Das Science Fiction Jahr 2020

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Aber nichtbinäre Menschen existieren, und wir möchten uns in der Fiktion, die wir lesen, auf positive, realistische, vielfältige und vor allen Dingen menschliche Weise repräsentiert sehen. Für viele von uns ist Fiktion und vor allen Dingen Science Fiction das einzige Fenster, das uns einen Einblick in uns selbst bietet. SF bietet das einzige Vokabular, um zu lernen, sich selbst zu beschreiben. Viele von uns nutzen nach wie vor binäre Pronomen, tragen geschlechtsspezifische Kleidung und Frisuren und sind nicht »out« – werden also gesellschaftlich auch nicht wahrgenommen, weil Geschlecht immer noch stark am Aussehen festgemacht ist. Anfeindungen sind die Konsequenz für alle, die »out« sind, nichtbinäre Pronomen nutzen oder gar Berücksichtigung in Formularen und Bürokratie wünschen.

Eine Gesellschaft, die Nichtbinärität nicht sehen will, für unnatürlich (wie Roboter) oder gar ausgedacht (wie Außerirdische) hält, ist einschüchternd und enthält Vokabular und Erkenntnisse vor. Die wenigsten von uns sind sich seit frühster Kindheit sicher, nichtbinär zu sein – wie auch? Wie kann man etwas sein, das es gar nicht gibt, das die Gesellschaft nicht als existent zurückspiegelt? Nichtbinärität ist ein langes, vielleicht lebenslanges Auseinandersetzen mit der eigenen Identität und dem Geschlechterkonstrukt unserer Gesellschaft, dem Nicht-aufgehoben-Fühlen in den beiden vorhandenen obersten Schubladen. Science Fiction kann Menschen Vokabular und Freiheit geben, ebenso wie eine Inklusion in Sprache und Schrift. Gendersternchen, Gendergap und der zum Beispiel in Lübeck amtliche Doppelpunkt lassen eine freie Stelle für Identitäten jenseits des Binarys, und mit dem sogenannten glottalen Verschlusslaut lassen sich Menschen, die inter*, nichtbinär, geschlechtslos oder auf andere Weise nicht von der männlichen und weiblichen Form »mitgemeint« sind, aussprechen. Dass diese Formen der Aussprache und des Ausschreibens das althergebrachte Machtgefüge stören, ist an den zahlreichen Formen des Widerstands gegen solche Bemühungen in deutscher Sprache und Schrift zu spüren.

Die Science Fiction der Sprache

Das Englische bietet mehr Möglichkeiten, geschlechtergerecht zu formulieren. Beispielsweise ist Kameron Hurleys The Light Brigade konsequent so formuliert, dass das Geschlecht der ich-erzählenden Hauptfigur Dietz nicht deutlich wird. (Ein Clou, der in einer deutschsprachigen Übersetzung spätestens bei Anreden wie »Soldier!« schwierig würde, ich wäre gespannt darauf, wie es umgesetzt wird.)

Aber nur, weil es schwerer ist, heißt das nicht, dass wir nicht im Deutschen umso phantasievoller sein können. Ja, bitte auch in der Literatur, der Prosa, auch in der Science Fiction. Kreative Sprache ist nicht lästig, sondern hat spekulatives Potenzial! Das generische Femininum in Ann Leckies Die Maschinen ist in der deutschen Übersetzung sehr viel prominenter als im Englischen und wirkt sich auch anders auf die Rezeption des Buchs aus. Selbst hintergründige geschlechtergerechte Sprache wie in meinem und Christian Vogts Wasteland ruft die Verteidiger*innen einer unveränderbaren deutschen Sprache auf den Plan. Geschlechtergerechtigkeit, die über das großzügige Mitnennen der weiblichen Form hinausgeht, rüttelt am Machtgefüge einer streng binär geteilten Welt. Und deshalb ist sie so wichtig.

Romane bilden mit ihrer beschreibenden Sprache einen wichtigen Startpunkt für menschliche nichtbinäre Repräsentation. Während in visuellen Medien wie Filmen und Serien das Vorhandensein und die Darstellung von nichtbinären Charakteren meist auf sichtbare »Androgynität« beschränkt sind, bieten Romantexte weit mehr Möglichkeiten, Figuren jenseits des binären Gefüges vielfältig darzustellen und sogar die Körperlichkeit als optische Kategorie zu umgehen.

Die Genderqueerness der Zukunft

Trotz alledem wird nach wie vor in den meisten Geschichten und, ja, auch den meisten Science-Fiction-Geschichten die Menschheit als aus Männern und Frauen bestehend beschrieben. Es gibt nur eine Handvoll SF, die gute nichtbinäre Repräsentation bietet, und das meiste davon ist nur auf Englisch erschienen. Erfreulich häufig tauchen sie in den letzten Jahren als Nebencharaktere auf, wie in Charlie Jane Anders’ Alle Vögel unter dem Himmel oder in Annette Juretzkis STERNENBRAND-Dilogie Blind und Blau. Ich habe ein paar Beispiele zu Science Fiction mit nichtbinären Hauptfiguren gesammelt, manche davon sind auch im Grenzbereich zwischen Fantasy und SF angesiedelt.

JY Yangs The Black Tides of Heaven schildert eine »Silkpunk«-Fantasywelt, in der sich Spiritualität und Technik ergänzen. Die Zwillinge Mokoya und Akeha müssen sich in den politischen Wirrungen ihrer Welt und besonders denen ihrer Mutter zurechtfinden. In dieser Welt wird bei der Geburt kein Geschlecht zugewiesen, sodass alle Kinder später selbst äußern können, wie sie sich identifizieren. Akeha fühlt sich lange wohl mit der nichtbinären Identität der Kindheit. Der Wermutstropfen: Kein Charakter behält das nichtbinäre Geschlecht das ganze Buch hindurch.

Ich vergleiche ungern Autor*innen mit bereits toten Autor*innen, aber ich halte es für gut möglich, dass Kameron Hurley das für unsere SF-Ära darstellt, was Joanna Russ für die 1970er bedeutete. Die Autorin, die auch in The Geek Feminist Revolution über Geschlechterrollen, Science Fiction und Gesellschaft und auch eigene Selbstzweifel und Selbstfindung in einer heteronormativen Welt spricht, stellt in ihren Romanen und Kurzgeschichten immer wieder Geschlecht und die Art und Weise, wie wir darüber sprechen und denken, infrage. In ihrem The Mirror Empire entwirft Kameron Hurley eine Fantasywelt, in die durch interdimensionale Storyelemente auch Science Fiction hineinspielt. In dieser Welt prallen die Definitionen von Ethnie und Geschlecht verschiedener Gesellschaftsformen aufeinander. Eine der Hauptfiguren, Taigan, ist genderfluid und benutzt insgesamt drei verschiedene Pronomen (she/her, he/his und ze/hir). Viele Kulturen in ihrem Roman kennen drei oder mehr Geschlechter und nutzen Neopronomen selbstverständlich und in einem sich natürlich anfühlenden Sprachfluss. Menschen einfach ein Geschlecht zuzuweisen und ihnen damit die Möglichkeit zu nehmen, sich selbst zu definieren, ist in den meisten dieser Gesellschaftsformen verachtenswert. Auch Nebenfiguren in The Mirror Empire sind nichtbinär, wodurch der Roman eine große Varianz von nichtbinärer Identität zeigt und nicht in die Falle der stereotypen Darstellung tappt.

James Alan Gardners All Those Explosions Are Someone Else’s Fault ist eine Superheld*innen-Story, bei der die ich-erzählende Hauptfigur weiblich gelesen aufwuchs und sich immer mehr mit einer nichtbinären Identität wohlzufühlen beginnt, bis ihre Superheld*innenpersona schlussendlich offen nichtbinär ist. Gardner schrieb außerdem Commitment Hour über eine kleine Gemeinschaft, in der Kinder zwischen männlich und weiblich wechseln, bis sie sich im Erwachsenenalter für einen »Pol« entscheiden. Es wird recht früh auch ein nichtbinärer Charakter eingeführt, und Nichtbinärität erweist sich als relevant für die Handlung.

Wie JY Yang ist auch Rivers Solomon nichtbinär. Solomons Roman An Unkindness of Ghosts zollt Octavia Butlers LILITH’S BROOD Tribut: 325 Jahre lang reist die H. S. S. Matilda durchs All. Die Arbeiter*innen an Bord (größtenteils People of Color) sind unzureichend gegen die kosmische Strahlung abgeschirmt, sodass sich ihr Erbgut verändert. Sie entwickeln dadurch eine größere Geschlechtervarianz, als die weiße Oberschicht an Bord überhaupt erfassen kann. Auch Hauptperson Aster ist nichtbinär und geht den Geheimnissen des Schiffs mit dem Tagebuch der Mutter auf den Grund.

Lizard Radio von Pat Schmatz schildert ein genderqueeres Teenagerleben in einer dystopischen Zukunft. Das Findelkind Kivali gerät in die Mühlen eines Indoktrinationscamps der Regierung. Im Roman geht es auch um den gesellschaftlichen Druck, sich durch Äußerlichkeiten an ein binäres Geschlecht anzupassen.

KJ Charles thematisiert Genderfluidität im Science-Fiction-Grenzfall der Steampunk-Romance (zum Beispiel in An Unsuitable Heir).

Und zuletzt sei hier noch Tilly Waldens sehr schöne SF-Graphic Novel On a Sunbeam genannt, in der eine queere Familie in einem Raumschiff unterwegs ist. Die Geschichte thematisiert Nichtbinärität als einen Aspekt von Queerness, dreht sich um Zeit, Liebe, sexuelle Orientierung und Familie ohne Blutsbande.

Nichtbinäre Science-Fiction-Autor*innen

Gute Repräsentation steht und fällt mit den Menschen, die sie schreiben. Das Schreiben ist an sich immer ein politischer Akt, denn Schreibende erschaffen fiktive Wirklichkeiten, die Aussagen über die Realität treffen. Daher ist kein Text je neutral und ohne »Agenda«.

Jeder Science-Fiction-Roman, der eine zukünftige Gesellschaft mit binären Geschlechterrollen schildert, zementiert die gerade existenten binären Geschlechterrollen. Oft reproduzieren wir den Status quo natürlich unbewusst – er hat ja uns alle unser ganzes bisheriges Leben hindurch begleitet und lag den meisten Geschichten inne, die wir erzählt bekommen haben. Umso wichtiger ist es, sich umsehen zu lernen. Was gibt es außerhalb des Bekannten? Was gehörte bisher »outside belonging«?

Geschlecht und Identität sind ein vielschichtiges und vielfältiges Thema. Es gibt nicht das »dritte« Geschlecht, und es gibt nicht die eine korrekte Beschreibung, die ich dann als Autor*in von der Checkliste streichen kann. Um darüber zu sprechen und zu schreiben, was Geschlechtervielfalt in der Science Fiction bedeutet, müssen wir das Wort auch den Autor*innen überlassen, die selbst nichtbinär sind. Das ist nicht immer ganz einfach. Wie weiter oben bereits erwähnt, ist das oft keine Identität, über die sich eine Person bereits ihr ganzes Leben im Klaren ist. Viele haben dieses Vokabular erst in den letzten Jahren, seit das Thema etwas populärer geworden ist, erhalten. Viele haben bereits unter einem Namen veröffentlicht, der allgemein einem Geschlecht zugeordnet wird, und behalten diesen Namen auch weiterhin – oder andersherum: wählen einen neutral klingenden Namen, um Diskriminierung zu vermeiden. Das heißt, dass es unmöglich ist, anhand des Namens aufs Geschlecht zu schließen. Um nichtbinäre Autor*innen zu lesen, gilt dasselbe wie bei allen anderen Marginalisierungsformen: Wir müssen uns mit den Personen beschäftigen, deren Bücher wir lesen. Eine Politisierung der Auswahl unserer Lektüre ist die einzige Möglichkeit, die sogenannten »own voices«, also Autor*innen, die aus eigener Perspektive über Marginalisierung berichten, beim Lesen zu berücksichtigen.

 

Für diese Auswahl brauchen wir auch korrekte Online-Einträge. Am zuverlässigsten ist natürlich, was Autor*innen beispielsweise in Twitter- und Instagram-Bios und auf Websites über sich selbst aussagen. Doch auch Online-Nachschlagewerke sind eine wichtige Quelle. Dazu muss jedoch der Wille der Verfassenden da sein, auch dort Sichtbarkeit zu schaffen. Annalee Newitz beispielsweise nutzt seit 2019 nichtbinäre Pronomen und wurde in der englischsprachigen Wikipedia bereits mit dem gewünschten Pronomen »they« bezeichnet. Die deutschsprachige Wikipedia bezog sich noch in der weiblichen Form auf Newitz und reagierte im April 2020 mit vehementem Protest gegen mehrere Versuche der Umformulierung (die mittlerweile allerdings, auch durch die Mithilfe von Newitz selbst, angenommen wurde).

Der Widerstand gegen die nichtbinäre Umformulierung des Eintrags zeigt, dass noch einiges getan werden muss. Als fiktive Aliens und Cyborgs lässt man sich Nichtbinärität vielleicht noch gefallen, aber noch lange nicht bei realen Menschen. Biologistische Einwände verkommen schnell zu transfeindlichen Argumenten – sobald Dritte beginnen, über Geschlechtsorgane einer realen Person zu spekulieren, sollte allen deutlich sein, dass Nichtbinärfeindlichkeit Hand in Hand geht mit Transfeindlichkeit. Denn Geschlecht ist nicht an Anatomie festzumachen. Wenn eine Diskussion ums korrekte Gendern eines realen Menschen in einem Online-Nachschlagewerk zu Mutmaßungen über Reproduktionsorgane verkommt, wird klar, worum es eigentlich geht: um die Deutungshoheit über Menschen, um Diskriminierung und Präskription von gesellschaftlichen Rollen.

Annalee Newitz ist nicht die einzige nichtbinäre Person, die Science Fiction schreibt. Weitere nichtbinäre Autor*innen sind beispielsweise Sarah Gailey, Rivers Solomon, JY Yang, Kacen Callender, Akwaeke Emezi, Jeannette Ng, Sarah Stoffers und im Comic-Bereich Blue Delliquanti und Ben Kahn – aber diese Liste ist natürlich nicht erschöpfend. Je mehr Vokabular wir haben, desto mehr Menschen werden Worte für die eigene Identität finden. Die Aufgabe der Zukunft ist nicht, Geschlecht komplett abzuschaffen, wie manche scheinbar progressiv bei Diskussionen um Geschlechtergerechtigkeit fordern, sondern Vielfalt anzuerkennen und als gleichwertig anzusehen.

Schreibende haben die Gelegenheit, nein, sogar die Verantwortung, das Konstrukt von Geschichten mit Lebenswirklichkeiten verschmelzen zu lassen. Um dem gesellschaftlichen Schweigen zum Thema nichtbinäre Geschlechter entgegenzuwirken, ist es nötig, darüber zu sprechen und zu schreiben. Le Guin sagte noch 2014 in einer Rede: »Widerstand und Veränderung beginnen oft in der Kunst, und sehr oft in unserer Kunst – der Kunst der Wörter.« Wenn es um Veränderung der gesellschaftlichen Binärität und Hierarchie von Geschlecht geht, müssen wir auch die Erfahrungen nichtbinärer Schriftsteller*innen in den Mittelpunkt rücken.

Zu guter Letzt …

»Ich liebe nichtbinäre Monster. Ich liebe nichtbinäre Aliens und nichtbinäre Roboter. Ich liebe Space Operas und Paranormal Romance und alles ›Unmenschliche‹, das mir über den Weg läuft. Aber es gibt auch Tage, in denen mich – erschöpft vom Kursberechnen in einer Welt, die mir keinen Platz lässt, die mich nicht als das akzeptiert, was ich bin – meine Fiktion daran erinnern muss, dass ich menschlich bin«, schreibt Christine Prevas über nichtbinäre Repräsentation auf der Website Electric Literature. Und vielleicht eröffnen Fantasy und Science Fiction auch außerhalb des Genres Orte, an denen genderfluide und nichtbinäre Charaktere Raum haben, und sind Wegbereiter für Vielfalt und, ja, nennen wir es beim Namen: mehr gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeit.

Silke Brandt

Vampirella in Herland

Das Dilemma um Identität, Sex & Repräsentation

Während Suffragetten des 19. Jahrhunderts – zu denen sich die SF-Autorinnen Mary Shelley und Charlotte Perkins Gilman zählten – eine Egalisierung der Gesellschaft anstrebten, betonte die feministische Bewegung der 1970er die Differenz der Geschlechter. Frauen wurden als friedfertig und sozial kompetent definiert, Männer als aggressiv, destruktiv und in Konkurrenzdenken gefangen. Grundlage lieferten Bücher wie Bertha Eckstein-Dieners Mütter und Amazonen, Liebe und Macht im Frauenreich (1930 als Sir Galahad) sowie Studien der Anthropologin Margaret Mead. Hieraus ging eine feministische SF hervor, die – wie Perkins Gilmans Herland-Utopien (1915, 1916) – oft dem Bildungsroman entsprach: Ursula K. Le Guins EARTHSEA-Saga[1] (1964–2001), Margaret Atwoods Dystopie A Handmaid’s Tale[2] (1985), Joan Slonczewskis A Door Into Ocean (1986) oder Alice Eleanor Jones’ Kurzgeschichte »Created He Them« (1955), in der Reproduktion den Alltag bestimmt. Auch wenn solche Werke brillante Analysen sozialer Ungerechtigkeiten bieten, führten sie zu unrealistischen Konzepten eines biologisch bedingt sanften Geschlechts. Weibliche Friedfertigkeit und Sozialkompetenz bestimmen auch Plot und Weltenbau von SF-Romanen, die eine von Geschlechtszuordnungen befreite Gesellschaft zeigen: Joanna Russ entwirft in And Chaos Died (1970) eine nichtbinäre, egalitäre Gesellschaft, Le Guin schafft in The Left Hand of Darkness[3] (1969) eine ambisexuelle, androgyne Welt, in der Stereotypisierung als Negativbeispiel dient; C. J. Cherryh verfolgt Androgynität sowie Speziesismus in ihrer CHANUR-Saga (1981–92), deren matriarchal organisierte, katzenartige Hani möglicherweise für Sergej Lukianenkos Schließer in Spektrum (2002) Pate standen.

Die Kritik an Frauenfiguren in Kunst, Film und Literatur hatte auch Folgen für feministische SF: Explizite Sexualität wurde außerhalb von parabelhaften Unterdrückungsszenarien zum Tabu, da sich die Autorinnen selbst der Objektivierung und Kommerzialisierung schuldig machen könnten. Es galt, der Anatomie selbst eine Stimme zu geben, ein weibliches Schreiben jenseits der Fremdbestimmung zu praktizieren. Die Philosophin Hélène Cixous verlangte bereits 1976: »Schreibe! Schreiben gehört dir, du selbst gehörst dir; dein Körper ist deiner, nimm ihn. Ich schreibe Frau: Frau muss Frau schreiben. Und Mann Mann. So wird er hier nur eine Randbemerkung bleiben; es obliegt ihm zu sagen, wo er seine Maskulinität und wo seine Femininität verortet.«[1] Ein Ausweg aus dem Dilemma wurde nötig: Wie kann eine Autorin Protagonistinnen entwerfen, ohne sich zu verleugnen, sexistische Ausbeutung zu replizieren? Lösungsversuche schufen die Grundlage für aktuelle Diversity-Politik. Anstatt das biologische Geschlecht als Marker für soziales Verhalten zu definieren, ging es um sexuelle Identität und Sozialisation: Mütter waren heterosexuelle, in patriarchalen Mustern gefangene Frauen; Amazonen lesbische Separatistinnen, die außerhalb von Normierung und Fremdbestimmung lebten. Selbst wenn sie oft nur eine Verkehrung der Tradition erreichten (kurze Haare, Hosen, kein Make-up), stand zumindest Sexualität im Fokus – wobei bisexuelle Frauen als Verräterinnen galten, die sich wie Penthesilea ins Lager des Feindes schlichen.

Diese Unterscheidung schuf ein SF-Subgenre, das an die High Fantasy angelehnt war: spekulative Amazonengeschichten, auch verfasst von Vertreterinnen der Hard SF, z. B. Cherryhs FORTRESS-Serie (1995–2006), die UNICORN-Saga (1991–98) und Kurzgeschichten der Nonkonformistin Tanith Lee, deren Erzählungen stets um Sexualität und Macht kreisen. Das Figurenkonzept stützt sich auf Mythen der Antike, Bronze- und Wikingerzeit bzw. historische Personen wie Jeanne d’Arc, Boudica oder skythische Kriegerinnen. Neben der von Marion Zimmer Bradley herausgegebenen SWORD AND SORCERESS-Reihe (1984–2013) gab es alternative Stimmen: Monique Wittigs Prosa oder Christian Lautenschlags Der Araquin (1981 als Marockh Lautenschlag). Das Crossover aus High Fantasy und Dystopie ist eine innovative Ausnahme: Amazonen existieren als Subkultur in einem despotischen Feudalsystem, die Protagonistin, Candryi Nava, ist eine Verstoßene im Exil, die eine unmöglich erscheinende Aufgabe lösen muss, um wieder von ihrem Frauenvolk aufgenommen zu werden. Candryi ist gebrochen und zynisch; ihre Verbündete eine androgyne, bisexuelle Kriegerin/Diplomatin, die mal einen männlichen (Janas), mal einen weiblichen Namen (Ahiraquae) verwendet, deren Loyalitäten unklar sind und deren Kontakte zur Herrscherschicht ihr starke Ambivalenz verleihen. Nicht nur Männer sind in inhumanen Strukturen verhaftet, auch das Amazonenreich unterwirft sich esoterischen Traditionen, ist zersetzt von Intrigen und Machtkämpfen. Trotz des radikalfeministischen Kontextes sind diese Frauenfiguren an Helden der klassischen High Fantasy angelehnt: In Ahiraquae ist Aragorn aus Lord of the Rings[4] zu erkennen; Candryis Suche nach dem mystischen Stein Araquin gemahnt an Frodos Heldenreise. Ähnliche Figuren entwirft Wittig in Aus deinen zehntausend Augen, Sappho (1977), das Cixous’ Forderung nach einem sich selbst schreibenden Körper auf die Spitze treibt: eine erotische Phantasie in Form eines wild-surrealistischen Bewusstseinsstroms, in dem die Erzählerin den Körper ihrer Geliebten bis ins anatomische Detail seziert – eine manische, seltsam kalte Hommage an die Weiblichkeit. Wie Cynthia Vespia mit ihrem Gladiatorinnen-Trash The Crescent (2014), sind Lee und Wittig Ausnahmen, die explizite Sexualität als handlungstragend einsetzen.

Feministische Utopien und Amazonen-Fantasy lassen sich der Alternative History/Parallel Universe zuordnen: Möglicherweise sind viele Werke in die spekulative Zukunft projizierte, nostalgische Rekonstruktionen einer heroischen Vergangenheit, die Frauen weitgehend versagt blieb. Seltener sind feministische Dystopien, die nicht – wie The Handmaid’s Tale – gleichzeitig Moralparabeln darstellen: Angela Carters postapokalyptisches Abenteuer Heroes and Villains (1969) bietet eine ambivalente Erzählerin, die aus dem Elfenbeinturm ihres Vaters zu anachronistischen Barbaren flieht, dort als damsel in distress eine von sexueller Abhängigkeit und Gewalt geprägte Beziehung mit dem Anführer Jewel eingeht, bis sie sich emanzipiert und seine Position einnimmt. Wie so oft bricht Carter ironisch mit jeglichen Rollenbildern; ebenso wie Tanith Lee in ihrer BLOOD OPERA-Trilogie (1992–94): Die junge Rachaela wird nach ihrer Aufnahme in eine Vampirfamilie von dem mythisch-allmächtigen Adamus verführt. Typisch für Lees Protagonistinnen entzieht sie sich der Zuordnung: devot, sexuell hörig und antriebslos, dann aber fähig, ihren Weg zu gehen, Autorität herauszufordern. Kathy Acker befreit diese Entwürfe von märchenhafter Romantik wie pazifistisch-feministischer Moral: In Empire of the Senseless (1988) schließt sich die Erzählerin anarchistischen Terroristen an, die ein postapokalyptisches Paris befreien – in dem Fiebertraum aus Gewalt, de Sade’scher Grausamkeit und gegenseitiger sexueller Ausbeutung folgt die Antiheldin nur ihrem unbedingten Freiheitsdrang. Ein kompromissloses Punk-Epos, das Neil Marshalls Doomsday – Tag der Rache (2008) vorwegnimmt.

Ursprünge feministischer Identitätskonzepte und ihre Alternativen

Die sozialpolitische Stimme der Frauen wurde bald eine geschlechtspolitische: Nicht nur Gleichberechtigung, sondern Kulturproduktion aus Sicht des Anderen – hier Weiblichen – war gefordert. Plötzlich erschien alles vergiftet vom chauvinistisch-dominanten Männerblick; die Gegenreaktion glich einem Bildersturm. Feministische Gesellschaftsutopien wurden als unzureichend angesehen, es galt, mit Ausnahme der Antagonisten, Männer ganz aus Texten zu schreiben. Der radikale Feminismus der 90er-Jahre wurde von einer Subkultur – der separatistischen Lesbenbewegung – vorangetrieben, stützte sich auf Philosophie, Psychologie und Linguistik: Jacques Derrida, Michel Foucault, Jacques Lacan, Hélène Cixous und Luce Irigaray.

Diese bis heute nicht abgeschlossene Entwicklung, bei der weibliches Schreiben und die Perspektive des Nicht-Normierten ins Zentrum rückten, sollte Muster der Unterdrückung und traditionelle Zuordnungen durch ein selbstdefiniertes, kreatives Subjekt ersetzen. Ria Endres schrieb: »Der Fortschritt hat die Männer stolz die Treppe emporsteigen lassen. Nun blicken wir auf die patriarchale Architektur wie in eine kalte Heldengräberlandschaft. Die Frau hat sich hinter dem Mann die Treppe hochgeschlichen. [Sie] hat den Wunsch, nach den verschütteten Bestandteilen einer weiblichen Welt zu suchen, die am Treppenrand liegen geblieben sind.«[2] Luce Irigaray, eine der ideologischen Ideengeberinnen, geht in This Sex Which Is Not One[5] weiter: »In der sexuellen Bilderwelt ist die Frau lediglich ein mehr oder weniger gehorsames Requisit, das der Erfüllung männlicher Phantasien dient. Dass sie in dieser Rolle, quasi stellvertretend, selbst Lust empfindet, ist möglich, sogar sicher. Aber eine solche Lust ist vor allem eine masochistische Prostitution ihres Körpers für ein Verlangen, das nicht ihr eigenes ist, und lässt sie im altbekannten Zustand der Abhängigkeit zurück.«[3] Marilyn French und Andrea Dworkin, Begründerin der reaktionären PorNo-Bewegung, sprachen gar von einem globalen Krieg gegen Frauen. Diese negative Weltsicht sowie Hunger nach Entsprechung und Identifikationsmodellen gipfelten in esoterischer Überhöhung: »Nachdem sie James Joyce verworfen hatte, bricht Comiczeichnerin Alison Bechdel zu neuen Abenteuern auf: ›Meine ganze akademische Leidenschaft war einer anderen Odyssee vorbehalten … der Suche nach meinem Volk.‹ Ihr Streben ist sowohl erotisch wie epistemologisch: ein ›unstillbarer Hunger‹ nach einem ›Wissen‹, das gleichzeitig buchstäblich, körperlich und weiblich ist.«[4]

 

Abgesehen von Moralparabeln und Parallel Universe war SF nicht das Genre, in dem sich separatistischer Feminismus ausdrückte – zu nahe liegt es bei Dunkler Phantastik und Horror, die als gewaltträchtige männliche Kultur galten. Diese Zurückhaltung ist umso verwunderlicher, als sich SF per definitionem mit der Zukunft beschäftigt. Durch Analyse und Aufarbeitung der Vergangenheit blieb der Radikalfeminismus jedoch in einem ähnlichen Konflikt gefangen, wie ihn Michael K. Iwoleit beschreibt: »In der konventionellen Science Fiction ist der Irrtum verbreitet, man könne die Dinge von morgen in der Sprache von gestern schildern. Es herrscht eine bemerkenswerte Naivität, was die Beziehung zwischen der Beschaffenheit einer Sprache und den Eigenschaften der Umwelt angeht, in der sie gesprochen wird.«[5] Zwei Filmemacherinnen gelang es, diese Sprache des Morgen in Diversity-SF umzusetzen: der Multimediakünstlerin und Filmwissenschaftlerin Shu Lea Cheang und der physikbegeisterten Professorin der Filmwissenschaft, Hilary Brougher. Beide entwickeln individuelle Bildsprache, Symbolik, Figuren und Plots, in denen politische Sujets wie Rassismus, Globalisierung und Ausbeutung jenseits von Täter-Opfer-Schemata erzählt werden. Cheangs Fresh Kill (1994) ist ein Thriller um ein ethnisch diverses Lesbenpaar, das auf der Suche nach seiner entführten Tochter eine globale Wirtschaftsmafia aufdeckt. Der Film hat eine assoziative Bildersprache und verweigert sich traditionellen Erzählstrukturen. I.K.U. (2000) handelt von Sex-Robotern, die Daten über menschliche Lust sammeln; während in FluidØ (2017) Körperflüssigkeiten eine extrem potente Droge sind: So wird ein Labor Schauplatz von Orgien, die Grenzen von Geschlecht, Ethnizität und sexueller Präferenz auflösen. In Broughers an klassischen Hardboiled angelehnten The Sticky Fingers of Time (1996) bekommt eine Autorin Besuch von einer Außerirdischen und muss in die Zukunft reisen, um einem Mordanschlag zu entgehen. Das Alien ist eine elegante schwarze Frau mit einem katzenartigen Schwanz und undurchschaubaren Motiven. Getreu den 50er-Jahren, ihrer eigentlichen Gegenwart, ist ihr Flirt zurückhaltend, aber postmodern selbstverständlich. Auch wenn Sexualität und Körperlichkeit in diesen Filmen eine zentrale Rolle spielen, sind sie eher thematisch angelegt als erotisierend.

Im Lager des Feindes?

Die feministische SF entwarf neue Konzepte von Geschlechtsidentität und Körperlichkeit. Die Polarisierung Frau versus Mann führte jedoch dazu, dass andere Alternativen zu traditionellen Rollenzuweisungen ignoriert wurden: SF-/Fantasy-Charaktere, wie sie Ende der 70er-Jahre in Filmen und Graphic Novels erdacht wurden. Initiatoren waren die Macher des MÉTAL HURLANT (1975–2006), dessen Ableger HEAVY METAL seit 1977 existiert: Moebius a. k. a. Jean Giraud, Philippe Druillet und Alejandro Jodorowsky oder die Künstler US-amerikanischer Comics wie VAMPIRELLA, RED SONJA, EERIE und CREEPY: u. a. Frank Frazetta, José González und Esteban Maroto. Identische Konzepte existieren ungebrochen bis heute und werden sowohl im künstlerischen Bereich (z. B. Jon J. Muth, Bastien Lecouffe-Deharme) als auch im Mainstream (z. B. WITCHBLADE, LADY DEATH, X-MEN, ELEKTRA, VAMPIRELLA und RED SONJA) realisiert. Diese Entwürfe befreiten Frauen jeglicher sexueller Identitäten von traditionellen Zuschreibungen. Ihre Protagonistinnen sind dominant, kämpferisch und individualistisch, ohne Empathie oder Gerechtigkeitssinn einzubüßen – und sie bieten etwas, das nahezu jegliche radikalfeministische Konzeption vermissen ließ: eine offen gelebte, nicht-normierte Sexualität. Feministinnen lehnten diese Werke ab, da jegliche Darstellung von Sexualität die Frau zum Objekt und damit zum Gewaltopfer mache. In den 80ern entstand somit eine rigide, körperfeindliche Sexualnorm, die – obwohl nun unpopulärer – bis heute Auswirkungen auf Frauen- und Männerdarstellungen hat, auch in der SF.

Die Weiblichkeitsentwürfe in Comics und postmodernem Surrealismus sind komplex und – im feministischen Sinne – revolutionär: Nacktheit und Erotik widersprechen keinesfalls Unabhängigkeit, Stärke oder Individualität. Vampirella ist eine Außerirdische, Detektivin und Vampir, die sich aus ethischen Gründen von Blutersatz ernährt; ihre Freundschaft zu Pantha (aus der gleichnamigen Serie) deutet Bisexualität an. Vampirella geht Allianzen mit Menschen ein, verweigert sich aber terrestrischen Konventionen. Eine ähnliche Protagonistin kämpft in Marotos Prison Ship (1994; 1982 als Diana Jacklighter, Manhuntress!) gegen Despoten und tentakelbewehrte Monster; ihr Raumanzug ist so eng, dass sie unbekleidet wirkt. Frazetta malte nackte Kriegerinnen in bislang Männern vorbehaltenen heroischen Posen, so ist auf einem Vampirella-Cover ein Urzeitpaar zu sehen, das von einem Dinosaurier angegriffen wird – die Frau hält ein Messer bereit und stellt sich vor ihren Partner, ihre Hand an seiner Brust verweist ihn in die Rolle des Beschützten. Barbarella (1968) präsentiert eine ambivalente Protagonistin: mal damsel in distress, mal sexuelle Aggressorin, sprengt sie eine todbringende Orgasmusmaschine mit der Intensität ihrer Lust. Eine weitere Filmheldin, Taarna (aus der gleichnamigen Episode in HEAVY METAL, 1981), deren minimalistisches Outfit an Vampirella gemahnt, ist wie Araquins Chandryi eine gebrochene Kämpferin, die unmöglich Erscheinendes bewältigen muss. Dabei liegen dem rape revenge-Plot altruistische Motive zugrunde: Durch den Sieg gegen einen Despoten und ihre Selbstopferung in der episodenumspannenden, mystischen Grünen Kugel initiiert Taarna eine Weltordnung der Freiheit und Selbstbestimmung. Ähnliche Figuren finden sich aktuell z. B. in Luis Royos SF-/Dark-Fantasy-Szenarien oder Sébastien Greniers Arawn, einem altwalisischen Epos in Form postmoderner Fantasy, das Frazettas Kriegerinnen auferstehen lässt. Die Comic- und Filmreihe X-MEN (bes. II und III; 2003, 2006) bietet eine Vielzahl nichtbinärer und speziesüberschreitender Figuren, wie auch Reminiszenzen an die frühen 80er: Die Mutantin Jean Grey trägt einen hautengen Lederanzug, ist selbstbestimmt, sexuell fordernd, moralisch und komplex. Sie wird mit dem klassischen Heldenmotiv der Selbstopferung verbunden und – man denke an die DARK PHOENIX-Saga – mit zweigesichtigen Gottheiten.