Buch lesen: «Schmelzendes Eis»

Elizabeth Johns
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Schmelzendes Eis

Schmelzendes Eis

Copyright © Elizabeth Johns, 2016

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung von Wilette Youkey

Lektorat Tessa Shapcott

Historische Inhalte von Heather King

Deutsche Übersetzung: Sabine Weiten

Deutsches Lektorat: Petra Milde

Kein Teil dieser Veröffentlichung darf ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Urheberrechtsinhabers vervielfältigt, gespeichert, kopiert oder übertragen werden.

Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Orte und Begebenheiten sind entweder das Ergebnis der Vorstellungskraft der Autorin oder sind willkürlich und ohne jeglichen besonderen Grund gewählt worden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen (tot oder lebendig), Geschäften, Vorkommnissen oder Örtlichkeiten sind rein zufällig.

Inhalt

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Epilog

Vorschau auf Mit dem Wind

Danksagungen

Prolog

„Das ist das erste Mal, dass wir getrennt sein werden“, sagte Beaujolais traurig zu ihren Drillingsschwestern, die auf dem großen Himmelbett in ihrem Londoner Stadthaus saßen. Sie liebten das abendliche Ritual, sich in Margaux‘ Zimmer zu treffen. Anjou, Beaujolais und Margaux waren die drei wunderschönen Töchter, eineiige Drillinge, des Marquess Ashbury und seiner französischen Marchioness.

„Es ist nicht für immer, meine Liebe“, sagte Margaux tröstend, als sie die langen, ebenholzfarbenen Haare ihrer Schwester bürstete und ihnen einen seidigen Glanz verlieh. „Wir werden wieder zusammen sein. Dann gibt es Hauspartys und Feiertage ...“

„Früher oder später musste es ja passieren. Ich dachte immer, dass wir jetzt schon alle verheiratet wären. Und dennoch, hier sitzen wir immer noch wie im Regal!“, rief Beaujolais.

„Ich sitze sehr gerne im Regal, wenn das bedeutet, dass ich vom Heiratsmarkt genommen werde! Du musst zugeben, dass ich es verlernt habe, meine Zunge im Zaum zu halten. Wahrscheinlich ist es besser, ich gehe, bevor ich euch alle ruiniere“, sagte Margaux lachend.

„Ja, meine Liebe, das wissen wir. Aber ein Kloster? Glaubst du wirklich, dass Maman das erlauben würde?“, fragte Anjou skeptisch, als sie ihre Schwester mit ihren strahlend blauen Augen ansah.

„Nein. Wenigstens erlauben sie mir nach Schottland zu gehen, um dort im Waisenhaus zu helfen“, antwortete Margaux, die anscheinend mit ihrem Los zufrieden war.

„Ich wette, dass dich Maman in weniger als drei Monaten wieder zurück zitiert“, neckte Anjou, während sie gedankenverloren eine Haarsträhne um ihren Finger wickelte.

„Wette angenommen.“ Margaux hielt ihr die Hand hin. Eine schwesterliche Herausforderung lehnte sie niemals ab.

„Hört auf, ihr zwei“, sagte Beaujolais angewidert. „Könntest du nicht hier glücklich sein? Könntest du nicht Maman bitten, dass du einfach zu Hause bleibst?“

Margaux schüttelte den Kopf. „Als ob unsere Maman, die aristokratischste Gastgeberin im Königreich, erlauben würde, dass ihre unverheiratete Tochter zuhause verkümmert. Davon abgesehen, wäre es mir nicht genug. Ich brauche Freiheit, meine Liebe. Kannst du das verstehen?“

Beaujolais schossen die Tränen in die Augen, was ihre violette Augenfarbe verdunkelte. „Es tut mir leid, Marg. Ich werde versuchen, mich für dich zu freuen, aber ich kann es nicht verstehen.“

Margaux seufzte. „Du bist dazu geboren, eine Duchess zu sein, Jolie. Ich überlasse euch beiden die großartigen Hochzeiten.“

„Hör auf mich damit zu necken, dass ich eine Duchess sei. Davon abgesehen, es gibt nur zwei unverheiratete Dukes im Königreich. Einer ist uralt und der andere ein Einsiedler.“

„Hast du Angst, dass wir dich verfluchen?“ Anjou fing nun ebenfalls an, ihre andere Schwester zu necken. Seit sie Kinder waren, war es immer eine Quelle der Freude gewesen, Beaujolais zu necken. Sie hatte immer getan, als sei sie eine Duchess, wenn sie als Kinder gespielt hatten und sich auch meistens so verhalten. Es war nicht unbedingt hilfreich gewesen, dass ihre Mutter sie darin noch bestärkt hatte.

„Du hast bereits mindestens einen Baronet, einen Mister, zwei Earls und einen Marquess abgewiesen“, fügte Margaux hilfreich hinzu.

„Keinen von denen konnte man ernst nehmen! Und ihr beide hattet genauso viele Angebote wie ich“, verteidigte sich Beaujolais.

„Hatte ich nicht“, brüstete sich Anjou.

„Und keiner von uns hat sich bereit erklärt, eine Vernunftehe auch nur in Betracht zu ziehen“, fügte Margaux hinzu.

„Aber auch nur, weil du niemandem erlaubst, dir einen Antrag zu machen“, entgegnete Beaujolais.

„Ich kann keinen anderen in Betracht ziehen“, sagte Anjou und sah zur Seite.

Margaux nahm tröstend ihre Hand. „Es sind jetzt schon sechs Jahre ohne ein Wort von Aidan, Anj. Meinst du nicht, du solltest ihn langsam vergessen?“, fragte sie freundlich.

Anjou schüttelte den Kopf und ließ es zu, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. „Ich muss etwas tun. Ich kann nicht länger auf Vaters Nachforschungen warten.“ Sie stieg vom Bett und begann hin und her zu laufen, während sie ihre Tränen fortwischte. Ihre große Liebe, Aidan, war in den amerikanischen Krieg gezogen und sie hatte nach dem Waffenstillstand nichts mehr von ihm gehört.

„Was willst du tun?“, fragte Jolie mit gerunzelter Stirn.

„Ich werde gehen und ihn suchen.“

„Gehen und ihn suchen?“, fragten beide Schwestern ungläubig.

Anjou nickte. „Charles hat eingewilligt, mir zu helfen.“ Ihr Bruder Charles und Aidan waren beste Freunde gewesen.

Maman und Papa werden das niemals gestatten.“

„Sie haben und sie werden“, antwortete Anjou ruhig, ohne ihre Schwestern dabei anzusehen. „Sobald Vaters Erkundigungen abgeschlossen sind.“

Beaujolais weinte jetzt ernsthaft. „Dann ist es wirklich das letzte Mal, dass wir alle zusammen sind!“

Keine der Schwestern widersprach, aber sie umarmten sich gegenseitig und fragten sich, wie sich das Leben ändern würde, ohne die anderen Teile ihrer selbst.

Eins

„Welcher Mann will schon heiraten, außer, wenn er einen Erben will?“, fragte Benedikt ätzend.

„Es gibt Leute, die eine Freundschaft, wenn nicht sogar Liebe, zu einer Lady finden, Eure Gnaden“, bemerkte Hughes ermunternd, ohne auf den Ton Seiner Gnaden zu achten.

„Ladys sind nur für eine Sache nutze“, schoss Benedict zurück.

„Aber Sie müssen eine heiraten, um einen legitimen Erben zu zeugen.“

„Muss ich?“, fragte er leise mit einer unterschwelligen Herausforderung in der Stimme.

„Der letzte Erbe ist gestorben, Eure Gnaden.“

„Sind Sie sicher?“, fragte er rhetorisch.

„Ziemlich. Ziemlich sicher. Mr. Norton hat umfassend nachgeforscht.“ Der Sekretär hielt die verdammten Neuigkeiten hoch, die er gerade vom Anwalt erhalten hatte.

„Ich verstehe.“

„Es muss geschehen, Eure Gnaden.“

Benedict Stanton, Duke of Yardley, seufzte laut. Er stand jetzt der einzigen Sache gegenüber, von der er sich geschworen hatte, dass er sie nie wieder tun würde: Heiraten. Er schwieg, verdaute die neu aufgetauchten Informationen zusammen mit seiner Steak- und Nierenpastete, die ihm plötzlich sauer aufstieß.

Der Sekretär des Dukes war das Benehmen Seiner Gnaden gewohnt und blieb ruhig stehen, während sein Arbeitgeber eine Entscheidung traf.

Benedikt atmete hörbar aus.

„Ich nehme an, Hughes, dass Sie mir eine Liste gemacht haben?“

„Ja, Eure Gnaden.“ Der stets dienstbeflissene Sekretär präsentierte ihm umgehend eine Liste mit zwölf Namen und Lebensläufen, inklusive Blutlinien, Besitztümern und Aussteuer.

„Wie Sie sehen können, Eure Gnaden, habe ich sie nach Eignung aufgelistet.“ Er schwieg.

Benedikt wischte die Liste fort.

„Sie können mit der ersten auf der Liste in Verhandlungen treten. Ihre sonstigen Qualitäten interessieren mich nicht, nur die Fortpflanzungsfähigkeit.“

Der Sekretär räusperte sich nervös, was eine hochgezogene Augenbraue Seiner Gnaden hervorrief.

„Ich habe mir auch die Freiheit genommen, eine Liste mit denen anzulegen, die unpassend sind.“

Der Sekretär legte die Liste vor dem Duke auf den Tisch.

„Unpassend ist gleichzusetzen mit Idioten, Hughes. Gibt es dafür einen Grund?“

„Vielleicht nicht auf den ersten Blick, Eure Gnaden. Darf ich taktvoll anmerken, dass einige der in Frage kommenden Ladys nicht unbedingt aus dem besten Hause sind, während andere …“, sagte er unter Zuhilfenahme des Vokabulars, das eher in der Pferdezucht angewandt wurde, um den Duke zu überzeugen, der die Gesellschaft von Pferden der von Menschen vorzog.

„Das Aussehen ist mir egal“, gab der Duke zurück.

„Ich glaube, dass Sie besser die Entscheidung treffen sollten, Eure Gnaden. Oder soll ich die Duchess ...“

Seine Gnaden ignorierte den letzten Seitenhieb, seine Mutter ins Spiel zu bringen. „Ich sollte Sie zu Verhandlungen mit …“, er sah auf den ersten Namen der Liste, „… Cohens Tochter, einer Lady Mary, schicken, aber ich nehme an, dass Sie nicht damit einverstanden sind?“

„Lady Mary hat alles, was passend ist, Eure Gnaden, aber sie erinnert stark an Eure besten Araber und sie kichert.“

Der Duke zuckte zusammen. Vielleicht wäre ein Blick auf die Äußerlichkeiten doch hilfreich.

„Haben Sie alle gesehen?“

Der Sekretär wurde rot. „Selbstverständlich, Eure Gnaden.“

Yardley starrte verblüfft seinen normalerweise seriösen Sekretär an, der rot wurde wie ein Jüngling.

„Sehr wohl. Dann machen Sie der ersten, die Sie am Passendsten für meine Bedürfnisse halten, ein Angebot.“

Der Sekretär verbeugte sich und verließ den Raum.

Benedict wollte nichts mit irgendeiner Frau zu tun haben, außer, sie hatte vier Beine. Es war fast zehn Jahre her seit seinem ersten Ehefiasko, und der Geschmack in seinem Mund war noch so bitter wie an dem Tag, an dem es passierte.

Er stand auf, warf seine Serviette auf den Tisch und ging zum Fenster, um hinauszusehen. Der einzige Grund, weshalb er in den letzten zehn Jahren nach London gegangen war, war gewesen, um im Parlament gegen etwas zu wählen, was er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte.

„Ich nehme an, ich muss nach London gehen“, sagte er widerwillig zu sich selbst.

Ich muss nach London gehen. Vor Schmerz schloss er seine Augen. Würde er dazu in der Lage sein? Seit der Sache mit Lillian hatte er sich nicht mehr in der gehobenen Gesellschaft blicken lassen. Der Skandal lag schon lange zurück, aber es würde immer Getuschel geben. Er zweifelte nicht daran, dass dies ein Problem geben würde, wenn es zu einer Eheabsprache käme, aber er hatte kein Interesse daran, sich um die Blicke und das Getuschel zu kümmern. Die Gesellschaft war teilweise verantwortlich für das Scheitern seiner ersten Ehe und er hatte nicht vor, dies ein weiteres Mal zuzulassen. Konnte er London vermeiden und auf dem Postwege verhandeln? Eine schäbige Art, um Geschäfte zu machen, aber er brachte es nicht über sich, jemandem mit vorgeheuchelten Gefühlen den Hof zu machen.

Er hatte seinem langjährigen Freund Lord Easton erzählt, dass er seine preisgekrönte Stute zur Zucht mit einem von Eastons Hengsten vorbeibringen wollte. Dessen Familiensitz war in Sussex, nicht weit von London entfernt. Vielleicht könnte er die Gesellschaft so weit wie möglich vermeiden, falls er schon vorher eine Ehe arrangieren konnte. Er sollte es Hughes gegenüber erwähnen, dass er jemanden finden sollte, die nicht erwartete, in London zu leben oder auch nichts für die Gesellschaft übrighatte. Hughes war sicherlich scharfsinnig genug, um so etwas zu wissen.

Falls Benedict sich großzügig genug fühlte, würde er vielleicht auch seine Mutter und seine Schwester besuchen. Wenn sie nicht in London war, bevorzugte seine Mutter das Anwesen in Langdon an der Küste, in der Nähe von Brighton, was Benedict sehr entgegen kam. Er betete sie an, aber über gewisse Dinge konnten sie sich nie einigen - in erster Linie seine Wiederverheiratung - und es war friedlicher, wenn sie an unterschiedlichen Orten wohnten.

Er ging zu seinem Schreibtisch, um seiner Mutter eine Nachricht zu schreiben und eine weitere an Lord Easton, bevor er nach seinem Diener klingelte, dem er Anweisungen gab, für seine Reise zu packen.


Jolie brachte ihr Pferd zum Stehen, als sie den Rand der Kreidesteinfelsen erreichte, und inhalierte den Geruch des Meeres. So sehr sie auch London mochte, der Ausflug zum Haus ihres Cousins, Lord Easton, war ihr sehr willkommen. Die Saison brachte keinerlei neue Anwärter, die sie ernst nehmen konnte, und ihre Familienangehörigen hatten alle England verlassen, so dass sie sich zum ersten Mal, solange sie sich erinnerte, einsam fühlte.

Sie würde bald mit Lady Easton als ihrer Anstandsdame nach London zurückkehren, aber es gab nicht einen ernsthaften Anwärter, der ihr den Hof machen konnte. Sie würde niemals jemandem, außer ihren Schwestern, gestehen, dass sie Angst hatte, eine alte Jungfer zu werden. Ihre Schwester, Margaux, würde das vorziehen, bevor sie jemanden heiratete, den sie nicht liebte. Aber nicht Jolie. Sie hoffte auf eine gute Partie mit jemandem, den sie respektieren konnte und der ihr ein angenehmes Leben bescheren würde. Sie war nicht so profitsüchtig, dass sie jeden akzeptieren würde. Sie hatte sogar schon so viele Angebote abgelehnt, dass man ihr den Spitznamen „Eis“ gegeben hatte, obwohl nichts weniger passend war, um sie zu beschreiben. Sie hatte lediglich nie die gewünschten Qualitäten in einer Person gefunden. Sie brauchte keinen Titel, auch wenn andere das glaubten. Aber eine Duchess zu sein wäre bestimmt nicht verkehrt, dachte sie und lachte über sich selbst.

Sie trieb das Pferd wieder landeinwärts und freute sich über den befreienden Galopp über die Niederungen, während der Wind mit aller Macht an ihr zerrte. Ihr Cousin hatte eine berühmte Pferdezucht und sie erfreute sich unglaublich an dessen Ergebnissen. Reiten - nein, galoppieren - war das, was sie am meisten vermisste, wenn sie in der Stadt war.

Als sie ins Haus kam, zog sie ihre Reithandschuhe aus und übergab die Gerte dem Butler. Ihr wurde mitgeteilt, dass der Anwalt ihres Vaters in der Bücherei auf ihre Gesellschaft wartete.

„Danke, Barnes.“ Sie lächelte den älteren Butler des Earls an, der ihrem Onkel Wyndham schon vor ihrer Geburt diente. Was würde der Anwalt ihres Vaters von ihr wollen? Es war Anjou, die auf Nachrichten wartete. Vielleicht gab es Neuigkeiten über Aidan, ausgerechnet jetzt, da sich Anjou aufgemacht hatte! Sie ordnete ihr windzerzaustes Haar so gut wie sie konnte und ging durch die Tür. Sie fand ihren Cousin, Mr. Harlow und einen anderen Mann in ein Gespräch und blieb stehen.

„Ah, Jolie. Bitte, gesell dich zu uns“, sagte Lord Easton, als alle Männer aufstanden.

„Lady Beaujolais, darf ich Ihnen Mr. Norton vorstellen? Und Mr. Harlow kennen Sie ja bereits, so habe ich gehört.“

Sie nickte, als sich die Männer verbeugten. Neugierig setzte sie sich und sah zu ihrem Cousin.

„Jolie, Mr. Norton ist hier im Auftrag des Duke of Yardley.“

‚Was hat das mit mir zu tun?‘, fragte sie sich, aber hielt den Mund. Trotzdem beschleunigte sich ihr Puls. Sie hatte von Yardley gehört, dem Duke, dem man nachsagte, er sei kalt und ein Einsiedler, aber sie hatte ihn noch nicht persönlich getroffen.

„Ich lasse Sie erklären, Mr. Norton, wenn Sie so freundlich wären“, sagte ihr Cousin.

„Ihre Ladyschaft, ich fasse mich kurz. Seine Gnaden hat beschlossen zu heiraten und hat Sie ausgewählt.“

Eine unkontrollierbare Welle der Verärgerung fegte über sie hinweg. Schickte der Duke seinen Heiratsantrag über seinen Anwalt ohne die geringste Vorstellung? Wie konnte er es wagen! War er der Meinung, dass er über den allgemeinen Höflichkeiten thronte? Zugegeben, es war in gewisser Weise schmeichelhaft, aber sie würde niemals jemanden heiraten, der so arrogant, so ... so ... Ihr fiel noch nicht einmal ein passendes Wort für eine derartige Dreistigkeit ein! Hatte er sich mit ihrem Vater darauf geeinigt, dass er ihr einen Antrag machen könne? Nein, das würde ihr Vater nie tun. Sie saß still, versuchte ihr Temperament unter Kontrolle zu bekommen und dachte über eine würdevolle Antwort nach. Alles, was aus ihrem Mund kam, war: „Ich verstehe.“

Der Anwalt musste ihr Schweigen als freudigen Schock interpretiert haben, denn er fuhr fort: „Er macht Ihnen ein ausgesprochen großzügiges Angebot, mylady.“

Er gab ihr ein Blatt Papier, auf dem das Angebot festgehalten war. Sie konnte es kaum verhindern, dass ihre Hand mit dem Papier zitterte.

„Sie werden in hohem Stil angesiedelt werden, mit Ihrem eigenen Haus und Anwesen und mehreren tausend Pfund pro Jahr. Und es ist nicht von der Bereitstellung eines Erben abhängig“, sagte der Anwalt, als ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte.

Jolie spürte den Blick ihres Cousins auf sich. Sie sah ihn fragend an und konnte an seinem Gesichtsausdruck ablesen, dass er so geschockt war wie sie selbst. Wie würde ihr Vater damit umgehen? Sie vermutete, dass Easton der Meinung war, dass die Entscheidung bei ihr läge. Jolie musste tief Luft holen, damit sie den Überbringer der Nachricht nicht erwürgte. Sie stand auf und winkte die Männer wieder auf ihre Stühle, während sie zum Fenster ging, ihre Gedanken in Aufruhr.

Nach ein paar Minuten drehte sie sich um und fragte: „Sir, würden Sie so gut sein und Seine Gnaden darüber informieren, dass ich eher in der Hölle schmoren als seinen Antrag annehmen würde.“

Sie riss die Vereinbarung in zwei Teile und warf sie in Nortons Schoß.

„Gentlemen“, sagte sie, und verließ das Zimmer.

Zwei

Jolie ging vom Arbeitszimmer hinaus in den Garten. Das tägliche Füttern der Vögel bereitete ihr große Freude. Sogar wenn sie in der Stadt war, nahm sie sich dafür Zeit. Sie ergriff eine Handvoll Krumen und setzte sich auf eine Bank. Die Vögel begannen zu picken, sobald sie ihnen das Futter auf den Weg warf.

Ihr Cousin Easton folgte ihr nach draußen und lehnte sich an eine Balustrade in der Nähe.

„Vergib mir, falls ich unhöflich war. Habe ich überreagiert?“, fragte Jolie ihren Cousin, ohne aufzublicken.

Easton haderte einen Moment mit der Antwort.

„Nein. Wenn er um Erlaubnis gefragt hätte, um dir seine Aufwartung zu machen, vielleicht. Aber einen Heiratsantrag durch einen Anwalt überbringen zu lassen ist sehr antiquiert und zeugt von schlechtem Geschmack, auch wenn er ein Duke ist.“

Jolie räusperte sich zufrieden. Sie hatte sich wegen ihrer dramatischen Ablehnung vor den beiden Anwälten geschämt. Das hatte sie nicht gut gehandhabt.

„Die Sache ist, ich kenne Yardley seit Eton und ich bin erstaunt“, bemerkte Easton.

„Du kennst diesen einsiedlerischen Duke?“ Jolie sah ihren Cousin an, ohne die Bewunderung in ihrer Stimme zu verbergen.

Easton lächelte. „Sogar sehr gut.“

Jolie war trotzdem beeindruckt. „Stimmt es denn, was man über ihn sagt? Ich muss gestehen, ich weiß nur wenig über ihn, nur das eine oder andere, was ich gehört habe, von einer Scheidung und einem Duell. Ich war ziemlich jung damals und Maman wollte mir nicht alles erzählen. In der Stadt wird er kaum erwähnt außer als der einsiedlerische Duke.“

„Wie oft sind Gerüchte zutreffend?“, antwortete Easton mit einer Gegenfrage.

„Etwas davon entspricht sehr oft der Wahrheit“, entgegnete sie.

„Er ist geschieden, aber seine Frau starb. Es ist nicht alles so, wie die Gesellschaft es dargestellt hat.“

„Habe ich einen Fehler gemacht?“ Jolies Laune sank.

„Nein. Würdest du in einer solchen Beziehung glücklich sein?“ Er hielt seine Hände hoch. „Trotz deiner Proteste?“

Jolie dachte einen Moment nach, bevor sie antwortete. „Nein, vermutlich nicht. Aber ich habe auch nie gedacht, dass ich aus Liebe heiraten würde.“

Easton lachte in sich hinein. „Von allen drei Schwestern bist du diejenige, die ich am meisten für eine Liebesheirat geeignet finde. Wenn du dir nur selbst zusehen könntest, wie du mit Tieren umgehst und dabei dein sanftes Herz sehen, dann würdest du vielleicht anders darüber denken.“

„Gut möglich“, sagte sie zweifelnd. „Ich war immer davon ausgegangen, einmal eine gute Ehe zu führen und meinen Ehemann zu respektieren. Ich denke, das reicht mir.“

„Würdest du Yardley nicht als passenden Partner in Erwägung ziehen?“, fragte Easton mit erhobenen Augenbrauen. „Es würde schwierig sein, eine noch bessere Position in der Gesellschaft zu erhalten.“

„Du überraschst mich, Cousin. Gerade dir sind Status und Gesellschaft unwichtig. Ich habe den Mann noch nicht einmal getroffen.“

„Durchaus zutreffend. Allerdings, dein Vater ist nicht hier und ich versuche mein Bestes, weise Ratschläge zu erteilen.“

Sie lachte. „Du hast recht. Meine Schwestern würden nicht glauben, dass ich einen Duke abgelehnt habe.“

„Man hat dich verspottet und ich glaube, du weißt, dass du ein Minimum an Respekt verdienst. Selbst der Titel einer Duchess wäre es nicht wert, sich selbst zu erniedrigen.“

„Danke, Easton“, sagte Jolie leise, dankbar, dass ihr Cousin sie unterstützte.

„Du solltest dir dennoch alle Möglichkeiten offenhalten. Wenn Yardley eine Frau braucht, wird er über kurz oder lang in Erscheinung treten. Wenn er dich will, dann sorge dafür, dass er dich anständig fragt.“

„Er hat vermutlich seinen Anwalt schon zu der nächsten, glücklichen Lady auf der Liste geschickt.“

„Vielleicht hat er das. Aber ich denke, du solltest dich darauf vorbereiten, ihn zu treffen. Vielleicht änderst du dann deine Meinung.“

„Niemals.“

Jolie entschuldigte sich, da sie ihre Reitsachen ausziehen wollte. Easton sah auf den Kanal in der Ferne und überlegte, wie er mit dieser unerwarteten Entwicklung umgehen sollte. Und auch, ob er sich auf der Seite seiner Cousine oder der seines Freundes einbringen sollte. Solange ihre Eltern in Schottland weilten, war er für Jolie verantwortlich.

„Bedrückt dich etwas, Liebling?“, fragte Lady Easton, die von ihren engen Freunden Elly genannt wurde, als sie sich zu ihrem Ehemann gesellte und sich auf die Balustrade stützte.

Easton lächelte sie an und beugte sich zu ihr, um sie auf den Kopf zu küssen. „Ich überlege, ob ich Jolie sagen soll, dass Yardley zu Besuch kommen wird oder nicht.“

„Weil er ein Duke ist?“, fragte Elly mit schelmischem Gesichtsausdruck. Sie wusste von Jolies angeblichem Wunsch, eine Duchess zu werden.

„Ja und nein.“ Easton erzählte Elly, auf welche Art und Weise Yardley einen Heiratsantrag über seinen Anwalt geschickt hatte.

„Kennen sie sich überhaupt nicht?“

„Nein. Jolie kennt nur seinen Ruf. Ich habe keine Ahnung, was ihn dazu veranlasst hat, ihr das anzubieten.“

„Ich kann nicht glauben, dass er das getan hat“, sagte Elly mit gerunzelter Stirn.

„Ich muss gestehen, ich bin auch sehr überrascht. Allerdings, du bist eine der wenigen Frauen, die er toleriert. Er ist einfach nicht mehr derselbe in Gesellschaftskreisen seit seiner ersten Ehe.“

„Ist das der Grund, warum er seinen Anwalt geschickt hat? Ich kann kaum glauben, dass er sich so verhält, nach allem, was ich von ihm kenne. Ich hätte gedacht, dass er und Jolie gut zusammenpassen.“

„Er ist immer noch verbittert und hat eine schlechte Meinung von den meisten Frauen.“

„Aber Jolie ist eine erstklassige Reiterin und liebt Tiere. Von ihrer Schönheit ganz zu schweigen. Er könnte gar nicht anders, als sie lieben. Wenn er sich die Zeit nehmen würde, um sie kennen zu lernen, natürlich.“

„Ich frage mich, warum er Jolie ausgewählt hatte. Eigentlich frage ich mich, warum er sich überhaupt dazu entschieden hat, wieder zu heiraten. Das passt so gar nicht zu ihm.“ Easton schüttelte den Kopf. „Wie dem auch sei. Er wird bald hier sein und kann diese Fragen beantworten. Soll ich ihn darum bitten, bei seiner Mutter unterzukommen? Ihr Landsitz ist nicht weit entfernt.“

„Lass mich darüber nachdenken“, sagte Elly. „Ich möchte erst mit Jolie darüber sprechen. Ich habe allerdings eine Idee.“

„Sollte ich Angst haben?“, neckte Easton sie.

„Natürlich nicht!“ Elly stieß ihn spielerisch mit dem Ellbogen an, wie sie es bei ihrem Bruder tun würde. „Ich werde dir Bescheid sagen, sobald ich sehe, wie aufgebracht sie ist und dann entscheiden, wie wir am besten mit der Situation umgehen.“

„Sehr wohl. Benedict ist einer meiner ältesten Freunde und ich würde ihn gerne wieder glücklich sehen. Jemanden zu verkuppeln ist wiederum eine vollkommen andere Sache.“

„Wir werden niemanden verkuppeln. Wir werden lediglich eine Gelegenheit anbieten.“

Easton schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass ich das bereuen werde.“

Elly antwortete mit einem Lachen.


Das Abendessen war eine kleinere Angelegenheit als gewöhnlich, da der alte Earl sein Essen in seinen Zimmern einnahm und der Rest der Familie Ashbury abreiste. Die einzigen Gäste beim Abendessen waren Lady Eastons Bruder Andrew und seine Frau Gwen, die nicht als Gäste angesehen wurden, da sie jetzt auf dem Grundstück lebten. Einige Jahre zuvor hatte Lord Easton eine Schule eröffnet, um Waisenkinder in Medizin auszubilden, und sein Cousin Nathaniel, Lord Fairmont, hatte nach Waterloo ein Veteranenheim hinzugefügt. Fairmont hatte in der grauenvollen Schlacht ein Auge und einen Arm verloren.

Sie züchteten ebenfalls Pferde auf dem Anwesen, und es war zu einer Familienangelegenheit für die Familien Loring, Abbott und Trowbridge geworden.

Gwen erwartete im nächsten Monat ein weiteres gesegnetes Ereignis, und sie zog es vor, dass Elly bei ihrer Entbindung bei ihr war. Sie war nicht nur ihre Schwägerin, sondern verfügte auch über medizinisches Wissen.

Aus diesem Grund würde sich Jolies Rückkehr nach London verzögern. Da das Abendessen eine intime Familienangelegenheit war, fühlte sich niemand dazu angehalten, auf seine Wortwahl zu achten. Speziell Elly und Andrew warfen spielerisch mit ihren Wortwitzen um sich und nahmen sich gegenseitig auf den Arm.

„Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, so schrecklich lange warten zu müssen, um nach London zurückzukehren", sagte Gwen zu Jolie. „Ich versichere Ihnen, ich bin genauso ungeduldig wie Sie, dass sich der kleine Abbott der Welt vorstellt."

„Es macht mir nichts aus", beruhigte Jolie sie. „Ich genieße diesen Aufschub eher. Ich bin mir nicht sicher, wie unterhaltsam die Ballsaison ohne meine Schwestern sein wird.“

„Ah. Sie müssen sich der Gesellschaft als Einzelne präsentieren“, scherzte Andrew. „Es ist nicht so einfach, wenn man sich nicht hinter jemandem verstecken kann.“

„Und woher wollen Sie das wissen? Für Männer ist es wohl kaum das Gleiche wie für Frauen. Von uns erwartet man, dass wir still an der Seite stehen, bis wir zum Tanz aufgefordert werden. Bitte versuchen Sie sich daran zu erinnern, wann Sie sich jemals verstecken mussten“, beharrte Elly.

„Ich kann mich an einige Male erinnern, bei denen ich mich vor Müttern auf der Jagd verstecken musste, oder vor Großmutter. Meistens vor Großmutter“, sagte Andrew grinsend.

„Also haben Sie niemanden, zu dem sie ungeduldig zurückkehren wollen?“, fragte Gwen höflich.

Jolie, Easton und Elly sahen zur gleichen Zeit hoch. Andrew entging nicht der Blick, den sie untereinander wechselten.

„Sie können es uns ruhig sagen“, fügte Andrew hinzu. „Früher oder später wird es doch ans Licht kommen.“

„Es tut mir leid, wenn ich ein unpassendes Thema gewählt haben sollte“, sagte Gwen entschuldigend. „Ich bin davon ausgegangen, dass es Jolie nicht an Anwärtern mangelt.“

„Nur dumme oder unerträgliche”, murmelte Jolie.

„Ich glaube, die Neugierde sollte befriedigt werden“, sagte Andrew interessiert.

„Jolie hatte heute einen Antrag von Yardley“, sagte Easton.

Andrew sah überrascht aus.

„Nicht von Yardley persönlich, genau genommen - von seinem Anwalt“, erklärte Elly.

„Wann ist die Hochzeit?“ Andrew lächelte.

„Andrew! Jolie hat den Duke noch nicht einmal gesehen“, tadelte Elly ihren Bruder.

„Was hat das damit zu tun? Sie will eine Duchess sein, er ist ein Duke, er hat einen Antrag gemacht. So hat das schon über Jahrhunderte funktioniert. Es gibt nicht viele Dukes, unter denen sie auswählen kann, wenn man es genau nimmt. Davon abgesehen, wir können eine Vorstellung organisieren. Ich meine, ist er nicht ...“

Andrew spürte, wie ihn seine Schwester vors Schienenbein trat und sie ihren Kopf schüttelte.

„Ist er nicht ... charmant?“, fragte Andrew unbeholfen und fragte sich, warum Elly nicht wollte, dass er Yardleys Besuch ansprach.

„Ich will nicht vorgestellt werden, Andrew, trotz meinem Wunsch, eine Duchess zu werden.“ Jolie machte ein missbilligendes Gesicht. „Ich würde einen Ehemann vorziehen, der selbst für sich spricht.“

„Das würdest du nicht“, neckte Elly mit einem Zwinkern zu ihrem Ehemann.

„Heißt das, dass Yardley aus seiner Einsamkeit herauskommt?“, fragte Andrew.

„Er hat mich nicht über seine Absichten informiert. Ich bin genau wie der Rest von Euch über sein Angebot verblüfft. Ich würde nicht sagen, dass er ein Einsiedler war, aber er hielt sich gewiss nicht in der Gesellschaft auf.“

„Ich werde versuchen, höflich zu sein, wenn wir einander vorgestellt werden. Ich möchte nicht, dass Du dich in Gegenwart deines Freundes unbehaglich fühlst“, fügte Jolie anmutig hinzu.

„Die Gefahr besteht nicht. Genau genommen kannst du ihm gerne geradeaus sagen, was du von seinem Angebot hältst“, sagte Easton mit amüsiertem Lächeln.

„Bitte sorgt dafür, dass ich dabei bin, um zuzusehen“, bat Andrew.

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