Buch lesen: «Deutsche Geschichten»
GEVINON VON MEDEM (HG.)
DEUTSCHE GESCHICHTEN
VOM ERSTEN WELTKRIEG BIS HEUTE EIN LESEBUCH
GEVINON GRÄFIN VON DEM BUSSCHE-KESSELL geb. Freiin von Medem, Jg. 1957, Studium der Hispanistik, Anglistik, Philosophie an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn (M. A.), Post-Graduate Studium an der School of Advanced International Studies in Washington D. C., Assistentin im Bundestag bei Franz Ludwig Graf von Stauffenberg, Mitarbeiterin der Deutschen Bank (u. a. delegiert zum Europäischen Arbeitgeberverband in Brüssel), Europabeauftragte des Wirtschaftsrates der CDU, seit 1995 Mitarbeit im Familienbetrieb Schloss Neuenhof. Herausgeberin eines Buches über den Widerstandskämpfer Axel von dem Bussche (1994).
EDITORISCHE NOTIZ
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2014
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Umschlaggestaltung: Birte Janzen, eindesign.de
Layout und Satz: Stefanie Bader, Leipzig
Karten: Anneli Nau, München
Redaktion: Sarah Ackermann
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 9783954623525
»Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturstand … Er muß also gestiftet werden … «
IMMANUEL KANT
Zum ewigen Frieden
INHALT
Cover
Titel
Zum Autor
Impressum
Zitat
Einführung
I. GEWITTERWOLKEN AM HORIZONT
Ein Jahrhundert beginnt (1900–1913)
Bertha von Suttner: Die erste Haager Friedenskonferenz
Zeitdokument: Das Zarenmanifest von 1899
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern
Wilhelm II: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918
II. DIE ENTFESSELUNG DER MÄCHTE
Der Erste Weltkrieg (1914–1918)
Eduard von Keyserling: Über die Vaterlandsliebe
Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit
Ernst Jünger: In Stahlgewittern
III. VERSAILLES UND SEINE FOLGEN
Der Versailler Vertrag und die Weimarer Republik (1919–1933)
Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau: Rede bei der Überreichung des Vertragsentwurfs durch die Alliierten und Assoziierten Mächte
Zeitdokument: Mantelnote zur Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte an den Präsidenten der Deutschen Delegation (1919)
Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun?
Kommunismus
Gertrud von den Brincken: Land unter
Arthur Koestler: Sonnenfinsternis
Nationalsozialismus
Thomas Mann: Deutsche Ansprache
Zionismus/Antisemitismus
Theodor Herzl: Der Judenstaat
Manés Sperber: Churban oder Die unfaßbare Gewißheit
Die Suche nach einer neuen europäischen Ordnung
Richard N. Coudenhove-Kalergi: Pan-Europa
IV. LEBEN IN DER DIKTATUR
Der Tragödie erster Teil (1933–1938)
Gottfried Benn: Antwort an die literarischen Emigranten
Erich Kästner: Fabian – die Geschichte eines Moralisten
Werner Finck: Witz als Schicksal, Schicksal als Witz
Der Tragödie zweiter Teil – Deutsche im Widerstand (1939–1945)
Inge Scholl: Die Weiße Rose
Hans-Friedrich Lenz: »Sagen Sie, Herr Pfarrer, wie kommen Sie zur SS?«
Zeitdokument: Theologische Erklärung der Bekenntnissynode in Barmen (1934)
Zeitdokument: Die Tätigkeit des IKRK zugunsten der in den deutschen Konzentrationslagern inhaftierten Zivilpersonen (1944/45)
Axel von dem Bussche: Eid und Schuld
Ricarda Huch: In einem Gedenkbuch sammeln… Bilder deutscher Widerstandskämpfer
V. JALTA UND DIE TEILUNG DEUTSCHLANDS UND EUROPAS (1945 – 1949)
Flucht und Vertreibung
Marion Gräfin Dönhoff: Namen, die keiner mehr nennt
Sigrid Reisch von Wagner: Baltisch-Ostpreußische Erinnerungen
Werner Bergengruen: An die Völker der Erde
Zeitdokument: Charta der Heimatvertriebenen (1950)
Carl Zuckmayer: Deutschlandbericht
Deutsche in Gefangenschaft
Kurt Fricke: Spiel am Abgrund – Heinrich George
Deutsche im Ausland
Magnus Freiherr von Braun: Weg durch vier Zeitepochen
VI. VON DER ENGLISCHEN, AMERIKANISCHEN UND FRANZÖSISCHEN BESATZUNGSZONE ZUR BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
Ernst von Salomon: Der Fragebogen
Hermann Josef Abs: Entscheidungen
Ludwig Erhard: Wohlstand für alle
Alexander Kluge: Reden über das eigene Land
Horst Krüger: Tiefer deutscher Traum
Hilde Domin: Unter Akrobaten und Vögeln
Helmut Gollwitzer: Beerdigungspredigt für Rudi Dutschke
Margarete Buber-Neumann: Verwirrung auf allen Stufen
VII. VON DER SOWJETISCH BESETZTEN ZONE ZUR DDR
Eckart Kroneberg: Beschreibung einer Mauer
Wolf Biermann: Wolfgang Heise – mein DDR-Voltaire
Joachim Gauck: Winter im Sommer – Frühling im Herbst
Renate Feyl: Ausharren im Paradies
Manuela Anhalt: Manuelas Geschichte
Erich Loest: Nikolaikirche
VIII. DIE ÜBERWINDUNG DER TEILUNG EUROPAS
Die neue Ostpolitik
Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg: Zu den Ostverträgen (1970)
Willy Brandt: Die neue Ostpolitik (1972)
Die deutsche Wiedervereinigung 1990
Martin Walser: Über Deutschland reden
Peter Sloterdijk: Theorie der Nachkriegszeiten
IX. VISIONEN FÜR EIN GEEINTES EUROPA
Carl J. Burckhardt: Heimat
Angela Merkel: Rede zur Verleihung des Internationalen Karlspreises
X. AUSBLICK
Ausblick: Deutschland in Europa
ANHANG
Alphabetische Liste der Autoren und Texte
Chronologie
Liste der Mitglieder der EU und des Europarates
Filmhinweise
Abbildungsnachweis
Fußnoten
EINFÜHRUNG
Geschichte ist immer auch erfahrene Geschichte, sei es durch unmittelbares Erleben oder durch Vermittlung von Eltern und Großeltern. So verbinden mich mit dem zurückliegenden Jahrhundert eigene Erfahrungen und Begegnungen mit Persönlichkeiten, die mich zur Herausgabe dieses Geschichten-Buches veranlasst haben.
Meine persönlichen und familiären Bezüge zu der im Buch sich widerspiegelnden Geschichte sind vielfältig. Väterlicherseits stammt meine Familie aus dem Baltikum/Kurland, dem heutigen Lettland. Mein Vater (1913 – 1993) hat mit seinem Leben fast das ganze letzte Jahrhundert abgedeckt. Meine Mutter (1923 – 2012), aus einer niedersächsischen Familie stammend, gehörte zu der Generation, deren Jugend in die schwierigen Jahre 1933 bis 1945 fiel. Für beide galt sinngemäß, was Alexander Kluge in seinem Beitrag »Reden über das eigene Land: Deutschland« 1983 schreibt: » … und wenn ich jetzt an konkrete Menschen denke, …, bitte ich Sie, an einen Menschen zu denken, der 1932 arbeitet. Er widmet seine Zeit hauptsächlich der Arbeit, er verausgabt sich, und er muss auch Hoffnung haben, weil der Mensch nur so sein Können einsetzt. … Und jetzt wird er in einen Krieg geführt; das war nicht in seinem Sinn, aber er ist in diesem Krieg, und jetzt verausgabt er nochmals für den Endsieg seine Kräfte. Und ich kann nicht verächtlich von ihm sprechen, nachdem der Krieg zu Ende ist und alles in Trümmern liegt und alle Hoffnungen eigentlich zerstört sind, und ich frage Sie: Wer zählt diese Inflation und diese Währungswechsel, die in der Verausgabung von Hoffnung und Vertrauen ihren Kern haben?«
Bei der Auswahl der Texte aus dem deutschsprachigen Raum habe ich mich von dem Gefühl leiten lassen, das Ricarda Huch beseelte, als sie 1946 ihren Aufruf »Für die Märtyrer der Freiheit« schrieb: »Wie wir der Luft bedürfen, um zu atmen, des Lichtes, um zu sehen, so bedürfen wir edler Menschen, um zu leben. Sie reißen uns aus dem Sumpf des Alltäglichen, sie entzünden uns zum Kampf gegen das Schlechte, sie nähren in uns den Glauben an das Göttliche im Menschen«. Dieses Lesebuch möchte die Geschichte Deutschlands im letzten Jahrhundert aus der Sicht der Menschen spiegeln, die um und unter der wechselvollen Geschichte litten.
Stefan Zweig schreibt in »Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers« zu den Ereignissen bis zum Zweiten Weltkrieg: »Jeder von uns, auch der Kleinste und Geringste, ist in seiner innersten Existenz aufgewühlt worden von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde«. Um wie viel mehr trifft dies auch auf die Nachkriegszeit zu, in der die Landkarte Europas erneut radikal verändert wurde. Nationales und hegemoniales Denken des 19. Jahrhunderts bestimmten die Verhandlungen des Versailler Vertrages, der mit seinen willkürlichen Grenzziehungen und der Schaffung neuer Staaten zu keiner Befriedung, sondern maßgeblich zum Ausbruch eines noch schlimmeren Weltkriegs führte. Und auch der Waffenstillstand 1945 führte nicht zu einer Befriedung Europas und der Welt, sondern zu seiner Teilung und dem Kalten Krieg zwischen dem freien Westen und der Sowjetdiktatur mit ihren Satelliten. Die Berlinkrise 1948, der 17. Juni 1953, der Ungarnaufstand 1956 und der Prager Frühling 1968 drohten Europa zu einem erneuten Krieg zu entflammen. Und kaum ruhten die Waffen in Europa, da gingen die Kriege in Indochina, Korea und Vietnam weiter, um nur die bekannteren Kriegsschauplätze zu nennen.
Dass Deutschland von 1945 bis 1989 in einen freiheitlichen Staat und eine kommunistische Diktatur geteilt war, erscheint der Generation nach 1989 fast so fremd wie die Geschichte des »Dritten Reiches«. Und doch ist diese friedliche Revolution in Deutschland, die den Eisernen Vorhang zerriss, ein eigentlich unfassbares Ereignis. Erst mit der Wiedervereinigung hat Deutschland 1990 auch seine völkerrechtliche Souveränität erlangt. Die Überwindung der Teilung Deutschlands war zugleich die Überwindung der Teilung Europas. Aus dem Europa der zwölf von 1989 ist heute ein Europa der 28 Staaten geworden. Weitere Länder vor allem aus Mittel- und Osteuropa sowie die Türkei – als einziges nichtchristliches Land – stehen in der Warteschlange.
Haben wir in Europa aus den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts genug gelernt, um unsere europäische und globale Zukunft in Frieden und Freiheit zu gestalten, oder schreiben wir erneut das Jahr 1914? Haben wir wirklich verstanden, dass durch die amerikanische Entwicklung der Atombombe und ihren ersten und bisher einzigen Einsatz 1945 in Hiroshima und Nagasaki ein atomares Wettrüsten begann, dessen Bedrohung durch die Verbreitung von Atomwaffen ständig zunimmt? Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union 2012 ist hoffentlich ein gutes Zeichen dafür, dass die Länder Europas aus ihrer Geschichte gelernt haben.
Dieses Buch möge einen Beitrag dazu leisten, die europäische Geschichte des letzten Jahrhunderts zu verstehen – nicht mit den Augen des »wissenden« Historikers, sondern mit den Augen derer, die die jeweilige Zeit miterlebt und durchlitten haben. Schon meine Generation (Jg. 1957) hat von den existentiellen Nöten der Eltern- und Großelterngeneration nicht mehr viel mitbekommen. Uns fehlt schlichtweg das Verständnis für die extremen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Umstände, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmten. In Europa leben wir heute in einer Zeit, in der Krieg, Hunger, Terror fast ausschließlich nur noch in Film und Medien vermittelt werden. Zum Glück. Doch das darf uns nicht dazu verleiten, über Menschen zu richten, die diesen Schrecken ausgesetzt waren und trotzdem ihr Leben leben mussten –, und sollte anregen zu kritischer Sicht heutiger Ereignisse und ihrer Protagonisten. Die Lektüren zu diesem Buch haben mich zutiefst dankbar dafür gemacht, nach den Grauen des Zweiten Weltkrieges in Freiheit und Rechtsstaatlichkeit aufgewachsen zu sein. Wenn der Leser dieses Buches diese Dankbarkeit spürt, hat das Buch seinen Sinn erfüllt.
Mein Dank gilt all jenen, die mich durch ihre konstruktiven Gedanken und Anregungen zu diesem Buch ermutigt und mir bei der Umsetzung geholfen haben.
Gevinon von Medem
im April 2014
I. GEWITTERWOLKEN AM HORIZONT
BERTHA VON SUTTNER (1843 – 1914)
Bertha von Suttner wird am 9. Juni 1843 als Tochter des Grafen Franz Michael und der Gräfin Sophie Wilhelmine Kinsky geb. von Körner in Prag geboren. 1873 wird sie, weil das Kinsky-Vermögen aufgebraucht ist, Erzieherin der Töchter des Freiherrn von Suttner. Dort lernt sie dessen Sohn Arthur, er ist sieben Jahre jünger als sie, kennen, den sie 1876 heiratet. 1878 beginnt sie zu schreiben. In »Inventarium der Seele« (1883) wird bereits die Frage nach der Berechtigung des Krieges behandelt. Der 1889 erschienene Antikriegs-Roman »Die Waffen nieder« begründet ihren Ruhm als Pazifistin. 1892 begegnet sie Alfred Nobel, der mit ihr zusammen den Plan eines Friedenspreises, des späteren Friedensnobelpreises, entwickelt. 1899 nimmt sie als einzige Frau und Nichtregierungsvertreterin an der 1. Haager Friedenskonferenz teil, die durch das sogenannte Zarenmanifest von Zar Niklaus II. initiiert worden war. 1906 wird ihr der Friedensnobelpreis verliehen.
Die zweite Haager Friedenskonferenz 1907 ist für sie keine »Friedenskonferenz«, sondern eine »Kriegsgebrauchskonferenz«. Bertha von Suttner stirbt am 21. Juni 1914 kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges, dessen Ausbruch sie drohend vorausgeahnt hatte.
BERTHA VON SUTTNER
DIE ERSTE HAAGER FRIEDENSKONFERENZ
Im Jahre 1900 habe ich ein umfangreiches Buch1 erscheinen lassen, in welchem ich alle Erlebnisse meines Haager Aufenthaltes, alle Berichte über die Verhandlungen, die Texte der wichtigsten Reden und den Wortlaut der verschiedenen Konventionen zusammengefaßt habe. Auf diese Publikation verweise ich jene, die über den Charakter, den Verlauf und die direkten Ergebnisse jener historischen Versammlung detaillierten Bericht zu erhalten wünschen; hier werde ich nur die persönlichen Erinnerungen jener Tage fixieren; die Eintragungen in mein Privatjournal, die ich für jenes Buch als Material herangezogen und ausgeführt habe, werde ich hier in ihrer Originalform abschreiben, natürlich mit Ausschluß des Allzuprivaten, daher Uninteressanten.
Dabei werden sich wohl auch Verhandlungstexte und weltpolitische Betrachtungen einstellen; denn wenn ich die Geschichte meines Lebens treulich wiedergebe, so gebührt diesen Dingen ein breiter Raum. Sie waren ja nicht zur zufälligen Stickerei, sondern zum Gewebe selbst meiner Existenz geworden. Was in der Friedenssache dafür oder dagegen in der Welt geschah – und namentlich was in jenen Haager Tagen geschah, die doch im Namen jener Sache einberufen worden –, das war mir nicht Erfahrung, es war mir Erlebnis.
16. Mai. Ankunft im Haag. Die Stadt in Frühlingszauber getaucht. Heller Sonnenschein. Fliederdüfte in der kühlen Luft. Unsere Zimmer im Hotel bereit. Neun Uhr abends. Wir sitzen noch im Speisesaal. Der Korrespondent des »Neuen Wiener Tagblatt« läßt sich melden. Nehme ihn an, und er setzt sich zu unserem Tisch. Mit großer Heiterkeit beginnt er die Unterhaltung:
»Habe eben mit dem Vertreter einer Großmacht gesprochen: Man ist sich ja so ziemlich im klaren über die voraussichtlichen Ergebnisse … Erweiterung der Genfer Konvention … «
»Das wäre – wenn weiter nichts erreicht würde – ein arger Betrug an den Hoffnungen der Völker und auch eine Enttäuschung für den Zaren, dessen Wünsche sich auf das Schiedsgericht –«
Der Korrespondent unterbricht mich lachend: »Darüber ist auch gesprochen worden … nun, das ist einfach kindisch … die Staaten würden einem Spruch, der ihnen nicht behagt, nicht Folge leisten.«
»Der Fall ist noch kein einziges Mal vorgekommen.«
»Weil bisher nur über Kleinigkeiten Schiedssprüche gefällt wurden – handelt es sich aber um vitale Fragen … «
Also immer wieder die alten Argumente. Ich hörte sie schon ordentlich kommen, die »vitale Frage«, obwohl keiner recht weiß, was er sich dabei denkt. Was sollen denn diese »Lebens«angelegenheiten sein, die sich am besten durch hunderttausendfaches Totschlagen fördern lassen?
…
18. Mai. Der 18. Mai 1899! Daß es ein weltgeschichtliches Datum ist, das ich da niederschreibe, von dieser Ueberzeugung bin ich tief durchdrungen. Es ist das erstemal, seitdem Geschichte geschrieben wird, daß die Vertreter der Regierungen zusammenkommen, um die Mittel zu suchen, der Welt »dauernden, wahrhaften Frieden zu sichern«. Ob diese Mittel in der heute zu eröffnenden Konferenz schon gefunden werden oder nicht, das entscheidet nicht über die Größe des Ereignisses. In dem Suchen liegt die neue Richtung!
19. Mai. Der gestrige Tag verlief so: Des Morgens Gottesdienst in der russischen Kapelle zur Feier des Geburtstags des Zaren. Der Meine und ich sind dazu eingeladen. Es sind – der Raum ist klein – kaum hundert Menschen anwesend, die Herren in Galauniform, die Damen in lichter Toilette. – Das Hochamt beginnt. Andächtig und ehrfürchtig, alle stehend, folgen ihm die Versammelten. Mir ist, als sollte ich nicht für Nikolaus II. beten, sondern an ihn die Bitte richten: O du Kühner, bleibe stark! Laß den Undank und die Tücke und den Stumpfsinn der Welt nicht störend und lähmend zu dir dringen – wenn man dein Werk auch verkleinern, mißdeuten, vielleicht auch verhindern wollte – bleibe stark!
Der Pope reicht das Kreuz zum Kusse: die Messe ist aus. Jetzt werden Begrüßungen und Vorstellungen getauscht. Lerne die Frau des Ministers Beaufort kennen.
Fahrt zur Eröffnung. Strahlender Sonnenschein. Wie zu einem fröhlichen Prater- oder Bois-Korso fahren die zahlreichen Wagen durch die Alleen nach dem »Haus im Busch«. Am Gittertor leistet eine militärische Ehrenwache die Ehrenbezeugungen. Ich bin die einzige Frau, welcher der Zutritt gewährt wird.
Was ich hier empfand … es war wie die Erfüllung eines hochfliegenden Traumes. »Friedenskonferenz«! Zehn Jahre lang ist das Wort und die Sache verlacht worden – ihre Teilnehmer, machtlose Privatleute, gelten als »Utopisten« (beliebteste, höfliche Umschreibung für »verrückte Käuze«) –, jetzt versammeln sich auf den Ruf des gewaltigsten Kriegsherrn die Abgesandten aller Machthaber, und ihre Versammlung führt denselben Namen: »Friedenskonferenz«.
Aus der Eröffnungsrede des Ministers Beaufort notiert:
Durch seine Initiative hat der Kaiser von Rußland den von seinem Vorgänger Alexander I. ausgedrückten Wunsch erfüllen wollen, daß alle Herrscher Europas sich untereinander verständigen, um als Brüder zu leben und sich gegenseitig in ihren Bedürfnissen zu unterstützen.
Mir scheint, Nikolaus II. hat mehr gewollt; nicht um die Bedürfnisse aller Herrscher, sondern vielmehr aller Völker handelt es sich da. Die Rüstungen lasten auf den Völkern, nicht auf den Herrschern. Das sogenannte dynastische Interesse liegt eher in militärischem Pomp und dem Prestige der kriegerischen Gewaltfülle.
Und weiter; Beaufort:
Die Aufgabe der Konferenz ist, nach Mitteln zu suchen, um den unaufhörlichen Rüstungen ein Ziel zu setzen und die schwere Not, welche die Völker bedrückt, zu beendigen. Der Tag des Zusammentritts dieser Konferenz wird einer der hervorragendsten Tage in der Geschichte des endenden Jahrhunderts sein.
Nach Beauforts Rede wird Botschafter Staal zum Präsidenten der Konferenz erwählt.
Dann folgen die anderen Ernennungen – das Ganze dauert nur eine halbe Stunde – es sollte ja nur eine Eröffnungszeremonie sein. Die erste Sitzung wird für den 20. angesetzt und zugleich erklärt, daß zu den Verhandlungen die Journalisten nicht zugelassen würden. (Leider!)
19. Mai. Bloch angekommen. Begrüßen uns als alte Freunde. Ein Sechziger, mit kurzgestutztem grauem Bart, heiterem und sanftem Gesichtsausdruck, mit ungezwungenem, elegantem Auftreten, durchaus natürlicher, einfacher Sprechweise. Ich frage ihn aus über die Aufnahme seines Buches von seiten des Zaren. Bloch erzählt, und die im Salon anwesenden Pazifisten und Publizisten lauschen mit Interesse:
»Ja, der Zar hat das Werk eingehend studiert. Als er mich in Audienz empfing, lagen auf den Tischen die Karten und Tabellen des Buches ausgebreitet, und er ließ sich alle die Ziffern und Diagramme genau erklären. Ich erklärte – bis zur Müdigkeit, aber Nikolaus II. wurde nicht müde. Immer wieder stellte er neue Fragen oder streute Bemerkungen ein, die von seiner tiefen Anteilnahme, von seinem Interesse Zeugnis gaben. Also so würde ein nächster Krieg sich gestalten … das wären die Folgen? … «
Das Kriegsministerium, dem ein Exemplar vorgelegt werden mußte, hat dem Kaiser Rapport erstattet und für Autorisation der Veröffentlichung gestimmt. In der Begründung hieß es: »ein so umfangreiches, fachmännisch-technisch gehaltenes Buch wird nicht viel gelesen werden, ist daher weit weniger gefährlich als der Suttnersche Roman ›Die Waffen nieder.‹ Da die Zensur diesen freigelassen, so mag viel eher Blochs ›Krieg der Zukunft‹ passieren.«
Abends Rout bei Beaufort. So wie alle Routs in Hof- oder Diplomatenkreisen und doch so ganz anders! Etwas Neues ist in die Welt getreten – nämlich das offizielle Verhandeln des Themas »Weltfriede«, und das gibt notwendigerweise (ist es doch die Raison d’être des hiesigen Empfanges) den allgemeinen Gesprächsstoff ab. Eine Frage, die sehr allgemein als Anknüpfung der Unterhaltung benutzt wird, ist diese:
»Was erwarten Sie von der Konferenz?«
Auch an mich wurde diese Frage öfters gestellt, oder auch diese:
»Sind Sie nicht glücklich, Ihre Hoffnungen so verwirklicht zu sehen?«
»Ja, sehr glücklich, « konnte ich wahrheitsgetreu antworten; »daß so viel und dieses so bald geschehen werde, hatte ich nicht einmal gehofft.«
Auf die andere Frage mußte ich erwidern, daß ich von dieser ersten Konferenz nur erwarte, daß sie ein Anfang, ein erster Schritt, ein gelegter Grundstein sein werde.
Ich werde mit dem größten Teil der Anwesenden bekannt – auch mit dem Gesandten von China (der zugleich Botschafter am russischen Hofe ist) und seiner Frau. »In Petersburg habe ich viel von Ihnen sprechen gehört, « sagt mir Yang-Yü durch seinen Dolmetscher Lu Tseng-Tsiang, »so erzählte mir Graf Murawjew von seiner Unterredung mit Ihnen.«
Die junge Gattin des Delegierten von China trägt ihr Landeskostüm: gestickte seidene Gewänder, auf dem Kopfe eine kleine Mütze, zu beiden Seiten der Schläfen Papierblumen. Sie ist eine hübsche junge Frau, doch ganz von dem Typus, den man auf dem chinesischen Porzellan findet; dabei so stark geschminkt, daß das Gesicht einer unbeweglichen, emaillierten Maske gleicht. Sie ist sehr freundlich und schüttelt allen, die ihr vorgestellt werden, kräftig die Hand. Sie ist von ihrem Sohne, einem Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren, begleitet, der Englisch und Französisch spricht und ihre Konversation verdolmetscht.
…
20. Mai. Wieder Visitentournee. Durch die Straßen vom Haag fährt es sich eigentlich immer wie durch Parkanlagen. Nicht nur im »Bosch«, wo das der Konferenz überlassene »Huis« steht, überall ragen die alten Baumriesen, überall leuchten die grünen Rasenplätze und überall tönt jetzt zu dieser blütenreichen Maienzeit liebliches Vogelgezwitscher. Fast jedes Haus hat einen Garten, und Zinshäuser sieht man nicht; im Villenstil oder wie kleine Schlößchen gebaut, so ist jedes Haus nur das Heim einer Familie. Natürlich gilt dies von dem vornehmen Viertel, das um das königliche Palais herumliegt und das von den Plätzen, wo die ersten Hotels (Vieux Doelen u. s. w.) stehen, bis nach Scheveningen führt.
Unser Salon ist stets mit Besuchern gefüllt und vom frühen Morgen an Interviewer; heute unter anderen die Redakteure von »Frankfurter Zeitung«, »Echo de Paris« und »Black and White«.
Aus Paris die Nachricht, daß bei Frédéric Passy die Operation so böse Folgen gehabt, daß nicht nur unerträgliche Schmerzen sich einstellten, sondern sogar das Leben des Patienten in Gefahr schwebt. Große Bestürzung in unserem ganzen Kreise. Von den lebenden Friedenskämpfern ist Frédéric Passy allen, die ihn und sein Werk kennen, unstreitig der geliebteste und verehrteste.
Bei der heutigen ersten Plenarsitzung soll Herr von Staal bei seiner Ansprache die Ziele und die Richtung definieren, welche sein kaiserlicher Auftraggeber der Konferenz gegeben wünscht. Wie bedauerlich, daß der Presse der Zutritt verwehrt ist. Die Rede des Präsidenten müßte heute noch an alle Blätter der Welt telegraphiert werden.
21. Mai. Pfingstsonntag. Dr. Trueblood aus Boston angekommen. Er erzählt, daß er mit Bestimmtheit wisse, die amerikanische Regierung habe ihrem Delegierten einen ganz ausgearbeiteten Schiedsgerichtsplan mitgegeben.
Ein Bildhauer aus Berlin, Löher ist sein Name, zeigt uns das Modell zu einem Friedensdenkmal, das er gern in der Pariser Ausstellung von 1900 aufstellen wollte. So wird von immer mehr Seiten, in immer zahlreicheren Formen dem neuen Ideal gehuldigt.
Daneben freilich, wie eingewurzelt, wie mächtig ist noch das alte Ideal – dasjenige des Krieges – ringsum verbreitet – bis in die hiesige Konferenz herein: man lese nur Professor Stengels Broschüre … Und was auch zu fürchten ist: Ideen schreiten langsam, Ereignisse schnell. Wenn ein Fall wie Faschoda, wenn der Streit in Transvaal plötzlich zu einem Konflikt führt, während die Konferenz noch tagt, wie würde dies ihre theoretische Arbeit zerstören!
…
22. Mai. Ein neuerliches »Wiedersehen« mit einem alten Bekannten, den ich nie gesehen: Charles Richet besucht uns und bringt Grüße von unserem armen Passy. Es ist Hoffnung vorhanden, daß er genese, aber nicht, daß er hierherkomme. Richet zeigt sich als großer Enthusiast unserer Sache.
Ich wollte ihn zum Gabelfrühstück zurückhalten, er ist aber mit d’Estournelles beim französischen Gesandten eingeladen. Indessen erhalten wir eine Einladung zu einem Gabelfrühstück, das Frau Grete Moscheles dem amerikanischen Delegationschef und Botschafter in Berlin Andrew D. White gibt.
Was uns D. White mitteilte, erfüllte die Anwesenden mit lebhafter Genugtuung:
»Ich begehe keine Indiskretion«, sagte er beim Dessert, »wenn ich erzähle, daß wir schon in der ersten Sitzung der Schiedsgerichtskommission einen vollständigen Plan zu einem internationalen Tribunal vorlegen werden – und dies im Auftrag der amerikanischen Regierung. Noch darf ich die Details nicht geben – aber die Sache selbst wird und soll kein Geheimnis bleiben.«
23. Mai. Jetzt kennt man trotz verschlossener Türen die Eröffnungsrede Staals. Ein englisches Blatt brachte den Wortlaut. Ich notiere daraus die besonders bedeutungsvollen Stellen:
Der Name »Friedenskonferenz«, welchen der Instinkt der Völker, die Entscheidung der Regierungen vorwegnehmend, unserer Zusammenkunft gegeben hat, bezeichnet so recht den Hauptgegenstand unserer Bestrebungen; die »Friedenskonferenz« darf der ihr anvertrauten Mission nicht untreu werden, sie muß ein greifbares Resultat hervorbringen, welches die ganze Welt vertrauensvoll von ihr erwartet.
… Es sei mir erlaubt zu sagen, daß die Diplomatie, einem allgemeinen Entwicklungsgange folgend, nicht mehr wie einst eine Kunst ist, in welcher die persönliche Geschicklichkeit die Hauptrolle spielt, sondern im Begriffe steht, eine Wissenschaft zu werden, mit fixen Regeln zur Schlichtung internationaler Konflikte. Das ist heute das ideale Ziel, das sie vor Augen haben muß, und unzweifelhaft wird es ein großer Fortschritt sein, wenn es der Diplomatie schon hier gelingt, einige jener Regeln festzusetzen.
Daher werden wir uns auch in ganz besonderer Weise bemühen, die Anwendung des Schiedsgerichtes sowie der Mediation und der guten Dienste zu verallgemeinern und zu kodifizieren. Diese Ideen bilden sozusagen das innerste Wesen unserer Aufgabe, den allgemeinen Zweck unserer Mühen, nämlich, die internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel zu lösen.