Lyrische Prosa

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Lyrische Prosa
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LUNATA

Lyrische Prosa

Lyrische Prosa

Frühe Erzählungen

© 1894-1897 by Rainer Maria Rilke

Umschlagbild Vassily Kandinsky

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Der Dreiklang

Was toben die Heiden?

Das Eine

Der Rath Horn

Silberne Schlangen

»To«

Der Tod

Der Ball

Der Betteltoni

Eine Heilige

Die rote Liese

Zwei Schwärmer

Bettys Sonntagstraum

Totentänze

Requiem

Der Dreiklang

Alle Welt hatte den Kopf geschüttelt damals als Dr. M... die achtzehnjährige Baronesse zum Weibe genommen. »Tut nicht gut« hatten kluge Leute gemunkelt. Er an die sechzig und – sie?...

Ob sie damals Recht hatten, diese Klugen? Lange sprach niemand mehr darüber. Die Vermählung des greisen Schriftstellers ward vollzogen und die bösen Zungen kamen umso früher zu Ruhe, zumal sich M... mit seiner Adda aus dem Bannkreise der lästigen Beobachtung auf ein kleines Landgut zurückgezogen hatte. Heute war sein Name wieder in Aller Munde. Ein neues Stück M's, sollte abends im Residenztheater über die Bretter gehen. Große Anzeigen leuchteten an den Ecken. Der Name des Autors hatte guten Klang, und das Haus versprach übervoll zu werden.

Die Klügsten der Klugen aber standen schon am Vormittage an den Ecken beisammen und rieten her und hin, was man nach dem Titel von dem Drama zu erwarten hätte. Der war sonderbar genug:

Der Dreiklang

»Der Dreiklang« stand in ungeheuren schwarzen Lettern über dem Personenverzeichnisse. Und erst die Personen! Er, sie, ein Hausfreund...

Ja, die Klugen sind halt überaus scharfsichtig.

Zweiter Akt, dritte Szene:

Der Gatte: ... und du liebst ihn, Irma?

Sie: (Gattin): offen – ja!

Er: Gut, dass du so offen bist.

Sie: Du verdienst es; belügen werde ich dich nie!

Er: Diese Wahrheit schmerzt. Freilich – ich hätte bedenken sollen, als ich dich heiratete: du bist jung und – ich...

Sie: Nicht doch. Du handeltest damals ganz recht. Ich will mich nicht von dir lossagen; ich vermöchte es nicht; – denn... denn... ich (zögernd) ich schätze – dich.

Er: Mein Kind...

Sie: Du sagtest mir oft: Ich könnte nicht ohne Dich sein, Irma; du verstehst mich; du bist mir geistig ebenbürtig.

Er: Du bist es

Sie: Wohl – nun höre: Lass mich geistig dein Weib sein – geistig – begreifst du? – und meinen Leib ...

Er: (entsetzt) Irma!

Sie: Was erschrickst du? Ich gebe Dir mein besseres Teil.

Er: (bebend) Irma!

Sie: (ohne aufzuhorchen) Den Geist, das Göttliche, Ewige Dir, Mann, Dir!

Er: (zögernd) und jenem?

Sie: Die sündige, eitle Lust, der der Ekel folgt auf den Fersen...

Er: Mir schaudert vor dir.

Sie: (Näher tretend) Freund, mein Gedanke ist groß. Wie viel Elend, wie viel geheimer Frevel würde aus der Welt schwinden, wenn alle ihn zu denken imstande wären.

Er: Nein, Weib, du sprichst im Wahn – (steigernd) entweder bist du mein mit Leib und Seele mein, – (schreiend) mein! ...

Sie: (kalt) Bezähme Dich!

Er: Aber...

Sie: Ich hielt Dich für größer. So bist auch du, du den Europa zu den Leuchten des Wissens zählt, von dieser läppischen Kleinlichkeit befangen, die Geist und Körper immer auf einen Rahmen spannt? Dass ich dir doch die Augen öffnen könnte!

Er: (sieht sie starr an)

Sie: Ha, ich sehe du fühlst die gigantische Wucht meines Riesenplanes.

Er: (macht eine Gegenbewegung)

Sie: Ich weiß was du sagen willst. Dies Verhältnis ist gegen die Natur. Nichtwahr, das schwebte Dir auf den Lippen?

Wie kurzsichtig du bist! Thor bei all deiner Weisheit. Blick hinaus! Dem einen Strauche hat die Natur bloß Blüten gegeben, holde, keusche, duftige Triebe; – bei anderen fallen die Blumenblättchen bald ab und es drängt die brutale, sinnliche Frucht hervor. Ist es im Leben anders? Den Einen, den großen, ewig-keuschen Kindern, den Künstlern, sollen nur Blüten zu eigen sein. Geistige Keime nur, unsterbliche Triebe sollen in ihrer reinen Seele entstehen und sich emporheben in ein sonniges, seliges Dasein. Dem tierischen Gezücht aber, dem kommt die Frucht zu, die gemeine berauschende Frucht. Kind du! Mit den großen, träumerischen Augen, in denen tausend Ideale schimmern – weißhaariges Kind, du ertrügst ihn ja gar nicht den zerstörenden, wütenden Brand der sinnlichen Liebe.

Er: (nachdenklich) Vielleicht ... aber warum kannst du, die du mir ebenbürtig bist im Geiste nicht auch wie ich so... so...

Sie: So geistig – willst du sagen – ausharren? Warum? Weil das Weib ein Doppelwesen ist von Natur göttlich und hündisch zugleich. Unsere Seele bleibt rein, wenn die süße Begierde im Feuer der Sünde schmilzt, und das grässliche Gift der berückenden Lust besudelt nicht den Geist des schwachen, bebenden Weibes. Zu geilem Genuss hat die Natur uns gemacht, aber die eigene Kraft verlieh uns die bessere Seele.

Das Weib ist ein Buch, Bibelsprüche stehen drin, aber der Einband ist mit den Farben der Sünde bemalt. Hast du denn in keinem der tausend Bücher die du gelesen und wieder gelesen Aufklärung gefunden über dieses Doppelding, dieses Zwitterwesen?

Er: Wenn dem so wäre?

Sie: Zweifelst du noch? Es ist so. Mein Geist haftet an Deinem, ein unsichtbares Moospflänzchen am riesigen Stamme, mein Leib, mein vergängliches Leben an jenem jungen, glutäugigen Tollkopf.

Er: Aber Irma – ich liebe Dich...

Sie: ... und weil du mich liebst, musst du mich begreifen.

Er: ... Gott!

Sie: Denn weil du mich liebst, darfst du mich nicht töten, – und du tötest mich – wenn ...

Er: (kleinlaut) Aber geistig, geistig bist du – mein!

Sie: (mit Pathos) Immer! – So bist du gut, so erkenn ich den Weisen, der erhaben steht über dieser verblendeten Welt! Dank! Das wird ein göttliches Dasein! Du, er, ich – zwischen euch beiden – dein und ihm gehörig an der Schwelle zweier Welten: hier Licht, dort Dunkel; hier Weisheit, dort Verblendung! – Du – Halbgott! – ich und jener ein unbeschreiblicher Bund. Alle Triebe, die das Leben durchpulsen feindlich und zürnend – in uns versöhnt in einem weltendurchtönenden, dröhnenden, herrlichen Dreiklang!...

Applaus, Applaus, Applaus!

»Neu, herrlich, kraftvoll ...« allgemeines Urteil.

Die Klugen aber munkelten in den Couloirs: »Sonderbar, sonderbar dieses Stück!«

»Und hast du gesehen« – flüsterte ein junger Mann laut genug – wie bleich M... war, wie greisenhaft; wie leer und glanzlos seine Augen. Adda dagegen das reine Leben. Sie kümmerte sich wenig um ihn, aber sie sprach unablässig nach rückwärts – und lachte.« Im Hintergrunde der Loge war ein junger Mann gesessen. Niemand kannte ihn.

»Sonderbar, sonderbar.« Und die Gruppen lösten sich.

Am nächsten Morgen brachten die Tagesblätter lange Besprechungen über M's Drama. Auf der letzten Seite des Hauptblattes aber war in gesperrten Lettern zu lesen:

»Wie uns eben von S. telefoniert wird, ist der große M. heute nachts einem Schlaganfalle erlegen. Diese jähe Trauerkunde wird allenthalben Schrecken und Teilnahme hervorrufen. Die Ärzte, welche nurmehr den Tod des greisen Meisters konstatieren konnten, meinten, dass gerade die freudige Erregung des gestrigen Abends dem Verewigten gefährlich geworden. Wie wir vernehmen blieb M... nach der Vorstellung noch im Kreise seiner Familie bis gegen Mitternacht und sprach freudig über den Erfolg seines Werkes; wer hätte geahnt, dass es sein letztes sein werde – »Der Dreiklang«.

Ende

Was toben die Heiden?

Die frühe Dämmerung des Märzabends lastete auf den Straßen der Vorstadt. Das kalte, graue Zwielicht ließ die schmutzigen Fassaden der hohen Wohnkasernen noch widerlicher erscheinen, und hie und da beleuchtete schon eine trübe Laterne den kotigen Gangsteig. Aus den Gewölben der Krämer, die ihre Waren unordentlich vor der Türe ihres Ladens aufgestellt oder aufgehangen hatten, stieg ein feuchter dumpfiger Geruch, der vor jedem Verkaufsraum – je nach der Art der feilgebotenen Dinge wechselte oder in einen anderen zerfloss. Halbnackte Kinder spielten in schmutzigen, zerfetzten Hemden vor den Haustüren, und schleppten an Schnüren unförmige Holzstücke hinter sich her, die die Rolle von Pferdchen vertreten mussten, während die etwas älteren Buben den keilspitzen Kreisel mit kleinen Peitschen unter ekelhaftem Geschrei bis in die Mitte der Straße schleuderten. Mitten dazwischen fuhren schwere Lastwagen, mit Eisenschienen beladen, mit zwei Paar elenden Pferden bespannt, rollten müde Droschken dahin, – und hie und da wand sich der protzenhafte Privatwagen eines Emporkömmlings durch, der von seiner Fabrik in die behagliche Stadtwohnung zurückkehrte. Das Rasseln und Dröhnen der Fahrzeuge, das Johlen der Fuhrleute übertönten sehr dumpfe Schläge vom Turme der Marienkirche. Und jetzt erklangen von allen Seiten in schrillem Misston die gellenden Farbrikspfeifen, welche den Feierabend verkündeten. Von allen Seiten drängte es jetzt heraus aus den schwarzen Toren, wo die langen russigen Gänge, aus den rückwärtsliegenden Arbeitshäusern mündeten. Da quoll es hervor, jenes arme, enterbte Geschlecht, dessen dunkles Dasein zwischen Elend und Gemeinheit sich fortquält. Männer, Weiber, halbwüchsige Knaben und Dirnen in den leeren Augen und den auf schwülstigen Lippen den Ausdruck stumpfer Brutalität, unbewussten, geduldigen Elends. Nur auf mancher Männerlippe der höhnische Trotz – halb erloschen – hoffnungslos. Die Burschen mit den schwarzen Gesichtern mischten sich unter die Dirnen, die in langer Reihe den ganzen Gangsteig einnahmen und stießen sie unter rohen Scherzen her und hin. Die älteren Weiber gingen meist zu zweit, – und die Männer folgten teils allein, teils in Gruppen. Einer unter ihnen hielt ein zerknittertes Zeitungsblatt in der Hand, und schien heftig gestikulierend seiner Umgebung den Inhalt eines Artikels zu erklären. Einige bogen in die abzweigenden Gassen ein und ein großer Teil verlor sich in den Branntweinschenken.

 

Indessen war es ganz finster geworden. Die Gaslampen warfen ihr müdes Licht auf die Gassen und jede zeichnete auf dem Boden einen ungewissen verschwommenen Kreis. Ein Windstoß machte die Scheiben der Laternen erklirren, und die Flammen zuckten unstet. Es begann zu regnen.

Durch eine der einsamsten engen Seitengassen schritt eilig ein Arbeiter. Den Kopf etwas zur Erde geneigt setzte er schwer die Füße auf das unregelmäßige Steinpflaster so, dass die leere Gasse davon widerhallte. Die erloschene Pfeife hielt er im Munde, ohne dass er zu bemerken schien, dass der Knaster nicht brannte. Der Schein einer Laterne huschte über sein Gesicht. Es war sehr ernst. Die Augen starr und ausdruckslos, die Lippen fest zusammengekniffen. Der Weg schien ihm lange. Von Minute zu Minute beschleunigte er seinen Gang. Endlich stand er still. Einen Augenblick holte er Atem. Dann betrat er den engen finsteren Torweg eines vierstöckigen schmalen Vorstadthauses. Ohne auf eine dicke Frau zu achten, die aus der Tür tretend eine Frage an ihn stellte, stieg er, indem er immer 2 Stufen nahm rastlos 4 Treppen aufwärts. Im Vorraum angelangt, schob er die Kinder beiseite, welche den Eingang zu einer der dort mündenden 3 Türen besetzt hatten und trat ein.

Es war eine kleine dumpfige Stube. Auf einem niedrigen Bett lag ein Weib. Die rohe Kotze war bis an das Kinn hinaufgezogen. Der Kopf mit den müden, verglasten, blauumränderten Augen kraftlos auf dem rotgestreiften Kissen zur Seite gesunken. Die eine Hand war in dem wirren schwarzen Haar vergraben, während die andere krampfhaft und zuckend die Decke zusammenballte und abwechselnd wieder losließ. Um die schmalen, farblosen Lippen schlich ein Zug unsäglichen Leidens und unter den weithervorstehenden Jochbeinen schien der Tod zu kauern. Der Mann neigte sich zu ihr nieder. »Anna«, flüsterte er weich. Die Kranke sah ihn groß an. Es lag etwas fremdes, weltfernes in diesem Blick, das ihn erschauern machte. Sie versuchte zu lächeln. Aber nur ein schmerzliches Zucken entstellte die Lippen, dann trat eine starre, regungslose Ruhe in die verhärmten Züge. Der Lichterschein, der aus dem Fenster, das jenseits des schmalen Lichthofes – auf Schrittweite lag, herüberfiel, erhellte den ärmlichen Raum hinlänglich. Er enthielt nichts, als das breite niedere Bett – einen elenden Stuhl und einen Herd dessen schmutzig graue Kacheln lange keine Wärme ausgestrahlt hatten. Während der Mann sich seufzend auf dem Stuhl neben dem Weibe niederließ, traten die Kinder leise ein. Marie ein Mädchen von etwa 14 Jahren, das kleine zweijährige Brüderchen auf dem Arme. Sie setzte sich auf den Herd, und ließ den Kleinen mit den harten Brotkrumen spielen, die auf der rostigen Platte lagen.

Der Vater bemerkte sie nicht. Er hielt die linke Hand des Weibes in der seinen, während die Rechte den Kopf stützte. Er dachte und dachte. Nicht geordnet, wirr und gespensterhaft zog die Vergangenheit durch seine Seele. Er liebte dieses Weib. Das wusste er. Es war sein Weib. Freilich vor der Kirche nicht und vorm Pfarrer. Aber vor seinem Herzen und vor den – Kindern. Jahrelang lebte er mit ihr. Sie war treu. Sie hatte für ihn gesorgt, ihm Kinder geschenkt und ... seine Gedanken verwirrten sich. Er wusste nur, dass sie jetzt krank war, todkrank, wie der Arzt sagte. Die Kranke rührte sich – er fuhr empor. Sie stammelte einige unverständliche Worte. Sie sprach im Fieber. Alles war wieder still. Hie und da lachte der Kleine wenn es ihm gelungen war aus dem harten Brote ein Thor herzustellen. Vom Hof herauf scholl das Kreischen weiblicher Stimmen. Stille. Er hörte die raschen, pfeifenden Atemzüge seines Weibes. Und er hob den Kopf und blickte sie an. Der Lichtstrahl von drüben fiel just auf ihr Gesicht. Er sah sie wieder jung, frisch, gesund; und heiße sinnliche Liebe erwachte in ihm. Sein Auge lohte. Er drückte die Hand der Todkranken so fest, dass diese mit leisem Wehruf den Kopf auf die andere Seite wandte.

Sie musste leben! – Ja warum war sie denn dem Tode verfallen? – Sagte der Arzt nicht selbst kräftige Nahrung ... Die dunklen Brauen des Mannes zogen sich dicht zusammen. Weil er ein Bettler war, musste sie sterben. Nein – das sollte nicht geschehen. Jetzt vernahm er alles auf einmal. Die ermahnende Stimme des Arztes, das Drohen des Hausherrn, der ihn aus dem Hause jagen wollte, wenn er nicht sofort bezahlte, dazwischen das Ächzen der Kranken und den Jammer der Kinder, die Hunger hatten ... Das brach die Kraft des Mannes. Er ließ die Hand des Weibes los und sank starr in sich zusammen. Aber nur für einen Augenblick. Dann richtete er sich empor. Gilt ein Leben nicht soviel wie das andere? – Liegt es nicht noch in seiner Macht das teure Weib zu retten? Er braucht sich ja nur Geld zu schaffen ... Da draußen, das entlegene Comptoire seines Chefs ... Nur der alte Josef schläft dort im Vorraum – Der alte Kadaver leistet keinen Widerstand ...

Er zuckte jäh zusammen. War das Mord? Und sein Blick fiel auf das in furchtbaren Schmerzen sich krümmende Weib, das eben die Augen aufschlug – so flehend, so hilfesuchend. Er riss sich empor. Es musste geschehen so oder so – Leben für Leben.

Rau hieß er die Kinder sich an das Bett der Mutter setzen. Dann trat er nahe an den Herd. Machte sich dort mit den Flaschen und Töpfen zu tun, und steckte unbemerkt ein scharfes Messer ein. Ein langes, zweischneidiges. Ein anderes ließ er auf dem Rande der Herdplatte liegen. Die Sperrhaken und verschiedenartigen Schlüssel, so wie einige scharfe Instrumente trug er noch unter seinem Rock im Arbeitssack. Sonderbar, er hatte heute mehr Werkzeuge mit nach Hause genommen, als er sonst pflegte. Jetzt trat er noch einmal an das Bett. Beugte sich nieder und drückte einen langen Kuss auf die bleiche Stirn der Mutter, küsste auch Marie und hieß sie den Kleinen neben die Mutter betten. Dann ging er. Es war neun Uhr. Im ersten Stockwerk nur brannte ein mattes Licht, so dass es oben ganz dunkel war im Stiegenhause. Vor der Tür blieb er noch einmal stehen. Tiefe Stille. Da auf einmal hörte er Mariechen, und das Lallen des Kleinen dazwischen:

»Vater unser, der du bist in dem ...«

Eilig stieg er die enge Treppe hinab.

Mählich lichtete sich die Nacht. Ein leichter rötlicher Dämmerschein spielte um die hohen, schwarzen Dächer. In den Straßen aber war es noch dunkel. Nur aus den Milchläden fiel das rote Gaslicht auf den Gangsteig und zeichnete dort einen lichten Kegel. Hie und da rollte ein linnenüberspannter Bauernwagen vorüber, der Waren für den Markt führte. Die Leute darauf hatten dicke Tücher um Hals und Ohren gezogen. Der Morgen war kalt. Auch dem Manne schien zu frieren, der in der Mitte der Straße so eilig weiterhastete. Er hielt beide Hände in den Taschen und wich den Wenigen, die des Weges kamen, – in großem Bogen aus. Von Zeit zu Zeit blieb er stehn und schaute sich um. Es war ihm als wankte ein alter Mann schreiend hinter ihm her eine weite klaffende Wunde in der Brust mit großen, blutigen Augen im halb zerschmetterten Schädel. Aber es war nur sein eigener Schatten, der ihm selbst bei jeder Bewegung ängstlich auswich. Und er stand wieder. War das nicht eine Blutspur was da hinter ihm herlief und so dunkel glänzte. Er zitterte. Er bückte sich, tauchte den Finger in die Wagenspur und führte ihn nah an die Augen. Es war fahler, grauer Straßenkot. Da kam ihms zum Lachen. Danach beschleunigte er seine Schritte noch mehr. Jetzt – jetzt hörte er hinter sich laufen. Sein Herz schlug nicht mehr. Er hielt den Atem an. Er musste sich am nächsten Laternenpfahl halten. Jetzt knapp hinter ihm – Jetzt ... Ein Bäckerbube trollte vorüber – »Bissel flott gezecht, Freunderl! Wie?« rief er dem Wankenden zu und verschwand in der nächsten Seitengasse. Der Mann aber raffte sich auf, und ging weiter. Er schleppte sich kaum. Es war ihm als ging er nun schon viele, viele Jahre so fort. Was vorher war, das wusste er nicht. Da klirrte das Geld in seiner Tasche – eilig drückte er die Hand darauf. Er wusste es doch. Aber er wollte schweigen davon. Es war nicht schön zu denken. Er spürte ihn noch in der Nase, diesen Geruch, von dem Schweiße des alten Mannes – von dem frischen Blute ...

Da wurde schon eine Apotheke aufgemacht. Er ging hinein. Von dem starken Weine von dem Spanischen möcht' er. Der verschlafene Lehrling achtet nicht auf den Mann. Er geht das Verlangte holen. Dem Arbeiter aber scheint es, als habe er in einem fort seine rechte Hand betrachtet. Da richtig – ein kleines Fleckchen – braunrot auf dem Hemdärmel. Er steckte ihn tief unter den Rock – ... tief ... Aber da war es ihm, als wüchse die grobe Leinwand innen von neuem über der Hand hervor und darauf ein Fleck so groß – so groß. Der Lehrling gähnte und nannte den Preis, während er die Flasche, sie in den Händen drehend, in ein rotes Papier einschlug. Der Mann bezahlte. Seine Hand zitterte, es war blankes, blankes Silber. Ohne Gruß ging er.

Endlich war er beim Hause. Das Thor war noch verschlossen. Er öffnete mit dem großen Schlüssel mühsam und ängstlich. Die schwere Tür fiel hinter ihm jäh in's Schloss. Der Hausmeister, der zufällig über den Gang schritt, sah den Mann misstrauisch an und murmelte etwas von – Gesindel. Der aber war schon atemlos im vierten Stockwerke angelangt. Mariechen stand auf der Schwelle und weinte: »Vater«, rief sie ihm entgegen, »Vater ich fürcht mich. ... D'Mutter, d'Mutter ...«

Der Unglückliche ahnte Alles. Er stürzte ans Bett. Da lag sein Weib starr und still. Die Augen waren weit, weit offen, aber verschwommen und ohne Ausdruck. Die blauen Lippen halb geöffnet, als wollte sie Luft schöpfen oder reden ... Die Hände so kalt, ... er begann sie zu reiben, zu rütteln ... Alles, Alles umsonst. Da übermannte ihn eine Wut, eine Verzweiflung, er warf das blanke Geld auf die grauen Dielen dass es dröhnte und Marie erschrocken zur Seite sprang. Der Kleine aber erwachte, zupfte an der Decke der Mutter, und als diese still blieb, begann er zu lächeln, in die Händchen zu schlagen, und hatte seine Freude an den hellen, glänzenden Silberstücken, die da auf dem Boden so toll durcheinanderkollerten. Der Vater aber war über dem toten Weibe zusammengebrochen. Mariechen wagte sich nicht zu rühren, und das Bübchen war zufrieden mit dem neuen Spielzeug.

Endlich richtete der Mann sich auf. Er schickte die Kinder fort. Sie sollten in den Hof gehen und nicht kommen, bis er sie riefe. Als die beiden aber schon an der Türe waren, rief er sie zurück. Küsste das Mädchen oft auf die blasse Stirn, und herzte auch den Kleinen bis dieser, ob der ungewohnten Liebkosung in Tränen ausbrach. Jetzt hieß er sie gehen.

Ächzend stand er auf, ging zur Tür und verriegelte sie von Innen. Dann legte er den Rock ab, – setzte sich auf den Bettrand zu seinem toten Weib und verharrte eine Weile regungslos. Jetzt begann er nochmals die kalten Glieder zu reiben und auf die bleichen, gespannten Lippen zu hauchen. Und ihm war, als stiege eine leichte Röte in die eingefallenen Wangen. In fieberhafter Hast holte er die Flasche mit dem Weine, brach ihr den Hals an der Sessellehne, und flößte aus der hohlen Hand einige Tropfen den klaffenden Lippen ein. Aber es füllte sich nur die Mundhöhle und dann floss der dickflüssige rote Trank der Toten über das bleiche, spitzige Kinn. Da schien es ihm es wäre Blut! Er warf die Flasche von sich. Hat er auch dieses Weib gemordet? Sein Weib? – Ein Schauer schüttelte die nervigen Glieder.

 

Er glitt vom Bettrand herab – und sank vor einem alten verblichenen Christusbilde – dem einzigen im Zimmer – auf die Knie. Er hob die breiten, braunen Hände hoch über den Kopf. Seine Lippen zitterten. Vielleicht betete er. Aber laut schrie er nur: Jesus Maria!

Es war indessen ganz Tag geworden. Er erhob sich. Er wankte ein paar Mal in der Stube umher; dann trat er an das Fenster. Graue, leichte Wolken deckten den Himmel, da und dort aber blickte ein Stückchen blasses Blau hervor. Er wandte sich jäh um, trat an den Herd. Dort lag noch das Messer, jenes zweite. Er setzte sich auf den Rand der Platte. Die Augen weit in die Ferne gerichtet, leer und gleichgültig; er fasste die Klinge. Langsam durchschnitt er die Pulsadern. Keine Muskel zuckte in seinem fahlen Antlitz. Dann bemerkte er das Blut. Das Blut, das von seinen Handgelenken niederrann. Er fürchtete dieses Blut. Er wollte ihm entfliehn. Er sprang auf. Aber schon an dem Bette seines Weibes sank er kraftlos nieder. Quer über sie lag er. Langsam aber reichlich quoll das rote Blut unter den Hemdärmeln hervor und versickerte in dem rohen Leinen des Bettuches.

Durchs Fenster aber blickte die kalte Märzsonne. Ein Strahl verirrte sich in die Stube und spielte wie ein glückseliges Lächeln um die Lippen der Toten. Im Treppenhause dröhnten schwere Schritte und klirrten Säbel.

Aus dem Hofe aber scholl leise Mariechens helle Kinderstimme, die das heute so früh gestörte Brüderchen einwiegte:

Schlaf, schlaf fein sacht...

Schutzenglein wacht!...

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