Buch lesen: «Die Omega-Spur»

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Raimund Badelt

Die Omega-Spur

Raimund Badelt

Die Omega-Spur

Spiritualität der Zukunft


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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2021

© 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen

Umschlagbild: © Sr. Heidrun Bauer SDS, Göttliches (blau), 2000 – Acryl-Mischtechnik auf Glasplatte (34 × 45 cm)

Innengestaltung: Crossmediabureau, https://xmediabureau.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05596-7

978-3-429-05142-6 (PDF)

978-3-429-06525-6 (ePub)

Inhalt

Einleitung

1. Von Hildegards Ei zum verschwundenen Mittelpunkt

2. Teilhard de Chardin – der Visionär

2.1. Das Leben des Visionärs

2.2. Die Thesen des Visionärs

2.3. Teilhards Spiritualität der Evolution

2.4. „Gefährliche“ Neuerungen

2.5. Visionen schlagen Wurzeln

3. Die Spurensuche wird ausgeweitet

3.1. Beispiele für christliche Ansätze

3.2. Spurensuche interreligiös

Fazit der ausgeweiteten theologischen Spurensuche

4. Wo steht die Evolution heute?

5. Was heißt „ich“ und „wir“? – Anmerkungen zum Begriff „Selbstbewusstsein“

Was heißt vor diesem Hintergrund „Wir“?

6. Die Noosphäre entsteht

Unser Wissen

Unser Kommunikationsnetz

Unsere Gruppenregeln

Verantwortung für größere Einheiten

Abstraktionen

7. Die Bürde der Verantwortung

8. Auf nach Omega!

A) Schöpfungsauftrag

B) Liebe als zentrale Energieform

C) Die Noosphäre

9. Zusammenfassung

Weiterführende Literatur

Anmerkungen

Einleitung

Anfang des 20. Jahrhunderts veränderte sich das damals gültig erscheinende Weltbild sehr wesentlich: In der Physik vereinigt Albert Einstein (1879–1955) die Begriffe des dreidimensionalen Raums und der Zeit zu vier Dimensionen eines Raum-Zeit-Systems und stellt in seiner berühmten Formel (E = mc2) den Zusammenhang zwischen Materie und Energie dar. Er erhält nicht nur den Nobelpreis, sondern wird zum populärsten Forscher seiner Zeit. Bis zu seinem Lebensende versucht er, eine einheitliche Theorie zu formulieren, in der die Erkenntnisse der modernen Physik zusammenzuführen wären.

Gleichzeitig analysiert der französische Jesuit Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) Erkenntnisse der Evolutionsforschung und beschreibt Phänomene des immer klarer hervortretenden Geistes. Mit der Ausweitung des Energiebegriffes auf spirituelle Energie kommt er zu einer überraschenden Zusammenschau von Naturwissenschaft und Religion (insbesondere Mystik), die er im Gegensatz zur damals allgemein gängigen Meinung als getrennte Wege zu einem gemeinsamen Ziel sieht. Da er sich widerwillig, aber doch, dem kirchlichen Publikationsverbot unterwirft, werden seine bahnbrechenden Schriften erst nach seinem Tod allgemein bekannt.

Beide großen Denker emigrieren in die USA, Einstein auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus, Teilhard, um dem kirchlichen Druck in Europa auszuweichen. Die beiden Pioniere umfassenden Denkens sterben wenige Tage hintereinander im Raum New York, Teilhard am 10. April 1955, Einstein am 18. April 1955.

Welche Ausgangssituation fanden die beiden vor?

Der Fortschritt der Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten schien die Gottesfrage immer mehr in den Hintergrund zu drängen, Gott und Religion wurden für viele zum Rückzugsfeld für Fragen, die wissenschaftlich (leider) noch nicht geklärt waren. Materialistische, zum Teil sehr kämpferische Theorien gewannen an Boden, während andere, sich konzilianter gebende Strömungen einfach das allmähliche Aussterben von Religion erwarteten.

Insbesondere die letzten 150 Jahre waren durch rasante Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik gekennzeichnet gewesen, gleichzeitig aber auch durch eine sehr defensive Grundtendenz im Lehramt der römisch-katholischen Kirche. Hier versuchte man, durch dogmatische Festschreibungen, verbunden mit energischen disziplinären Maßnahmen das gefährdet scheinende Glaubensgebäude abzusichern: Im Jahre 1854, einige Jahre vor dem Erscheinen von Darwins berühmtem Buch über die Entstehung der Arten, wurde das Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens formuliert, 1870 auch die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubensfragen. Einstein publizierte 1905 seine Relativitätstheorie, kurz danach verpflichtete der Vatikan seine Kleriker zum Anti-Modernisten-Eid. Die Dogmatisierung der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel erfolgte 1950 einerseits zu einem Zeitpunkt, zu dem Hubbles Entdeckung der Natur der Andromeda-Galaxie und ihrer Entfernung von unserem Sonnensystem (ca. zwei Millionen Lichtjahre) schon fast 30 Jahre zurücklag, und erfolgte anderseits, was wohl niemand geahnt hatte, drei Jahre vor dem Start des ersten Weltraumsatelliten Sputnik. 1969 betrat dann der erste Mensch den Mond.

Das naturwissenschaftliche Weltbild wurde ständig größer, komplexer, veränderlicher, aber auch schwerer vorstellbar. Gleichzeitig versuchten kirchliche Autoritäten, christliche Glaubenssätze immer präziser, konkreter, enger zu formulieren. Mitte des 20. Jahrhunderts musste man sich dann fragen, wie Weltraumfahrt und leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel wohl zusammenpassen. – Es verwundert nicht, dass jemand, der sich als Wissenschaftler gerade in so einer Epoche mit der Verbindung von Naturwissenschaft und Theologie befasste und sich mit deren Auswirkungen auf spirituelles Leben beschäftigte, in Schwierigkeiten geriet. Religionen generell schienen nur auf Grundlage eines Weltbilds vorstellbar, das offensichtlich nicht mehr stimmte: In allen uns bekannten Kulturtraditionen machten sich Menschen sowohl Vorstellungen über die Entstehung bzw. den Ursprung der Welt als auch über höhere Wesen, deren Macht man fürchtete oder deren hilfreiches Eingreifen man erhoffte. Die Schöpfungsberichte der Bibel mit der bekannten Sieben-Tage-Erzählung drücken die Vorstellungen im Volk Israel vor etwa 3000 Jahren aus. Aus heutiger Sicht bedeuteten sie damals insofern einen Fortschritt (etwa im Vergleich zu den Gottesvorstellungen im alten Ägypten), als Himmelskörper (Sonne, Sterne), aber auch die Tiere eindeutig als Geschöpfe Gottes qualifiziert werden, nicht aber selbst als Götter gesehen wurden. Aber noch Anfang des 20. Jahrhunderts, also vor rund 100 Jahren, bestand man seitens des Lehramts der katholischen Kirche auf der wörtlichen Wahrheit dieser Berichte; in manchen Kreisen anderer christlicher Kirchen besteht diese Ansicht noch heute.

Schon seit dem Altertum haben Generationen von Denkern versucht, die Existenz Gottes zu beweisen oder zu widerlegen; uns ist heute klar geworden, dass diese Frage im Letzten nicht logisch zwingend zu beantworten ist, es kann nur um Plausibilitäten oder aber persönliche Erfahrungen gehen. Religion kann man als ein zusammenpassendes System deuten, zu dem neben rituellen Vorschriften vor allem eine Welterklärung, eine Handlungsanweisung (Ethos) und eben Spiritualität gehören. Mit Spiritualität ist hier die Art gemeint, in der Glaubenstraditionen individuell und in Gemeinschaft gelebt werden. Wenn es gelingt, Religion auf die Basis einer zeitgemäßen Welterklärung zu stellen, so hat dies wichtige Auswirkungen auf ethische Verhaltensweisen und Spiritualität – ein Brückenschlag zwischen der Welt der Naturwissenschaft und jener der Religion, ein Brückenschlag zwischen Alltagsleben und Sonntagsleben wird möglich.

Neueste Ansätze, sowohl von naturwissenschaftlicher Seite als auch von theologischer bzw. spiritueller Seite, erkennen zunehmend, dass das Auseinanderleben von Naturwissenschaft und Spiritualität ein Fehler war. Die Wege mögen unterschiedlich sein, aber je weiter die menschliche Erkenntnis fortschreitet, je näher wir dem Gipfel kommen, desto enger führen diese getrennten Wege wieder zusammen. Auch Einstein strebte nicht nur ein physikalisches, sondern im besten Sinne interdisziplinäres, umfassendes Weltbild an, wie er in seinem bekannten Satz formuliert: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.“

Einsteins Theorien waren zwar schwer verständlich, konnten sich aber schon zu seinen Lebzeiten zumindest in der Fachwelt durchsetzen, Teilhards innovative Ideen durften überhaupt erst nach seinem Tod für eine breitere Öffentlichkeit publiziert werden. Aber für ein umfassendes heutiges Weltbild sind beide unverzichtbar. Dieses Buch soll eine Einladung sein, Teilhards Ideen im Lichte der gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte weiterzudenken und in die Lebensweise der modernen Menschen einfließen zu lassen.

1. Von Hildegards Ei zum verschwundenen Mittelpunkt

Die Geschichte der christlichen Theologie und auch der christlichen Mystik ist reich an Abhandlungen über das Verhältnis Gott und Mensch oder auch Gott und Welt. Die Erde und alles, was man an belebten und unbelebten Elementen auf ihr erfahren konnte, war nicht eigentlich Thema der Theologie, sondern Lebensraum, der den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies zugewiesen war. Die Verhältnisse schienen langfristig unveränderlich zu sein. Das Ertragen von mühsamer Arbeit, Leid, Unglück, Krankheiten und Tod war Strafe Gottes, die wir wegen unserer Sünden zu erleiden hatten. Das Ertragen von Leid und Schmerz „in diesem Jammertal“ konnte nur insofern wichtig sein, als man sich damit Schätze im Himmel erwerben konnte. Werke der Barmherzigkeit waren vom einzelnen Menschen gefordert, später auch als Kollektivauftrag von organisierten Gemeinschaften, wie etwa den Orden. Christliche Sozialeinrichtungen, wie Spitäler und Obdachlosenhäuser, wurden zu positiven Modellen für spätere Einrichtungen des Staates.

Dazwischen gab es aber immer wieder Pioniere, die religiöse Motivation mit systematischer wissenschaftlicher Forschung auf den verschiedensten Gebieten verbanden. In manchen Fällen ging es dabei um die Verbindung von systematischer Theologie mit „profaner“ Wissenschaft, in anderen Fällen um Persönlichkeiten, die mystische Erfahrungen mit Bemühungen um systematische Welterkenntnis vereinten.

Ein markantes und bis heute sehr bekanntes Beispiel dafür ist Hildegard von Bingen (1098–1179). Sie lebt im Rheinland des 12. Jahrhunderts als Nonne, wird Äbtissin, Klostergründerin, beschäftigt sich viel mit Natur, mit Heilkräutern – ihre Hildegard-Medizin ist bis heute für weite Kreise ein Begriff, ebenso wie ihre Ansichten zu Ernährungsfragen. Sie engagiert sich in Kirche und Gesellschaft. Sie ist Mystikerin, hat zahlreiche Visionen, durch die sie zur religiösen Autorität wird.

In Hildegards erster großer Kosmos-Vision (3. Schau im Buch Scivias) hat der Kosmos eine eiförmige Gestalt – das Ei ist in einer traditionellen Agrargesellschaft ein Bild für Entwicklung („Evolution“). Die vielfältigen Symbole im Bild deuten darauf hin, dass der Kosmos als Leib Gottes zu sehen ist; sie selbst deutet in einer Erläuterung die dort enthaltene Sonne als Christus, diverse andere Symbole deuten auf die Summe der physischen und moralischen Kräfte hin.

In ihrer Schau des Kosmos-Rades (1. Schau aus „Welt und Mensch“) wird dieses von einer menschlichen Gestalt gehalten, bei der nach ihrer eigenen Erklärung die Kräfte der Seele stärker sind als jene des Körpers. Sowohl Licht als auch Dunkel (dieses in geringerem Umfang) sind in dem Rad enthalten. Sie sagt: „aus dem Hauch jener Gestalt, in deren Brust sich das Rad zeigte, ging ein Licht mit … Strahlen aus, heller als der klarste Tag …“ In einer anderen Vision spricht eine gewaltige kosmische Gestalt: „… in aller Wirklichkeit ruhe ich als verborgene und feurige Kraft … allem hauche ich Leben ein … Denn ich bin das Leben.“

Wie Teilhard de Chardin 800 Jahre später moderne Naturwissenschaft und Mystik zusammenzuschauen vermag, sieht die mittelalterliche Naturforscherin und Mystikerin eine einheitliche Kraft in Mikro- und Makrokosmos, die sie „heilige Grünkraft“ (sancta viriditas) nennt. Unwillkürlich wird man hier an den umfassenden Energiebegriff bei Teilhard erinnert. Der Kosmos wird in ihren Visionen von göttlichem Feueratem durchwirkt; man könnte sagen, er erscheint als Leib Christi. In der Beschreibung ihrer Visionen fällt auf, dass nicht, wie sonst oft in der Mystik, die Verbindung der einzelnen Seele mit Gott das zentrale Thema ist, sondern der kosmische Gesamt-Zusammenhang.

Hildegard war trotz mehrfacher Schwierigkeiten kirchlicherseits sehr angesehen. Dennoch mussten mehr als 800 Jahre vergehen, bis sie im Jahre 2012 von Papst Benedikt XVI. zur Kirchenlehrerin ernannt wurde.

Große Theologen des Mittelalters beschäftigten sich mit dem Verhältnis von Glauben und natürlicher Erkenntniskraft des Menschen, so auch Thomas von Aquin (1225–1274), vor allem im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Aristoteles. Zu dieser Zeit wurde die Gefahr der Aufspaltung des geistigen Lebens sichtbar, die Trennung von „Wissen“ und „Glauben“ – gewissermaßen eine Vorläufer-Debatte zur heutigen Thematik der Spannung von Naturwissenschaft und Religion. Thomas beschäftigte sich mit dem Verhältnis der beiden Bereiche, ihrer Autonomie, aber auch der Notwendigkeit ihrer Verknüpfung. Er betont den Eigenwert der Materie, besonders auch des menschlichen Leibes; Letzteres als Antwort auf die Behauptung, dass Gottähnlichkeit als Ziel des Menschen nur die vom Leib getrennte Seele beträfe.

Schon eine Generation nach Thomas beginnt auch unter Theologen die Vorstellung von einer Schöpfung zu einem konkreten Zeitpunkt, der einige Jahrtausende zurückliegt, zu wanken: Meister Eckhart (1260–1328) definiert Schöpfung als „Verleihen von Sein nach dem Nichtsein“. Er spricht nicht nur von der fortdauernden Schöpfung, sondern sogar auch von der allzeit gegenwärtigen Menschwerdung Gottes und Vergöttlichung des Menschen. Eckhart wehrt sich gegen die verbreitete Vorstellung, Gott als ein im Himmel thronendes Wesen zu sehen; er greift stattdessen das alte Wort von der „Gottesgeburt“ als Ereignis unserer eigenen Lebensgeschichte auf, spricht davon, dass Gott im Stall oder am Feuer (d. h. im Alltag, bei der Arbeit) genauso zu finden sei wie in „Andachten und süßen Empfindungen“. Damit schlägt er wohl eine Brücke zu einer Spiritualität des Handelns. Eckhart als Dominikaner und prominenter Theologieprofessor wird wegen einiger seiner Thesen in einem Häresie-Verfahren vor ein Inquisitionsgericht gestellt; er unterwirft sich öffentlich dem kirchlichen Lehramt.

Eine seit Jahrhunderten immer wieder geführte theologische Diskussion betrifft die Frage, warum es zum Auftreten Christi, zur Menschwerdung Gottes kam. Ist all das nur die göttliche Reaktion auf die Sünden der Menschen, oder wäre Christus auch ohne dieses Verhalten der Menschen gekommen?

Im Altertum vertrat Augustinus noch die Ansicht, dass ohne Sünde des Menschen Christus nicht gekommen wäre. Etwas abgeschwächt argumentierte auch Thomas von Aquin in diese Richtung. Im Gegensatz dazu war der berühmte Theologe aus dem Franziskaner-Orden, Duns Scotus (1266–1308), ein prominenter Vertreter der Meinung, dass Christus auch Mensch geworden wäre, wenn Adam nicht gesündigt hätte.

Mit Nikolaus Cusanus (1401–1464) greift ein vielseitiger Denker diese Debatte auf. Er ist Konzilstheologe, Jurist, Historiker, Diplomat, Bischof von Brixen, Kardinal, aber auch Mathematiker mit Interesse für Astronomie und physikalische Messungen. Seine Interessen reichen von Kirchenpolitik bis zum interreligiösen Dialog, gleichzeitig aber auch zu naturwissenschaftlichen Spekulationen, wonach das Weltall unendlich sein müsse und daher keinen Mittelpunkt habe, weder die Erde noch die Sonne – ein sehr moderner Gedanke! Er argumentiert auch, dass im Weltall keinerlei Substanz vernichtet, sondern nur umgewandelt werde. Dazu führten ihn systematische theoretische Überlegungen, die wissenschaftlichen Geräte der Gegenwart standen ihm ja nicht zu Verfügung. Er kommt aber prompt in Schwierigkeiten mit der Kirche, Gegner werfen ihm Pantheismus vor.

Mit diesem breiten geistigen Hintergrund argumentiert nun Cusanus in Weiterführung der Linie von Duns Scotus, neben der unbestrittenen Behebung des Sündenfalls sei es die Hauptabsicht Gottes gewesen, mit der Fleischwerdung des Wortes das Universum zur Vollkommenheit zu führen. Cusanus leitet die Notwendigkeit der Menschwerdung Christi aus der liebevollen Güte Gottes ab, die nicht nur den Sünder oder den Menschen allgemein, sondern den ganzen Kosmos betrifft – eine ungewöhnliche These 600 Jahre vor Teilhard mit seiner Sicht auf den „Punkt Omega“ der Evolution!

So unterschiedlich auch Zeitalter, Lebensweg und Wirkungsgeschichte von Cusanus und Teilhard sind, so fällt doch auf, dass die Verbindung von theologischen und naturwissenschaftlichen Interessen bei beiden zu einem breiteren Verständnis der Inkarnation führt, zu einem Ernstnehmen der Materie, zu einem vertieften Gottesbegriff, aber auch zum Vorwurf des Pantheismus.

2. Teilhard de Chardin – der Visionär

Der entscheidende Fortschritt in Richtung Zusammenschau von moderner Evolutionstheorie und Kosmologie mit einem radikal neu gedachten Christentum kam jedoch von dem französischen Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955). Sein Lebenswerk war geprägt von weithin anerkannten naturwissenschaftlichen Forschungen, aber auch von intensiven spirituellen Erfahrungen, die ihn zu überraschenden theologischen Überlegungen und einem kohärenten Weltbild führten.

2.1. Das Leben des Visionärs

Pierre Marie-Joseph Teilhard de Chardin wurde am 1. Mai 1881 in Orcines, Zentralfrankreich, geboren. Die aristokratische Familie, insbesondere die Mutter, ist streng katholisch. Mehrere Verwandte sind Ordensangehörige, die Mutter pflegt intensive Herz-Jesu-Verehrung und hält auch ihre Familie dazu an.

Mit 11 Jahren wird Pierre in das Jesuitenkolleg von Mongré aufgenommen. Er erweist sich als ausgezeichneter Schüler, bekommt zahlreiche Preise, lernt Latein, Griechisch und Deutsch, fügt sich in die paramilitärische Disziplin der Schule. Parallel dazu interessiert er sich seit frühester Kindheit für die Natur, sammelt Steine und ist offensichtlich sehr an Naturwissenschaften interessiert.

Mit 18 Jahren tritt Teilhard in den Jesuitenorden ein, wo er zwei Jahre später die ersten Gelübde ablegt. Es folgen Studien in Jersey, woran sich 1905–1908 ein Aufenthalt in einem Jesuitenkolleg in Kairo anschließt, wo er Physik und Chemie unterrichtet. Von dort macht er mit Begeisterung Ausflüge in die Wüste, studiert geologische Formationen, sammelt Fossilien (eine neue gefundene Art wird ihm zu Ehren „Teilhardi“ genannt), schreibt erste wissenschaftliche Artikel.

1908–1912 lebt Teilhard in Hastings, England, um Theologie zu studieren, daneben interessiert er sich auch dort für Geologie. 1911 wird er zum Priester geweiht und kehrt nach Frankreich zurück, wo er sich in Paris der Geologie und der neu entstandenen Wissenschaft der Paläontologie widmet.

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, lehnt er es ab, Feldgeistlicher zu werden, sondern wird Sanitäter, den es an die Front drängt. Er will sich dem wirklichen Leben stellen, kein Privileg als Priester haben. Er zeichnet sich bei der Bergung von Verwundeten durch besondere Tapferkeit aus. Der Korrespondenz mit seiner Cousine Marguerite aus dieser Zeit ist zu entnehmen, dass die Kriegserlebnisse seine Persönlichkeit und sein Weltbild insbesondere hinsichtlich von Themen wie Schicksal der Menschheit, Evolution, Mystik, aber auch der Problematik des Nationalismus entscheidend prägen.

Mit Ende des Ersten Weltkriegs folgen auch für Teilhard eine Serie wichtiger Schritte seiner Biografie: 1918 Ablegung der feierlichen Ordensgelübde, 1921 Publikation seiner Dissertation über Fossilien im Pariser Becken, 1922 Verleihung des Doktorats an der Sorbonne. Unmittelbar danach folgt seine Berufung zum Professeur-Adjoint für Geologie – eine bemerkenswerte Blitzkarriere. In dem Maße, wie seine wissenschaftliche Reputation steigt, führt jedoch seine positive Einstellung zur Frage der Evolution zu Problemen mit kirchlichen Autoritäten. (Man hatte ja gehofft, in Teilhard einen hochqualifizierten Vorkämpfer gegen diese Theorie zu finden!) 1923 nimmt Teilhard eine Einladung für naturwissenschaftliche Arbeiten in China an, ein Schritt, zu dem ihn auch seine Ordensoberen stark drängen, offensichtlich um ihn aus den problematischer werdenden intellektuellen bzw. theologischen Spannungen in Paris wegzubringen.

Was als ein- bis zweijährige Reise geplant war, wird schließlich ein Aufenthalt in China von 23 Jahren (1923–946), unterbrochen durch mehrere Aufenthalte in Frankreich, Besuche in den USA sowie Forschungsreisen nach Somalia, Indien, Java und Burma.

Die Tätigkeit in China ist geprägt durch zahlreiche Reisen und Ausgrabungsaktionen im Land selbst, seine Tätigkeit beim Institut für Paläontologie, dessen Leitung Teilhard nach einiger Zeit übernimmt, wissenschaftliche Erfolge, die ihn auch international in Fachkreisen bekannt machen, so zum Beispiel seine Mitwirkung bei der Entdeckung und Analyse des „Peking-Menschen“ (sinanthropus). In diesem Zusammenhang pflegt Teilhard auch den Kontakt zu großen Stiftungen und Sponsoren wissenschaftlicher Projekte, kann dadurch auch bei Großprojekten mitwirken, wie der Citroen-Expedition entlang der Seidenstraße, der Yale-Cambridge-Expedition nach Nord- und Zentralindien oder der Harvard-Carnegie-Expedition nach Burma.

Sein Aufenthalt in China fällt allerdings in eine politisch sehr schwierige Zeit: Sun Yat Sen stirbt 1925, große Teile Chinas werden von verschiedensten Militärgouverneuren (Warlords) regiert, 1933 beginnt der chinesisch-japanische Krieg, Auseinandersetzungen zwischen Tschiangkaischek und Kommunisten, schließlich Beginn des Zweiten Weltkriegs, der Teilhard an der Heimkehr hindert. Teilhard bewegt sich im Kreis der in China lebenden Europäer und Amerikaner, hat zu Chinesen aber nur im Rahmen seiner wissenschaftlichen Arbeiten Kontakt. Er gilt als sehr angenehmer, kultivierter Gesellschafter, dessen wissenschaftlicher Ruf und persönlicher Charme sehr anziehend wirken, auch auf Frauen.

Innerlich beschäftigen Teilhard die Zusammenhänge seiner naturwissenschaftlichen Entdeckungen mit seinem religiös geprägten Weltbild. Er korrespondiert mit vielen Partnern und Partnerinnen, schickt ihnen Entwürfe seiner noch unpublizierten Aufsätze. Schon in diesen Jahren entstehen die ersten Versionen seiner erst nach seinem Tod allgemein bekannt gewordenen Werke wie „Der Mensch im Kosmos“ (Le Phénomène Humain). Bei seinen Reisen nach Frankreich wiederholen sich immer wieder die gleichen Muster: herzliche Aufnahme bei Freunden, nicht zuletzt aus dem Jesuiten-Orden, einige öffentliche Vorträge, die großes öffentliches Interesse finden, aber kirchlich stark kritisiert werden, mehr oder weniger freiwillige rasche Rückkehr nach China.

Als Teilhard 1946 nach Paris zurückkehrt, hat sich der Kampf um seine Ideen sehr zugespitzt. Einerseits findet sein Brückenschlag zwischen Naturwissenschaft und Theologie in der Öffentlichkeit sehr viel Interesse, anderseits werden seine Ideen von traditionalistischer Seite als Ausdruck der „nouvelle théologie“ immer heftiger kritisiert. Sogar ein persönlicher Besuch Teilhards in Rom bringt keine befriedigende Lösung für ihn, auch die überarbeitete Fassung seines Hauptwerkes darf nach wie vor nicht publiziert werden.

Immer mehr verlegt er nun seinen Lebensmittelpunkt in die USA, pflegt dort Kontakt zu wissenschaftlichen Stiftungen. So kann er, nicht zuletzt dank seiner Zusammenarbeit mit der New Yorker Wenner-Grenn Foundation, noch ausgedehnte wissenschaftliche Reisen nach Ostafrika unternehmen. Formeller Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Karriere ist 1950 die Wahl in die französische Akademie der Wissenschaften.

Vor seiner letzten Afrikareise (Rhodesien, Südafrika) vermacht er seiner Sekretärin Jeanne Mortier testamentarisch die Verfügungsrechte über seine Schriften, womit sein umfangreicher Nachlass nach seinem Tod dem Zugriff kirchlicher Behörden entzogen und damit für die Nachwelt gerettet ist. Teilhard stirbt am Ostersonntag, dem 10. April 1955, in New York.

Trotz des großen Erfolgs der ersten offiziellen Ausgabe von „Der Mensch im Kosmos“ (Le Phénomène humaine), die bald nach seinem Tode erscheint, dauert es mehr als 20 Jahre (bis 1976), bis alle 13 Bände der französischen Originalausgabe publiziert werden. Die späteren Bände sind dabei nach Themen gegliederte Sammlungen von Schriften aus verschiedenen Epochen. Deutsche Übersetzungen entstehen ab 1959, die letzte noch 1990, wobei die Zuordnung zu den einzelnen Bänden nicht immer genau der französischen Ausgabe folgt.

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