neu anzusetzen und eine jeweils aktuelle Antwort zu geben. Was ist jetzt, in diesem Augenblick, wichtiger, passender und hilfreicher?

Ignatius von Loyola schrieb die Geistlichen Übungen im 16. Jahrhundert. Ihr Ansatz und ihre Methode haben auch noch im 21. Jahrhundert eine bleibende Bedeutung. Ihre Neuartigkeit, ihr Moment der überraschenden Sichtweise haben sie allerdings auf einen ersten Blick eingebüßt. In einer Gesellschaft, die ständig auf der Suche nach Verbesserung und Steigerung der Produktivität ist, können geistliche Begriffe, die auf mehr zielen, wie spirituelle Wiedergänger des längst Bekannten erscheinen, aber nur schwer Gegenakzente setzen. Im ignatianischen magis liegt eine Versuchung, wenn es einen ohnehin vorhandenen Leistungsdruck geistlich begründet und weiter verstärkt.

Die ignatianische Spiritualität kann leicht in eine Schieflage geraten, da sie erstaunlich modern ist und auch durch Begriffe wie Effizienz und Optimierung beschrieben werden kann. Das magis ist hierfür besonders anfällig, denn die Suche nach dem, was immer mehr ist, initiiert einen infiniten Regress. Sie ist per definitionem nicht abzuschließen und ist immer wieder neu zu verhandeln. So kann aber nicht nur eine positive Herausforderung, sondern auch eine ständige Belastung entstehen. Selbst wenn der Maßstab an einer Perspektive, die auf Gott ausgerichtet ist, genommen wird, so kommt die Aufgabe des Entscheidens und entsprechenden Handelns dem Individuum zu. Kreiert die ignatianische Spiritualität so aber nicht gerade ein überfordertes Subjekt?

Ignatius will durch die Geistlichen Übungen den Menschen darauf hin ausrichten, dass er ersehnend (deseando) und das erwählend (eligiendo) sein soll, was ihn mehr (más) zu seinem Ziel führt (GÜ 23). Was mehr bedeutet, ist Teil der geistlichen Unterscheidung, die einzuüben ist. Dabei geht es in erster Linie um Grundsätzliches. Wie will ich mein Leben gestalten? Was ist mein Ziel, das mir eine Richtung vorgibt? Welche Rolle spielt Gott dabei?

Sind diese Fragen geklärt, relativiert sich die Bedeutung aktueller und je konkreter Situationen. An ihnen soll nur deutlicher werden, was bereits geklärt ist. Es gibt ein Prinzip, das Orientierung gibt und so entlastet. Im Alltag soll das eine Gestalt bekommen, was als Grundsatzentscheidung in den Geistlichen Übungen erkannt wurde.

Doch verlagern sich so nicht die vielen kleinen Herausforderungen auf eine einzige – und der Druck wächst nur weiter? Die ignatianische Methode kann nur dann funktionieren, wenn sie dialogisch verstanden wird. Der Übende konditioniert nicht sich selbst, sondern er versucht, sich einem Gegenüber zu öffnen. Zu entscheiden, was mehr Gottes Willen entspricht, kommt nicht nur den Übenden, sondern letztlich Gott zu. Denn auch wenn es verschiedene Arten und Zeiten für eine grundsätzliche Wahl, die ein Leben prägen soll, gibt (GÜ 175–188), so ist es allein Gott, der diese Freiheit ermöglicht und zugleich die Entscheidung bestätigt (GÜ 183). Der wählende Mensch erwägt im Gebet, was er für das Bessere hält und legt dies Gott vor. Er muss daher nicht durch die Sorge einer drohenden Fehlentscheidung unter Druck geraten. Im Gebet erfährt er vielmehr, dass er Gott vertrauen darf, der gerade im ambivalenten, da nicht von vornherein festgelegten magis eine Möglichkeit des je individuell-konkreten Weges aufzeigt und mitgehen wird. So wechselt die Perspektive: Die göttliche Logik bestimmt die weltliche und nicht umgekehrt. Zur geistlichen Erfahrung zurückzukehren und diese im Alltag immer mehr zu leben, ist die Bestimmung des magis.

 


Pause von der Entfremdung

Anapausis und die Erlösungssehnsucht der Wüstenväter

Für P. Johannes Sauerwald OSB

„Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid?“ (Lk 7,24), fragt Jesus die Fans des Asketen, Propheten und Täufers Johannes. Ähnlich muss sich wohl fragen lassen, wer sich heute für die Wüstenmönche des frühen Christentums interessiert. Wandern wir lesend zu ihnen aus Neugier und Faszination für eine Zeit, „als die Religion noch nicht langweilig war“1? Es gibt ja genug Sensationelles zu bestaunen: ungestüme Radikalität, eine Askese, die mitunter Abenteuergeschichten produziert. Oder sind wir auf der Suche nach Anknüpfungspunkten für unsere eigene christliche Spiritualität, nach deren Quellen in der Tradition? Wir werden dann viele wirklich weise, seelenkundige, auch paradoxe Sprüche finden, die buddhistischen Weisheiten nicht nachstehen. Wir werden auch auf körperliche und seelische Selbstquälerei stoßen, auf Frauenfeindlichkeit und eine geradezu krankhaft anmutende Sexual-Phobie.

Vielleicht gehen wir aber auch forschend in die Wüste, um die Frage zunächst einmal an die frühen Einsiedler zu richten: „Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid?“ Was haben sie dort gesucht, was haben sie dort – wie man so sagt – „verloren gehabt“?

Ich bin bei dieser Nachfrage auf ein Wort gestoßen, dass vielfach variiert in den Sprüchen und Geschichten der Wüstenväter auftaucht: Anapausis (αναπαυσις, als Substantiv) oder anapauein (αναπαυειν, als Verb).2 Es scheint eine zentrale Rolle zu spielen bei dem, was die Väter in der Wüste suchten. Es bezeichnet auch das, was sie tatsächlich verloren hatten. Oft beschreibt es aber auch etwas, das sie vermeiden möchten oder sollen, vor dem sie geradezu fliehen. Das ist ein verwirrender, paradoxer Befund – und gerade deshalb eine heiße Spur auf der Suche nach dem, worum es diesen frühen Radikalen einer sich gerade etablierenden Christenheit ging.

Seine Ruhe haben wollen

Anapausis bedeutet so viel wie Ruhe.3 Es steckt ja unser Wort Pause darin, und auch in diesem schlichten Sinn wird Anapausis häufig gebraucht: als Unterbrechung von der Arbeit, als Ausruhen. Das Projekt der Einsiedeleien in der Wüste, also die Trennung von der „bürgerlichen“ Existenz, von den Siedlungen und ihrer Lebensweise, erscheint davon abgeleitet als eine große Unterbrechung der Normalität, wie das Betätigen einer Pausentaste, die den Gang der üblichen Geschäftigkeit stillstellt. Der Aufbruch in die Wüste ist eine Befreiungstat. „Die Freiheit, um die es in der Wüste geht, ist zunächst eine Freiheit von etwas.“4

„Ich möchte sorglos sein, wie die Engel sorglos sind, die nicht arbeiten, sondern ununterbrochen Gott dienen“, bekennt Johannes Kolobos am Anfang seines Weges ganz ungeschützt (I 128). Der Schritt „aus der Welt“ hinaus erfolgt also in der Sehnsucht nach einem engelgleichen Leben, das man sich sorglos und deshalb beruhigt vorstellt. Die Wüste ist für die Mönche „der Ort, wo die Seele sich finden kann, und noch stärker, wo sie ‚atmen kann‘“5, aufatmen, Luft holen. „Mönch werden“ wird in den Sprüchen mitunter einfach mit „Ruhe finden wollen“ gleichgesetzt (z.B. I 148). „Offensichtlich ist (…) die Absicht, Mönch zu werden bzw. sein zu wollen, mit der Suche nach Ruhe identisch.“6 Gelegentlich hat dies einen sehr greifbaren biografischen Hintergrund: Steuerflucht, Erbprobleme, Militärdienst, kriminelle Vergangenheit. Die gesuchte Ruhe ist durchaus nicht nur „spirituell“ gemeint.7

Die Mönche gehen also in die Wüste, um schlicht ihre Ruhe zu haben. Zuweilen wird auch die konkrete Wahl der Einsiedelei oder der Entschluss, sich einem erfahrenen Altvater anzuschließen, so begründet: „Ich habe eine solche Hoffnung, dass ich mich bei dir zur Ruhe bringe“, sagt dann etwa ein asketischer Anfänger (III 39).

Die Mönche wissen, dass mit dem Gang in die Wüste die Ruhe noch keineswegs erreicht ist – und durch die mönchische Lebensweise allein auch gar nicht erreicht werden kann. „Ich bin schon siebzig Jahre im Mönchsgewand, und noch keinen einzigen Tag fand ich Ruhe“, bekennt Abbas Theodoros von Pherme (I 113). Schließlich sind auch die Einsiedler nicht wirklich allein, sondern meist umgeben von anderen Einsiedlern. Das führt zu so viel Streit und Zwietracht, dass ein Bruder ausrufen kann: „Ich habe keine Ruhe, bis ich mich nicht gerächt habe.“ (I 285) Hier muss ein anderer Mönch seelsorgerisch dafür sorgen, dass der Bruder Ruhe findet vor seinen Rachegelüsten; wie es an anderer Stelle heißt: „Wirf von dir alle Verfehlungen und alles Böse, damit du Ruhe findest.“ (III 23) Denn die Ruhe ist auch die des guten Gewissens (III 41), sie hat mit dem Verhältnis zu den anderen zu tun: „Verachte niemanden, verurteile niemanden, verleumde nicht, dann gewährt Gott dir Ruhe.“ (III 41) Und weil dies so häufig nicht gelingt, sind auch Reue und Buße ein Weg zur Ruhe zurück: „Vertrau dich Gott an mit vielen Tränen, und du hast Ruhe.“ (III 55)

Pause machen

Wer also ausgezogen ist, um in der Wüste Ruhe zu finden, muss feststellen, dass sie auch dort nicht einfach da ist, sondern erst gefunden, hergestellt und erreicht werden will. „Eine Wüstenerfahrung (…) ist gleichbedeutend mit einer Reise ins Innere, auf der man doch immer wieder mit der Welt konfrontiert wird.“8 Die Existenz des Einsiedlers soll Ruhe von der Welt – im Sinne der profanen, „weltlichen“ Lebensweise – sein. Aber weil sie das dann doch nicht ist, weil „die Welt“ mit und in den Brüdern mitgezogen ist, gilt es, die Unterbrechung, die Pause nun in der asketischen Existenz einzuüben, zu praktizieren. Das bedeutet auch für die strengen Wüstenmönche, mitunter Pause zu machen, auch von der Askese und den geistlichen Übungen. Für frisches Wasser zu sorgen, kann anapauein heißen, also erfrischen, erquicken (I 185). Anapausis kann bedeuten, regelmäßig eine Pause vom Fasten zu machen und besser jeden Tag ein halbes Brot zu essen als nur jeden zweiten Tag ein ganzes (I 206). Auch das Mönchsein benötigt eine Pausentaste, welche das Geschehen zwischendurch anzuhalten vermag – und „aufhören“ oder „anhalten“ ist tatsächlich auch eine der gewöhnlichen Wortbedeutungen von anapauein.

Nun verbinden wir heute die Pause vor allem mit „Arbeit“. Ihr gilt ja unsere ganze Anspannung. Als Pause von der Arbeit dienen uns deshalb auch Entspannungstechniken. Für die Wüstenmönche sieht es geradezu umgekehrt aus: Ihre Hauptbeschäftigung ist das meditierende Sitzen, das Gebet, das Schweigen. Allerdings arbeiten sie auch, für ihren Lebensunterhalt und um nicht dem Müßiggang zu verfallen. Aber diese Arbeit soll gerade keinen hohen Eigenwert haben. Sie soll wie nebenbei ablaufen, soll „leicht von der Hand“ gehen9. So berichtet eine anonyme Geschichte davon, wie ein großer Alter sich die Arbeit jüngerer Brüder vorführen lässt: Seile flechten oder Binsenmatten oder Siebe anfertigen, all das heißt er gut, auch das Schönschreiben. Aber: „Für das Leinenweben habe ich nichts übrig, weil es geschäftig ist.“ (II 170) Offenbar ist diese Tätigkeit zu sehr auf das Produkt gerichtet und das Produkt zu wertvoll – so wird die Arbeit zum eigentlichen Zweck, sie absorbiert den Mönch, und damit auch seine Ruhe.

Der Mönch soll sich nicht an seine Arbeit verlieren, indem es ihm in der Arbeit um das Produkt geht. Er soll zur Welt der Dinge Distanz, ja Indifferenz gewinnen, um zu sich selbst zu finden. Die Arbeit der Mönche dient gerade ihrer Loslösung von der „Welt“. Deshalb werden in den Apophtegmata Pausen von der Arbeit nie Thema. Eher hat die Arbeit selbst Pausencharakter, ganz im Wortsinn unseres Leitbegriffs: weil sie ruhig sein soll.

Versacken

Doch nun die irritierende Gegenprobe: Anapausis ist an einer Vielzahl von Stellen ein deutlich negativ besetzter Begriff. Anapausis ist geradezu das, wovon der Mönch geflohen ist – und was er unter allen Umständen zu vermeiden hat, was er sogar „hassen“ (III 62) soll!

Zunächst einmal gibt es die falsche, satte, bürgerliche „Ruhe dieser Welt“ (I 166). Das kann die „leibliche Ruhe“ sein (I 232), oder auch „Gewinn und Ehre“ (III 43), also natürlich auch „Geld“, das bekanntlich beruhigt (III 51), aber auch die eigenen „Wünsche und die Selbstrechtfertigungen“ (III 45 f.). All dies wird in offensichtlich ablehnendem Sinn mit Anapausis identifiziert. Von ihr wendet der Mönch sich gerade ab. „Kennzeichen des zur wahren αναπαυσις führenden Weges ist der von Mühe und Entbehrung gekennzeichnete Anfang; wo das Gegenteil der Fall ist, handelt es sich um eine irdische, gewissermaßen teuflische Ruhe.“10

Da freut sich zum Beispiel einer, dass er die Leidenschaften überwunden hat: Er habe Ruhe gefunden und keinen inneren Kampf mehr. Doch Johannes Kolobos tadelt den selbstsicheren Bruder: „Geh und bitte Gott, dass der Kampf (wieder) zu dir komme, und die Not und Demut, die du vorher hattest. Denn durch die Kämpfe schreitet die Seele fort.“ (I 131) Ein anonymer Alter spricht paradox von einer Anapausis, welche das Anapauein verhindert: „Solange du mit Zufriedenheit (anapausis; d.h. die Ruhe, die satte Zufriedenheit) handelst, solange kannst du Gott nicht beruhigen (anapauo).“ (III 39) Hier schlägt die Rede von der Anapausis in einem Satz von der gewonnenen eigenen Ruhe zur verlorenen Ruhe um, die eigentlich die Ruhe Gottes selbst ist.

Dagegen hilft nur der erneute Aufbruch: „Wer Ruhe hat, lasse sie und ergreife den engen Weg.“ (I 250) In diesem Sinn gibt es nie Ruhe für die Mönche. Sie dürfen mit ihrem Bemühen, mit ihrem inneren Weg „nicht aufhören“ (I 295), und Aufhören heißt eben auch Anapauein. Die Mönche suchen die Ruhe – indem sie die (falsche) Ruhe fliehen. Aber was macht den Unterschied zwischen gesuchter und falscher Ruhe aus? Sicher lassen sich, wie gerade gezeigt, Faulheit und spirituelle Ruhe unterscheiden – aber ist dieser Unterschied immer sichtbar, äußerlich, phänomenal zu beobachten?

„Viele nahmen sich jetzt schon die Gelegenheit zur Ruhe, bevor Gott sie ihnen gewährte“, sagt Abbas Theodoros von Pherme (I 116). Hier unterscheidet die Zeit zwischen richtiger und falscher Ruhe. Gelegenheit heißt im Original: Kairos – ein wichtiges Wort des Neuen Testaments. Kairos ist der gegebene, geschenkte, von Gott gewirkte richtige Augenblick, den es zu erkennen und zu erfassen gilt. Ihn eigenmächtig vorwegzunehmen, bedeutet, zu früh aufzuhören und eine Flucht vor der Berufung. Echte Ruhe ist nicht machbar: „Wenn wir der Ruhe nachjagen, flieht uns die Gnade Gottes, wenn wir (die Ruhe) fliehen, jagt sie uns nach.“ (III 45)

Dagegen zitiert Poimen einmal mit bewusster Freude an der Paradoxie einen Ausspruch des Presbyters Isidoros, nach dem die Mönche „der Mühe wegen an diesen Ort gekommen“ seien. Wenn die Brüder zu versacken drohen, dann möchte Isidoros wieder aufbrechen, „um wegzugehen, wo Mühe ist und ich dort Ruhe finde“ (I 233). Ruhe finden, wo Mühe ist: Das erinnert an den Vers aus dem (mittelalterlichen, klösterlichen) Pfingsthymnus Veni Creator Spiritus, wo es vom Heiligen Geist heißt: „In der Unrast schenkst du Ruh‘.“ Diese Ruhe wird also nicht nach oder zwischen der Unrast geschenkt, gerade nicht als Pause, sondern mitten darin, mitten in der Mühe. Darin wird sie erkennbar als Zustand, den wir nicht selbst herstellen, jedenfalls nicht eigenmächtig jederzeit herbeiführen können.

In diesem Sinne stehen bei Poimen zwei gegensätzliche Verwendungen von Anapausis betont in zwei Sprüchen gleich hintereinander: „Der (Eigen)wille, die Ruhe und die Gewöhnung daran werfen den Menschen nieder.“ (I 242) Das ist geistliche Selbstgefälligkeit. „Wenn du verschwiegen bist, wirst du die Ruhe haben an jedem Ort, wo du wohnst.“ (I 242) Das ist die stille Erwartungshaltung für das Geschenk der Ruhe, die sich überall einstellen kann, also auch, wo die äußeren Bedingungen denkbar schlecht dafür zu sein scheinen.

Was diese Sprüche in paradoxer Verkürzung ausdrücken, bringt eine Geschichte um Abbas Rhomaios in eine narrative Logik. Dieser Rhomaios – ein Römer also – stammte aus wohlhabenden Verhältnissen; die Geschichte nennt dies ruhige, also Anapausis-Verhältnisse. Hier steht unser Begriff schlicht für die bürgerliche Welt. Nachdem Rhomaios schon 25 Jahre in der Wüste lebt und ein berühmter Altvater geworden ist, besucht ihn ein anderer ebensolcher, der aber ein einheimischer Ägypter ist. Er ist verwundert über die recht komfortable Lebensführung des Rhomaios: Er hat einen Knecht, weiche Kleidung, Fell und Kopfkissen auf dem Strohsack, Sandalen an den Füßen. Und dann lässt er dem Gast auch noch ein Festessen mit Gemüse und Wein bereiten. Der Ägypter ist befremdet, am nächsten Morgen will er wieder davongehen, enttäuscht, weil er keinen asketischen Heroen gefunden hat. Doch Rhomaios verwickelt ihn in ein Gespräch. Darin vergleichen sie ihre Herkunft: Der Ägypter kannte auch im weltlichen Leben nur Armut, schlief als einfacher Arbeiter auf dem Acker, kannte kein Bad und trank nie Wein. Rhomaios dagegen lebte lange im Palast des Kaisers in Konstantinopel. Die Pointe: Rhomaios hat bei seinem Gang in die Wüste viel mehr aufgegeben, sein jetziges Leben unterscheidet sich viel radikaler von dem zuvor als bei dem armen Ägypter, der nie viel anders lebte als ein Wüstenmönch. Außerdem ist Rhomaios krank und braucht deshalb die kleinen Annehmlichkeiten.

 

Am Ende dieser langen Erzählung fällt dann das Wort Anapausis gleich drei Mal kurz hintereinander: Nach einer kurzen Pause lädt Rhomaios seinen Gast zum Psalmengebet ein. Der bekennt nun: „Du kamst aus einer großen Ruhe (…) von viel Ehre und Reichtum in diese Niedrigkeit und Armut.“ (I 282) Aber Rhomaios selbst sagt von sich gerade umgekehrt: „Von der großen Bedrängnis der Welt kam ich zur Ruhe.“ (ebd.) Hier ist Anapausis in dreifacher Bedeutung: die schlichte Pause; die falsche weltliche Beruhigtheit; jene Ruhe, in welche die Mönche eingehen möchten.

Erlöst sein

Schulz und Ziemer unterscheiden in ihrer Untersuchung drei Dimensionen der Ruhe in den Apophtegmata11: (1.) Die Ruhe als geistlicher Zustand, (2.) als geistliche Praxis bzw. spirituelle Übung und (3.) als allgemeine Erfahrung. Die paradox-gegensätzliche Zuspitzung des Begriffs, die ich zu zeigen versuchte, wird so jedoch kaum erfasst. Vor allem aber geht das Bedeutungsfeld von Anapausis noch darüber hinaus. Die Ruhe als eigentliches Ziel und größtes Geschenk für die Mönche ist m.E. ein hoch aufgeladener Begriff – nahe dem biblischen Shalom bzw. dem Sabbat.

Ruhe ist, wie schon im ersten Abschnitt gezeigt, ein Wort für das Ziel, um dessen willen man in die Wüste geht. Ruhe ist oft der Inbegriff für die Verheißung, die auf dem mönchischen Weg liegt: „Habe die Gesinnung eines Fremdlings“, sagt Poimen, „und du wirst Ruhe haben.“ (II,21) Ruhe ist dann in der Wüste ein Wort für die Lösung, die man in inneren Kämpfen und in Auseinandersetzung mit den Mitmenschen erreicht. „Und er hatte Ruhe“ wirkt geradezu wie eine Formel für das Erreichen solch einer Lösung (z.B. I 102; I 277). Die kleinen Geschichten der Apophtegmata schnüren ja oft in großer Verknappung einen Konflikt-Knoten; löst er sich, bedeutet dies Anapausis. Das deutsche Wort Lösung ist deshalb für diesen Wortgebrauch sehr passend12: Die Anapausis bedeutet Gelöstheit, Loslassen – also vielleicht gar Er-lösung?

Zu fragen ist, inwieweit die Wüstenväter der christlichen Lehre von Rechtfertigung und Gnade gerecht werden, oder nicht doch eine Art Methodik der Selbsterlösung, der spirituellen „Anthropotechnik“ betreiben.13 Zweifellos sind die Wüstenväter in den Augen des Dogmatikers überwiegend „Pelagianer“: Sie glauben wohl an die Vergebung Gottes, aber dafür muss der Mensch erst einmal einen Anfang der Buße setzen und dann den guten Weg weitergehen. Das theologische Problem dürfte hier allerdings nicht in einer falschen Theologie, sondern in der Verweigerung gegenüber jeder nur theoretisch und spekulativ erscheinenden Theologie liegen. Die Wüstenväter sind Praktiker, sind geradezu Empiriker der Selbsterfahrung. Sie können mit der Verkündigung einer bedingungslosen und zuvorkommenden Gnade nichts anfangen, wenn es um die berühmte Grundfrage der Apophtegmata geht: „Was soll ich tun?“ Denn auch wenn ich theologisch davon ausgehe, dass schon diese Frage eine Frage aus Gnade ist, ändert das nichts daran, dass ich sie praktisch beantworten muss.

Das bedeutet keineswegs, dass die Wüstenväter nicht um die Gnade wissen, und damit auch um die Erlösung, die man nicht selbst erwirken kann. Schließlich bedeutet „die Suche nach αναπαυσις im Grunde nichts anderes als die Suche nach Gott selbst“14, also nach dem schlechthin Unverfügbaren. In einer ungewöhnlich langen Gesprächseinheit mit Abbas Moses wird das regelrecht durchgespielt: Gottes Unverfügbarkeit und die menschliche Bereitung für sie. Auf die Frage eines Bruders: „Was hilft dem Menschen in jeder Plage?“, lautet dessen Antwort: „Gott ist die Hilfe.“ (I 196) Die dazu nötigen Haltungen sind Demut, Beweinen der eigenen Sünde, Gebet – und dann „hat er schnell Ruhe“ (ebd.). D.h. doch: Dieser unserer Öffnung zu ihm antwortet Gott mit seiner Hilfe, das Ergebnis ist dann die Anapausis. Doch das Gespräch nimmt noch eine zweite Schleife, denn der Bruder fragt nun über den Umgang mit den Fehlern untereinander. Die Antwort des Moses schärft das Evangelium ein: Nicht richten, niemand verachten, um dann in großer Feierlichkeit zu schließen: „Denn das ist der Friede. Tröste dich damit: Nur kurze Zeit ist die Mühe, ewig aber die Ruhe, durch die Gnade des Wortes Gottes. Amen.“ (I 197)

Hier kommt mit der Gnade, dem Frieden und der Ruhe eine eschatologische Qualität ins Spiel – es ist sogar von „ewiger“ Ruhe die Rede. Tatsächlich steht in der gelungenen mönchischen Existenz, zumindest im Ideal, die Zeit gleichsam still: Jahre und Jahrzehnte vergehen ohne äußerliche Veränderung, wie stillgestellt. Die Erfahrung der Ruhe ist „mit einem neuen Verhältnis zur Zeit verbunden“15. In der Anapausis wird so etwas wie Erlösung wirklich erfahrbar. Gewiss, die Anapausis steht unter eschatologischem Vorbehalt. Im Glauben der Wüstenväter wird sie erst in der Vollendung, jenseits des Todes endgültig realisiert. Die Wüstenväter glauben nicht an ein endgültiges Ende von Mühe und Versuchung in diesem Leben. Dennoch ist das, was sich erst im Reich Gottes realisiert, eine Erfahrung, die man in der Anapausis schon in diesem Leben machen kann.

In diesem Willen zur Erfahrung steckt etwas, dass ich das utopische Moment bei den Wüstenvätern nennen möchte. Es ist die Utopie des biblischen Sabbats. Der Philosoph Giorgio Agamben hat herausgearbeitet, dass die christliche Theologie diesen Sabbat, diese Ruhe Gottes (Gen 1), stets als letztes Ziel der Schöpfung festgehalten hat, obwohl sie in ihrer Vorsehungslehre und Heilsgeschichts-Theologie Gott als tätig in der Welt, ja geradezu als Regenten einer großen Heils-Maschine darstellt. Dennoch hat sie den Menschen letztlich als kontemplativ, als zur Ruhe bestimmt verstanden. Er sei das „sabbatische Tier par excellence“16. Diese sabbatliche Existenz ist das „messianische Leben“, auf das die biblischen Verheißungen deuten, und somit ist „Untätigkeit (…) die messianische Tätigkeit per excellence“17. In diesem Paradox der höchst tätigen, der kontemplativen Untätigkeit sieht Agamben ein utopisches Erbe des Abendlandes, indem hier der Mensch jenseits seiner Werke, seiner Arbeit, seiner Funktionen und Ergebnisse gedacht wird: „Die eigentliche menschliche Praxis ist die Sabbatruhe (…). Insofern sind Kontemplation und Untätigkeit metaphysische Operatoren der Anthropogenese.“18

Gewiss hat die christliche Tradition den vollendeten Sabbat und damit auch die vollendete Kontemplation des Menschen, seine „beseligende Gottesschau“, stets ins Jenseits verlegt. Aber diese Anthropologie – zumal sie gespeist blieb von den messianischen biblischen Verheißungen, die keineswegs nur jenseitig reden – hat doch eine utopische Kraft für diese Welt: Sie begründet die Würde des Menschen jenseits seiner Nützlichkeit. Sie macht die Selbst-Erfahrung gelungenen Menschseins fest in einer Kontemplation, einer Ruhe, die nichts mehr will, als zu sein. Ist es nicht genau dies, wonach die Wüstenväter in ihrer radikalen Kur der Vereinfachung des Lebens streben?

Sich auf diese Erfahrung der Ruhe hinzubewegen, gilt alle asketische und spirituelle Mühe der Mönche, was ihrem Weg tatsächlich eine große Angestrengtheit, einen mitunter fast verzweifelten Ernst verleiht. So erzählt Abbas Petros: Als er den kranken Abbas Hesaias besucht, findet er diesen von Mühe gequält, er findet ihn in Todesangst. „Die Furcht vor jener sehr dunklen Stunde hält mich fest“, bekennt ihm Hesaias: „(…) wenn ich (vielleicht) vom Angesicht Gottes weggerissen werde. Dann gibt es niemanden mehr, der mich erhört, und auch keine Aussicht auf Ruhe.“ (III 21) Solche Höllenangst ist die große Schattenseite einer Spiritualität der Mühe um Vollkommenheit, so wie die Verzweiflung schon immer als Schatten der Utopie folgte. Denn Hesaias Angst entsteht nicht abstrakt aus der Drohung des Jüngsten Gerichts; sie entsteht vielmehr aus Angst vor jener (Todes-)Stunde, in der der Asket sich nicht mehr um die Erfahrung der Ruhe mühen kann, in der er sich Gott ganz überlassen muss – könnte da nicht die letzte Gottverlassenheit drohen?