Willkommen in Wien

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Willkommen in Wien
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RAINER METZGER

WILLKOMMEN IN WIEN

So haben Marc Aurel und Yoko Ono, Maria Theresia Paradis, Thomas Bernhard und viele weitere die Stadt erlebt


Mit Illustrationen von Anna Frohmann


INHALT

Cover

Titel

Impressum

WILLKOMMEN IN WIEN VORWORT

BALANCE UND BARBAREN MARC AUREL

DER SCHÖNE LEICH WALTHER VON DER VOGELWEIDE

AUSSEN UND INNEN DER SCHOTTENMEISTER

KOLLEGIEN UND KOLLEGEN KONRAD CELTIS

ZU EBENER ERDE UND IM ERSTEN STOCK MEISTER ANTON PILGRAM

STADTWELTLANDSCHAFT JACOB HOEFNAGEL

HEUT HUY MORGEN PFUY ABRAHAM A SANCTA CLARA

POMP PER PASTELL ROSALBA CARRIERA

ZUR WAHREN EINTRACHT ANGELO SOLIMAN

ALS GESICHTSLOSES FRAUENZIMMER MARIA THERESIA PARADIS

DIE WONNE DES SCHLUMMERS MADAME DE STAËL

IN TOLLER KRISTALLISATION EDUARD FISCHER

DER DONAUWALZER WAR IHR KRIEGSLIED JOHANN STRAUSS

DU WOLLTEST MICH FORMEN WIE EIN WERK LINA LOOS

VARIETÉ MIT HUNGERKÜNSTLERN EMIL KLÄGER

RAUM IN DER KLEINSTEN HÜTTE MARGARETE SCHÜTTE-LIHOTZKY

DIE TEMPEL BRENNEN UND BALD WERDEN WIR BRENNEN VEZA CANETTI

DER DRITTE MANN CAROL REED

NACH SO LANGER PAUSE IM EIGENEN HAUSE HERMANN LEOPOLDI

HEIL ÖSTERREICH MEIN HEIMATL ERNST HERBECK

DIE TYRANNEI DER INTIMITÄT JOHN LENNON & YOKO ONO

IN JEDEM WIENER STECKT EIN MASSENMÖRDER THOMAS BERNHARD

KÜNSTLERSPEZIALBEHANDLUNG MARTIN KIPPENBERGER

ICH SUCHE NICHT, ES FINDET MICH INGEBORG STROBL

PUNSCH- UND WIDERSTÄNDE ANNA POPELKA & GEORG PODUSCHKA

WAS HALT WIEN IST ZUM SCHLUSS

LITERATUR

DER AUTOR

IMPRESSUM

WILLKOMMEN IN WIEN

VORWORT

Grüße Sie!“: Wer kennt sie nicht, die Adresse des Herrn Ober an die Gäste in einem Wiener Kaffeehaus. Die beiden kargen Worte beinhalten alles, was diesen Menschenschlag so besonders macht in der Kulturgeschichte: Unterwürfigkeit, Beflissenheit, eine gewisse Bereitschaft zur Denunziation und womöglich auch noch so etwas wie Freundlichkeit. In jedem Buchstaben dieser Anrede steckt Wien, wie es leibt und lebt. Statt mit Direktheit sollte man beim Versuch, sie zu verstehen, eher mit Ironie rechnen, mit einem doppelten Boden, durch den es sich auch einmal fallen lässt. Man ist schon auf eine sehr ortsübliche Art willkommen, wenn man sich hier aufhält. Wie immer ist das Kaffeehaus auch hier der beispielhafte Schauplatz Wiener Befindlichkeit.

Wien ist eben anders und Wien bleibt Wien: Dies vielfältig bestätigt zu bekommen ist der Sinn dieses Buches. Es heftet sich an die Fersen von Menschen, die sich in der Stadt bewegt haben und hier in sehr unterschiedlicher Weise willkommen waren – die sich in ihr eingerichtet und sie dabei auch im Gegenzug geprägt haben. Dass sie in Wien waren, für kurz oder ein Leben lang, soll man der Stadt ansehen. Dass man es ihnen selbst ansieht, ist selbstverständlich. Fast zwei Jahrtausende umfasst ihre Zeitgenossenschaft, so lange, wie Wien inzwischen währt. Es sind Figuren der Kulturgeschichte, die immer auch Weltgeschichte ist, und wenn Elemente von Herrschaft, dynastischem Denken und Standesgemäßheit nie ganz auszuschließen sind, sollen eher freischwebende Gestalten betrachtet werden, bei denen Intelligenz, Virtuosität und Eigensinn die tragende Rolle spielen. Sie sind herausragend und außenseiterhaft in einem. Dass es angemessen ist, die Rolle von Frauen deutlicher herauszustellen, ist so einem Programm mittlerweile eingeschrieben.

25-mal kommen also Gewährsleute zur Sprache. Marc Aurel für die Zeit um 180: Der ist zwar ein Herrscher, aber ein philosophisch ausgewiesener. Walther von der Vogelweide um 1200: Sänger und Poet, buchstäblich eine „Hofschranze“, er wohnt nämlich „Am Hof“. Der Meister des Schottenaltars 1470: ein Anonymus, er malt die erste authentische Vedute Wiens. Konrad Celtis um 1500: Humanist, Dürer-Freund und Entdecker der Tabula Peutingeriana. Anton Pilgram um 1515: Steinmetz und Baumeister an Sankt Stephan, „Fenstergucker“. Jakob Hoefnagel 1609: Kartograf und Verfasser der ersten topografisch brauchbaren Vogelschau. Abraham a Sancta Clara, zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts: Prediger, Sprachvirtuose, Jahrhundertzeuge. Rosalba Carriera 1730: Wanderkünstlerin von Weltruf mit einem Jahr in Wien. Angelo Soliman, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts: freigelassener Sklave, Aufklärer, Figur der Wiener Gesellschaft. Maria Theresia Paradis um 1780: blinde Musikerin und Mensch-Maschine. Madame de Staël 1808 und 1812: Aufklärerin, scharfzüngige Frau von Welt und Verfasserin des Buches De l’Allemagne. Eduard Fischer 1852: Schöpfer des Stadtmodells im Wien Museum. Johann Strauß zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Er hat irgendwas mit einem Fluss zu tun. Lina Loos: Cafetierstochter, Schauspielerin, Stadtschönheit und Wiener Figur um 1900.

Emil Kläger um 1910: Reporter aus dem Wien von unten. Veza Canetti in den 1930ern: Schriftstellerin und Tochter des zweiten Bezirks mit all seinen Problemen und all seiner Vielfalt. Margarete Schütte-Lihotzky seit den frühen 1920ern: Architektin, Kommunistin, Jahrhundertzeugin. Hermann Leopoldi um 1925 und um 1955: Weanaliad-Protagonist. Carol Reed 1948: Der dritte Mann neben Orson Welles und Graham Greene. Ernst Herbeck ab 1966: schizophrener Dichter mit Wien-Prägungen. John Lennon/ Yoko Ono 1969: Made a lightning trip to Vienna eating chocolate cake in a bag. Thomas Bernhard 1960 bis 1990: Vorzeigeliterat und Aufreger. Martin Kippenberger 1985 und 1995: Maler und Faktotum, Fiakerrallye auf der Prater Hauptallee. Ingeborg Strobl: Künstlerin, Teil der DAMEN mit ganz persönlichen Liebeserklärungen an Wien. Anna Popelka/ Georg Poduschka: Architekten unter dem Teamnamen PPAG und Designer der Stadtmöblierung schlechthin, der Enzis im MuseumsQuartier.

Mit den Genannten als Guides lädt dieses Buch also zur Stadtbesichtigung ein. Die Tour ist delegiert, jeweils übertragen auf eine andere Person, die das Erkunden der Gegend auch besser beherrscht, denn für den historischen Moment ist sie hier zu Hause.

Mit den Genannten als Guides lädt dieses Buch also zur Stadtbesichtigung ein. Die Tour ist delegiert, jeweils übertragen auf eine andere Person, die das Erkunden der Gegend auch besser beherrscht, denn für den historischen Moment ist sie hier zu Hause. Delegiert: Jedes Buch arbeitet auf seine Weise mit Stellvertreterschaft. Man sitzt auf einem Fleck und lässt die Zeilen und die Seiten für sich agieren – in einer Welt, die woanders stattfindet. Dass diese Tatsache jetzt einer eigenen Bemerkung wert ist, hat mit der speziellen Gegenwart zu tun, in der es ratsam ist, sich eher wenig zu rühren und die Abenteuer im Kopf auszuleben: Das Buch bietet in diesem Sinn Stadtreise statt Reise. Aus hygienischen Gründen – und für die persönliche CO2-Bilanz kann es auch nicht schaden, wenn der Besuch sich auf die Lektüre beschränkt.

 

Auf das Delegieren, das dieses Buch in Aussicht stellt, hinzuweisen, hat auch mit Wien im Besonderen zu tun. Hier ist der Philosoph Robert Pfaller zu Hause, der seine theoretische Beschäftigung mit der Wirklichkeit eben darauf aufbaut. Er hat den Begriff der Interpassivität geprägt, die, als Kehrseite der Interaktivität, darauf setzt, Dinge von anderen unternehmen zu lassen, während man selbst nichts oder etwas anderes tut – während man jedenfalls der Inaktivität frönt: „Erst hat man ein Haustier“, schreibt also Pfaller, „dann ein Video für es; erst einen Fernseher und dann einen Videorekorder; erst ein Telefon und dann einen Anrufbeantworter; erst eine Kunstsammlung und dann eine öffentliche Institution, die sie für einen besitzt; erst eine geliebte Person und dann einen Liebhaber bzw. eine Geliebte für sie; erst möchte man einen Witz hören, dann ist man froh, wenn ein anderer über ihn lacht.“

Genauso möge es funktionieren: Erst ist man in Wien und dann kauft man ein Buch, das erzählt, wie andere dort gewesen sind. Willkommen in Wien.

RAINER METZGER

JANUAR 2021


BALANCE UND BARBAREN
MARC AUREL

Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll, Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung und Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst“: Karl Kraus, Wiens zuverlässiger Bonmot-Produzent, hat das in seiner Fackel formuliert, dem ein wenig unregelmäßig erscheinenden Periodikum, mit dem er seiner Stadt und ihrer von Geld und Gelangweiltheit zerstreuten Gesellschaft heimleuchtete. Der Satz, in dem er sein Augenmerk auf die technische Seite der urbanen Existenz legt, stammt aus dem Jahr 1911. Drei Jahre vor Beginn des Weltkriegs hat er seiner Stadt auch noch die beherrschende Mentalität benannt und sich gleich mit gemeint: Gemütlichkeit. Womöglich lag darin schon eine Drohung.

Es lebt sich, so beschwört es Kraus, leichter, wenn Miete, Strom, Gas funktionieren. Zivilisation bedeutet Komfort, man könnte sagen, das war schon immer so. Auch Dionysios von Halikarnassos, der Grieche, der im ersten Jahrhundert v. u. Z. nach Rom gekommen war, um den Kaiser Augustus zu besingen, hatte darin den Fortschritt erkannt – nicht im Marmor, nicht in der Literatur und nicht einmal in der berühmten Pax Romana; sondern, ganz lapidar: in den Aquädukten, in den gepflasterten Straßen, in den Abwasserkanälen. Karl Kraus, der Vielbelesene, wird gewusst haben, in welcher Tradition seine spezielle Stadtplanung steht.

Wien als Stadt geht auf die Römer zurück. Natürlich lebten auch früher schon Menschen in der Gegend – man sollte es diesbezüglich eher nicht wie der geborene Wiener Stefan Zweig halten, der in seiner längst Schullektüre gewordenen historischen Miniaturensammlung Sternstunden der Menschheit über den Entdecker Núñez de Balboa schrieb: „Er verbietet mitten in dieser von Menschen noch nie betretenen Wildnis den Soldaten, von den Eingeborenen Gold zu erhandeln.“

Quaden, Markomannen, Jazygen, Vandalen und Sarmaten sind die Stammesnamen, die den Römern aktenkundig wurden, germanische oder noch weiter östlich beheimatete Völker, die sich nicht so verhielten, wie sie sollten. Erst vom buchstäblichen Imperialismus des Imperiums überzogen, dann links liegen gelassen, weil sich eine Eroberung ökonomisch nicht rentierte, und schließlich von periodisch wiederkehrenden Strafaktionen in der Gefügigkeit gehalten, sahen sie sich gefordert, den Römern Paroli zu bieten. Sie waren einer Art Selektionsdruck ausgesetzt, einem eigenen Zwang zum Fortschritt, und sie hielten ihn aus, bis sie schließlich an Größe, Organisationsform und Führungskraft mithalten konnten. In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts war es soweit. Die Kampagne, derer es bedurfte, sie ruhig zu stellen, zog sich 14 Jahre lang hin. Einzig der Krieg gegen Hannibal, Äonen davor, hatte noch länger gedauert. Der Kaiser, der hier einen Gegner bekämpfte, dem man das Prädikat hostis, also „Feind“, versagte und der unter dem Begriff Barbaren firmierte, war Marc Aurel. Er regiert 161 bis 180. Ein Gutteil dieser Jahre verbringt er an der Donau. Er ist der Imperator mit dem höchsten Anteil an Abwesenheit von seiner Hauptstadt, der Urbs, dem Zentrum der Welt.

Mit ihm verbindet man keinen Gründungsakt. Vindobona war ein Legionslager, eine Fortifikation unter dreißig anderen, die an der Grenze, dem Limes, für Sicherheit zu sorgen hatten. Die Grenze war porös, vor allem im Winter, wenn die Donau zugefroren war und die Barbaren, die wahlweise auch als Latrones, als „Räuber“, galten, ins Reich brandeten, um das Wohlstandsgefälle zu überbrücken. Vindobona ist als Name keltisch und heißt so viel wie „weiße Stadt“ auf Deutsch oder Belgrad auf Serbisch. Marc Aurel hat Vindobona immerhin prominent gemacht, denn nach aller Wahrscheinlichkeit ist es der Ort seines Sterbens – es gibt einen Gegenkandidaten, Sirmium, heute Sremska Mitrovica an der Save, 70 Kilometer östlich von Belgrad. Doch die Biografie des Berliner Althistorikers Alexander Demandt legt sich fest: Wien. Am 17. März des Jahres 180 ist der Kaiser tot. Es lebe der Kaiser, Commodus heißt er, es ist Marc Aurels leiblicher Sohn. Damit endet das Prinzip der Adoptionen, das seit Trajan und damit ein Jahrhundert lang sehr erfolgreich eine Kette von guten Herrschern geknüpft hatte. Edward Gibbon, der Begründer der neuzeitlichen seriösen Geschichtsschreibung, meinte um 1780, der Zeitraum der Adoptivkaiser sei „the most happy and prosperous“ von allen gewesen, die es jemals gegeben habe. Mit Marc Aurel hat er sich erledigt.

Anders als Gladiator, Ridley Scotts Monumentalfilm von 2000, es darstellt, findet Marc Aurel sein Ende nicht in einem Zelt in germanischer Wüstenei, und es ist auch nicht ein missratener, schon vorab dem Cäsarenwahn verfallener Nachfolger, der bei diesem Ende nachhilft. Mit Marc Aurels Jahren verbindet man die erste bekannte Pandemie, eine Pest, wie auch immer ihre Symptome waren, und eine Erklärung für seinen Tod läge in Spätfolgen der Seuche. Und er stirbt im Legionslager, unter soweit wie möglich splendiden Umständen im Gebäude des Legionskommandanten, dem Legatenpalast. Noch heute lässt sich die Topografie dieses Lagers in der Wiener Innenstadt nachverfolgen. Annähernd rechteckig zogen sich seine Mauern über Naglergasse und Graben zu Stephansplatz und Rotenturmstraße über Schwedenplatz und Gonzagagasse den Tiefen Graben entlang. Das zentrale Straßenkreuz im Innern, auf Lateinisch Cardo und Decumanus, hätten die Achsen Tuchlauben/Marc-Aurel-Straße bzw. Hoher Markt/Wipplingerstraße markiert. Marc Aurels Sterben hätte sich dann im Bereich des heutigen Judenplatzes abgespielt.

Relikt aus dem römischen Wien: der Bronzefuß einer überlebensgroßen Statue, entdeckt um 1800 beim Bau des Wiener Neustädter Kanals. Die Statue stand vermutlich auf dem Forum der Zivilstadt von Vindobona.

Doch war Marc Aurel nicht nur Kaiser. Er war Denker. Als solcher hat er ein epochemachendes Stück philosophischen Räsonnierens hinterlassen. In Griechisch, nach wie vor der Gelehrtensprache, verfasst, sind die zwölf Bücher gerichtet „an sich selbst“, ton eis heauton, heute entsprechend bekannt als Selbstbetrachtungen, eine Sammlung von 487 kurzen Texten, Aphorismen gleich. Notgedrungen sind viele von ihnen unterwegs entstanden, gleichsam zur Vergewisserung, wenn draußen, im Feldzug, alles drunter und drüber geht. Zwei Vermerke im Text verweisen auf Orte ihres Entstehens, und dies sind die einschlägigen: Am Ende des ersten Buchs findet sich die Eintragung „Geschrieben bei den Quaden an der Gran“, einem Donau-Nebenfluss (Hron) in der heutigen Slowakei; und über dem dritten Buch steht die Ortsangabe „Geschrieben in Carnuntum“, dem Vindobona benachbarten Legionslager donauabwärts, das bis heute Österreichs Erinnerung an die Römer konserviert. Auch im Fall dieser philosophischen Kostbarkeit, die erst im 16. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, ist Demandt sicher: „Das Handexemplar wurde beim Tode des Kaisers in Wien gefunden. Vielleicht hat es bereits Commodus, der es gewiss nicht gelesen hat, kopieren und publizieren lassen.“

Vielleicht also hat Marc Aurel mit seiner Philosophie der Stadt, die ihn sterben sah, noch ein Vermächtnis hinterlassen. Die sprichwörtliche und ganz spezielle Wiener Gemütlichkeit legte so ihre stoische Wurzel frei.

Der Nachfolger hat es nicht gelesen. Was hätte er mit den buchstäblich stoischen Weisheiten, die Marc Aurel anruft, anfangen sollen: mit den Qualitäten der Apatheia, der Autarkeia oder der Ataraxia, die allesamt Maximen meinen, dank deren man sich zurücknimmt aus der Welt, die Unerschütterlichkeit bedeuten, Konzentration auf sich selbst, ein gewisses Geht-mich-nichts-an oder Was-will-man-machen. Doch passt die Lehre von der Gelassenheit durchaus in einen Fürstenspiegel. So übt der Imperator, der als vorbildhaft in die Geschichte eingegangen ist, sich doch auch im Spagat zwischen Zurückhalten und Zurückschlagen – ein Imperator, der genauso Feldherr war, der den Christen die härtesten Verfolgungen seit Nero bescherte (so hat es Justin der Märtyrer, der Patron der Philosophen, dank Marc Aurel zu Ruhm gebracht) und der dem Reich eben auch einen Commodus hinterließ.

Entsprechend bringt Marc Aurel in Carnuntum Folgendes aufs Pergament: „Es ist also eine winzige Zeitspanne, die jeder lebt, und winzig ist auch das Fleckchen Erde, wo er lebt. Winzig ist auch selbst der längste Nachruhm, und dieser beruht nur auf der Erinnerung armseliger Menschen, die sehr bald sterben werden und nicht einmal sich selbst kennen.“ (III,10). Ein solches Memento Mori ist in der Gegend, wo es formuliert wurde, womöglich irgendwann ein stehender Begriff, und das Alles ist hin liegt schon auf der Zunge. Oder diese Sentenz: „Eine Spinne ist stolz, wenn sie eine Fliege gefangen hat, ein anderer, wenn er einen Hasen … ein anderer, wenn er Bären, wieder einen anderer, wenn er Sarmaten gefangen hat. Sind die nicht alle Räuber, wenn du ihre Absichten prüfst?“ (X,10). Vielleicht also hat Marc Aurel mit seiner Philosophie der Stadt, die ihn sterben sah, noch ein Vermächtnis hinterlassen. Die sprichwörtliche und ganz spezielle Wiener Gemütlichkeit legte so ihre stoische Wurzel frei.

Diese Gemütlichkeit meint es ja nicht nur gemütlich. Sie fühlt sich wohl beim Heurigen, aber sie schätzt auch sehr, wenn sie dabei zusehen kann, wie jemand aufs Maul fällt – zusehen, um derlei Scheitern dann im nächsten Akt in eine eigene Philosophie umzumünzen. Stoizismus und Stupidität. Niemand legt es in seiner Mischung aus Abgründig- und Ahnungslosigkeit besser an den Tag als Helmut Qualtingers Herr Karl: „Aber bitte – es geht mi nix an. Ich mache meine Arbeit, ich kümmere mich nicht um Politik, ich schaue nur zu und behalte es für mich.“ Peter Melichar, der Historiker, hat es mit dem Blick des Vorarlbergers auf die Haupt- und Hauptstadtallüren Wiens so beschrieben: „Eine merkwürdige Blindheit, Kälte oder Unerschütterlichkeit des Gemütes, die auch immer wieder als Gemütsruhe bezeichnet wird, ermöglicht erst den Übergang zur Gemütlichkeit. Es ist eine spezifische Abstraktionsleistung, die von allen anderen, die für die eigene Befindlichkeit gerade nicht von Bedeutung sind, absieht und sie ohne böse Absicht, sondern schlicht aus Eigennutz oder Egoismus gewissermaßen ignoriert.“

Karl Kraus hat das römische Erbe im Eingangssatz auf seine Art komprimiert. Technische Großartigkeiten gehen mit jenen der Mentalität einher und so sind Straßenspülung und Gemütlichkeit dann doch Begleiterscheinungen. Das allerletzte Wort, das Kraus in der Fackel zu Papier brachte, es war im Jahr 1935, ist „Trottel“. Das letzte Wort in den Selbstbetrachtungen Marc Aurels ist „heiter“. In der Kombination von beiden hat die Wiener Seele ihr Refugium.

 

ENTDECKEN

Römermuseum

Hoher Markt 3

1010 Wien

Der Beginn: Das Legionslager Vindobona, Außenposten des Imperium Romanum an der Donau.


DER SCHÖNE LEICH
WALTHER VON DER VOGELWEIDE

Ich saz ûf einem steine, dô dáhte ich bein mit beine, dar ûf sazte ích mîn ellenbogen …“: Das ist die vielleicht berühmteste Zeile von Meister Walther, der seine Herkunft mit einer nicht weiter lokalisierbaren Vogelweide verbindet. Die Zeile ist nicht so berühmt wie ihr Dichter, dessen Name sich so geländegängig gibt wie das Mittelhochdeutsch seiner Lyrik unwegsam. Wie er da auf einem Stein sitzt, die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf auf den Arm gestützt, ist er dargestellt worden, als es für die Große Heidelberger Liederhandschrift, zusammengestellt um 1330 und damit ein Jahrhundert nach seinem Tod, darum ging, ein Autorenbild von ihm zu gestalten. Der Codex Manesse, so der landläufige Begriff für die Anthologie des Minnesangs deutscher Zunge, liefert die ergiebigste Quelle für Walthers Lieder und Sprüche: 138 Liedermacher listet sie auf, Walther ist mit fast 450 Einträgen der produktivste.

Die Zeile, in der Walther sitzend vor sich hin sinniert, ist in Wien zustande gekommen – womöglich in Wien, denn vieles aus dem Mittelalter muss Spekulation bleiben. Mit Walthers Sitzgelegenheit beginnen gleichsam als Einstieg die drei Strophen des Reichstons, in dem sich der Dichter mit dem Zustand der Welt ganz im Allgemeinen auseinandersetzt. Ton nennt man derlei Zusammenstellungen von dichterischen Sentenzen, womit der Bezug zur Musik hinlänglich erfasst ist. Wort und wise gehören zusammen, ihre Bedeutung erschließt sich allein im Vortrag, im Auftritt, in der Performance. Wenn es für die kulturellen Hervorbringungen Wiens charakteristisch ist, dass der Verfasser oder Komponist stets auch der Interpret und der bevorzugte Ort seiner Präsentation die Bühne ist, hätte sie in Walther schon einmal einen Präzedenzfall. Der Reichston ist um das Jahr 1198 entstanden. Das lässt sich aus den Bemerkungen erschließen, in denen die beiden weltpolitischen Gegenspieler Kaiser und Papst von Walther in Stellung gebracht werden. Letzterer, der eben 1198 ins Amt gekommene Innozenz III., „ist ze jung“, schreibt er. Der Kandidat für den vakanten Kaiserthron, der Staufer Philipp von Schwaben, hingegen wird aufgefordert, sich endlich zu positionieren: In eben diesem Jahr wird er zumindest römisch-deutscher König. An Selbstbewusstsein, den beiden Autoritäten schlechthin in die Parade zu fahren, mangelt es dem Dichter jedenfalls nicht.

Walther bringt sich auch selbst in Stellung. In Wien, gewissermaßen eine Etage tiefer, hatte ein neuer Herzog das Regierungsgeschäft übernommen. Leopold VI. aus dem Geschlecht der Babenberger residierte, seit sein Großvater Heinrich, dem die Historie den schönen Beinamen Jasomirgott mitgegeben hat, den Herrschersitz 1145 von Klosterneuburg nach Wien verlegt hatte, am Hof – jener Adresse, die es heute noch gibt. Und auch Walther wird in dieser Umgebung zu finden sein. Hier wohl hat er sein künstlerisches Handwerk in Angriff genommen: „Zu Oesterrîche lernde ich singen unde sagen.“ Bei Leopolds Vater, gleichen Namens und mit einer V. nummeriert, der geschichtsmächtigen Gestalt, die im Dezember 1192 Richard Löwenherz gefangen nehmen ließ. Mit dem Lösegeld, das die Engländer für ihren König zahlten, wurde der Ausbau der Residenz und die Errichtung einer neuen Stadtmauer finanziert. Wohl um diese Zeit begann Walther mit seiner Arbeit als Liedermacher in Wien. Eine erste Blütezeit erlebte er unter Herzog Friedrich I., der ab 1194 amtierte und 1198 auf dem Rückweg von einem Kreuzzug starb. Sein Bruder und Nachfolger Leopold VI. war offenbar nicht mehr so sangesaffin – in einer Strophenfolge, die sehr zu Recht unter Unmutston firmiert, lässt Herr Walther das durchklingen: „ich hân wol und hovelîchen her gesungen, mit der hövescheit bin ích nû verdrungen.“ Auf gut höfische Weise hatte er bisher gesungen. Nun wird er mit seiner höfischen Art zurückgedrängt. Walther sucht also den Absprung von diesem Hof.

„Saget mir ieman, waz ist minne?“: Dieser Frage, was Minne sei, nachzugehen, ist, könnte man sagen, die Hauptaufgabe eines Höflings. Man kann es dichterisch lösen, aber auch durch den Dienst an der Dame, der man mit höfischem, höflichem, courtoisem Benehmen die Ehre erweist. Walther hatte es offenbar am Wiener Hof zu einigem Renommee gebracht. Und wie es sich für einen Künstler gehört, hatte er ein paar Neuerungen eingeführt und sich in Provokation, Überschreitung, Ungebührlichkeit geübt. Reinmar, der nicht von ungefähr den Beinamen der Alte bekommen hat, durfte bis dahin den Ton angeben; er hatte der Hohen Minne gehuldigt, einer selbstlos-keuschen und eher unkörperlichen Tugendhaftigkeit im Angesicht der Angebeteten. Walther brachte nun eine andere Realität ins Spiel und mit ihr Lieder, die etwa davon handeln, „dô ich si nacket sach“. Womöglich entsprang eine solche Avantgarde einem gleichsam zeitlosen künstlerischen Kalkül mit der Andersheit. Vielleicht steht Walthers gewisse Wildheit auch in Zusammenhang mit einer Herkunft weit diesseits der Aristokratie. Aufsteiger, der er war, wusste er um seine prekäre Existenz. Sätze wie jene aus seinem Preislied (das bekannt und vor allem berüchtigt ist durch die Anrufung von „deutschen Frauen“ und „deutschen Männern“, was natürlich gewissen Regimes sehr zupass kam) wären dann durchaus typisch, wenn sie – in Übersetzung – lauten: „Fällt mein Lohn gut aus, erzähle ich euch unter Umständen etwas, das euch gefallen wird.“

„Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“, gilt ganz buchstäblich für Walther. Man findet ihn im Lauf seines Lebens bei diversen Brotgebern, beim Staufer Philipp genauso wie bei dessen Widersacher, dem Welfen Otto. Der Landgraf Hermann von Thüringen und der Erzbischof Engelbert von Köln lassen sich von ihm besingen und immer wieder preist er die Babenbergerherrschaft in Wien, der Walther eine spezielle Verbundenheit bezeugt. Aktenkundig ist sie vor allem im ein gutes Dutzend Strophen umfassenden Wiener Hofton, jenen Bitten, Klagen, Drohungen bis zur Apokalypse versammelnden Atemlosigkeiten, in denen einer nicht immer höflich bleibt. Wie weit derlei wirklich Expression ist und was Strategie, ist natürlich Interpretationssache.


Walther von der Vogelweide als Kronzeuge der jungen Republik: Doppelschilling aus dem Jahr 1930. Der Entwurf zur Darstellung Walthers stammt von Eddy Smith.

Im Jahr 1203 befand sich Walther in der Entourage des Passauer Bischofs Wolfger von Erla. In diesem Zusammenhang hat sich das einzige authentische Zeugnis überliefert, ein zeitgenössisches Dokument, das von der Existenz des Dichters nicht erst nachträglich berichtet. Darin ist, wie so oft bei Geschichtsquellen, von schnöder Ökonomie die Rede. Am 12. November des Jahres seien an Walther, so heißt es hier auf Lateinisch, aus den Ressourcen des Bischofs „150 Silberpfennige“ gegangen, damit er sich einen „Pelzmantel“ kaufe. Die Transaktion fand in Zeiselmauer statt, 30 Kilometer westlich von Wien an der Donau gelegen und damit die einschlägige Topografie abzirkelnd. Das ist alles. Man weiß, dass das Gefolge des Bischofs nach Schwadorf bei Schwechat weiter- und damit an Wien vorbeizog. Ob Walther an jenem trüben Novembertag seinen Sehnsuchtsort betrat, bleibt im Dunkeln. Man kann das Dokument so lesen, dass es auf die Hochzeit Leopolds VI. mit der byzantinischen Prinzessin Theodora (mit der er handelsüblich auch verwandt war) Bezug nimmt: Walther wäre bei den Feierlichkeiten dann so etwas wie ein Top Act gewesen. Man kann es auch viel banaler nehmen und feststellen, dass Walther als niedere Charge im Begleittross die Stadt nur von außen sah, während sein Herr natürlich beim Herzog zu Gast war.

So übt sich die Berühmtheit im Spagat zwischen dichterischem Höhenflug und den Abgründen der Lebenserhaltung. Er hat die deutschsprachige Literatur mitbegründet mit einer Lyrik zwischen dem Subtilen und dem Sublimen, und zwischen Einfühlung und Ironie ließ er kein Auge trocken. Er ist der Herold einer Textgattung, die zwischen Gebet, Hymnus und Konfession changiert und in hochkomplexer Zusammenstellung Vers- und Reimformen kombiniert; Leich nennt man diese Versdichtungen, der Manesse-Codex beginnt die Walther-Passage damit. Got, dîner trinitate, so der Titel, ist vielleicht in Wien entstanden, das Wortspiel mit dem schönen Leich darf man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Walther ist sich zugleich nicht zu schade, ständig in Gelddingen unterwegs zu sein. Er unternimmt es, in höchsten Tönen von Leopold VI. zu schwärmen, als der sich anlässlich seiner Schwertleite, der Zeremonie seiner Waffenfähigkeit im Jahr 1200, sehr spendabel zeigt: „als wir ze Wiene dur êre haben empfangen“.

Jammern gehört zum Geschäft und da begründet Walther nicht weniger als einen Berufsstand. Im Jahr 1907 publiziert Hermann Bahr, Chronist und Impresario Wiens um 1900, ein Bändchen zu seiner Stadt, das im Rahmen einer Reihe von Tourismusführern namens Städte und Landschaften im Stuttgarter Carl Krabbe Verlag erscheint. Bahr geht seinen Baedeker chronologisch an und er kommt bei Walther gleich zur Sache: „Dieser Wiener ist der größte Dichter, den die Deutschen neben Goethe haben.“ Und sogleich folgt das Lamento: „Aber er ist in Wien vergessen.“ Damit ist der Ton gesetzt, den Bahr im Laufe seiner Ausführungen nicht vergisst, auf sich selbst, der er doch auch ein Dichter ist, und auf seinesgleichen anzustimmen: „Dem Leben entrissen, an der Wurzel abgeschnitten, verdorrte er.“ Verkannt, verbannt, missachtet ist er, der Genius, das wusste seinerzeit schon Walther. Doch er war in der Lage, das unvergleichlich schöner, mit feinem Spott auf sich und die Welt, nach außen zu tragen: „Wie möht ein wunder groezer sin? Es regent beidenthalben mîn, daz mîr des alles niht enwirt ein tropfe!“ Was für ein Wunder: Links und rechts von ihm regnet es, ihn selber aber trifft kein einziger Tropfen! Der arme Poet.

Die Geschichte hat übrigens ein Happy End. Sie hat nichts mit Wien zu tun, sei aber in Walthers Worten nachgeliefert: „Ich hân mîn lêhen, al die werlt, ich hân mîn lêhen“, geht sein Jubel, als ihm etwa um das Jahr 1220 Kaiser Friedrich II. eine Liegenschaft, ein Lehen, zukommen lässt, die ihn unter die Grundbesitzer und damit in die bessere Gesellschaft stellt. Das Stück Land wird in der Nähe Würzburgs verortet, dort, wo er – angeblich – begraben liegt. Friedrich jedenfalls, die mittelalterliche Weltberühmtheit, von den Zeitgenossen schon als Stupor Mundi, als Staunen der Welt beraunt, macht es besser als sein Vasall „ze Oesterrîche“. Natürlich ist auch Friedrich zuvor angeschmachtet worden, „dass man mich bei reicher Kunst so arm sein lässt“. „Daz man bî rîcher kunst mich lât álsus armen“: Walther verwendet in seinem Bettelgesang das Wort „kunst“ für seine Kunst. Es ist vielleicht das allerfrüheste Beispiel für den Gebrauch dieses Begriffs. Walther war eben ein Neuerer.