Rabenflüstern

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Rabenflüstern
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Gottesauge I

Rabenflüstern

Philipp Schmidt

© 2013 Begedia Verlag

© 2013 Philipp Schmidt

Cover und Illustrationen – Birgit Gabrysiak

Korrektur – André Piotrowski

Satz und ebook-Bearbeitung – Harald Giersche

ISBN – 978-3-95777-003-5 (epub)

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Prolog

Die Zeiten der großen Umwandlung und der nachfolgenden chaotischen Zustände waren vorüber.

In einem apokalyptischen Sturm war die Magie auf die Erde zurückgekehrt, zusammen mit den alten Göttern. Stein, Fluss und Heide waren wieder zum Leben erwacht.

Monatelanger Regen hatte die Wirklichkeit von so vielen Jahrhunderten Stück um Stück abgetragen und dorthin geschwemmt, wo Träume und Legenden wohnen.

Manche der Weisen, die jenen kosmischen Wandel miterlebt hatten, sprachen später von der Rückkehr der wahren Ordnung, doch für den Großteil der Menschheit war es ein Albtraum gewesen.

Einige behaupteten, alles hätte mit einem Flüstern in den Wäldern begonnen, als würden die Bäume sich Verschwörungsformeln zuraunen. Andere sagten, es seien zuerst die Meere gewesen, deren Wasser sich dunkler färbten. Eindeutig wurden die Vorzeichen erst, als ein Wandel im Geist der Tiere einsetzte. In allen Bereichen der Welt hatte der Mensch die Natur zurückgedrängt, nun zerrte sie mit fletschenden Fängen an ihren Leinen, Ketten und Käfigen. Haie, Bären und Hunde erinnerten sich plötzlich wieder an den Zweck ihrer Zähne, Tatzen und Fänge.

Trotz des Dunstes, der lange alles umschlungen hielt, schienen die Sterne heller zu leuchten, wenn die Wolkendecken für kurze Zeit aufrissen.

Mit dem Ausfall der Elektrizität – ein Wort, das in Vergessenheit geraten sollte – kam die Panik. Die Windmühlen drehten sich, doch war daraus kein Strom mehr zu gewinnen. Einer Waagschale gleich, sanken Technik und Wissenschaft zugunsten dessen, was zuvor seinen Platz allein in Sagen und Märchen hatte. Aus Angst und Verzweiflung wurde zu den Waffen gegriffen, doch es gab keinen erkennbaren äußeren Feind, der hätte bekämpft werden können. Der Feind befand sich im Inneren. Als schließlich die Verwandlungen einsetzten, wurde er, zumindest in der ersten Generation, sichtbar.

Personen mit bösen Neigungen und schlechtem Charakter häuteten sich wie Schlangen. Sie wurden zu dem, was sie unter dem Schein schon immer waren, und bekamen die Namen Orks, Oger, Alben und viele andere Bezeichnungen, die man kannte für Wesenheiten, die die Dunkelheit schon immer dem Licht vorzogen.

Ähnliches geschah mit jenen, die edlen Gemüts waren, und allen Kreaturen, welche sich irgendwo zwischen den Extremen bewegten. Letztere blieben jedoch zumeist Geschöpfe inmitten von Gut und Böse, eben Menschen.

Die bekannten Gesetze der Wissenschaften lösten sich auf oder veränderten sich, synthetische Materialien wie Kunststoff konnten mit einem Mal nicht mehr hergestellt werden. Sie verrotteten und verschwanden nach und nach völlig vom Antlitz der Welt. Allein Bronze und Stahl feierten eine Renaissance.

Fast ein ganzes Jahrzehnt fand ein entsetzlicher Schlagabtausch zwischen Elfen, Feen, Zwergen und all den anderen frisch geborenen Arten statt. Die Anzahl der Lebewesen auf der Erde reduzierte sich täglich in Tausenden von Scharmützeln, die, nachdem die Schusswaffen ihren Dienst verweigert hatten, zuerst mit Steinen und Ruten, zuletzt mit Speeren, Äxten und Schwertern ausgetragen wurden.

Am Ende hatten sich die meisten Elfen in die Wälder, die Mehrheit der Zwerge in die Berge zurückgezogen, während sich zwischen den dichter gewordenen Wäldern kleine Herrschaftsgebiete der Menschen bildeten. Kaum eines hatte jedoch die Möglichkeit zu prosperieren, da, sobald Mühe und Arbeit auf Viehzucht oder Feldbebauung aufgewandt wurden, kurze Zeit später ein Nachbar Raub, Mord und Feuer über die Äcker und Herden brachte.

Ein, vielleicht auch zwei Jahrhunderte später wäre es immer noch so gut wie unmöglich gewesen, etwas wie eine Karte von dem Kontinent anzufertigen, der einstmals Europa hieß. Nicht nur aufgrund von Vulkanausbrüchen, Überflutungen und Erdbeben, welche ganze Landstriche von einem Tag auf den anderen umwälzten; die Grenzen waren weiterhin heftig umkämpft oder wurden überhaupt erst gezogen.

Diese Geschichte nimmt ihren Anfang noch einige Zeit später, als sich in Eureinja, wie die Elfen unter sich sagen, oder Eiderit, in der Zunge der Orks und Trolle, bereits eine mehr oder minder einheitliche Sprache herausgebildet hatte. Es war eine Mischform älterer Redeweisen, die regional unterschiedlich gesprochen, geraunt oder gegrunzt wurde; zumindest für die basale Verständigung in Verhandlungen erwies sie sich jedoch als ausreichend. Nicht nur die Sprache war ein Abglanz früherer Zeitalter, auch Sitten und Gebräuche ähnelten denen längst vergangener Epochen. Ob man sie bewusst versuchte wiederherzustellen, oder ob höher entwickelte Lebewesen auf gewisse Umstände in immer verwandter Weise reagieren, muss an dieser Stelle offen bleiben.

Die Menschen hatten die Nachfahren jener, die sich beim Einsetzen der großen Umwälzung verwandelt hatten, inzwischen noch weiter zurückgedrängt und ihre Reiche mit Mauern und Wachtürmen, Stahl und Blut abgesteckt.

Genug der Vorrede. Folgen wir nun dem Flug eines Wanderfalken, der auf der Suche nach Beute hoch über den Tannenwipfeln des Schwarzwaldes kreist. Seine Schwingen tragen ihn hinweg über Bachläufe und Felsmassive durch den Dunst eines frischen Morgens.

Hinter ihm, im Westen, beschreiben die Fluten eines mächtigen Flusses eine Biegung, in die sich die Ländereien schmiegen, deren Oberhäupter sich eitel Herren des Rheins nennen. Weit ab von ihnen und ihren steinernen Städten, die sich im ständigen Kriegszustand mit ihren Nachbarn befinden, hält der Falke Ausschau nach Beute. Er genießt die Jagd, öffnet und schließt spielerisch seine Klauen. Weit entfernt liegen die umkämpften Grenzen; geschützt durch Fels und Wald erstrecken sich unter ihm weite Felder, die von den friedlichen Bewohnern eines in Vergessenheit geratenen Dorfes bewirtschaftetet werden.

Wie ein Pfeil schießt er herab, um einer Maus, bevor sie weiß, wie ihr geschieht, den Tod zu bringen.

Heimische Feuer

An einem Spätsommertag, im Schatten eines Kirschbaumes, saß ein Mann. Es war ein alter Mann, sehr alt. Er dachte darüber nach, wie es sich anfühlen würde, wenn das Ende käme und dies sein letzter Sommer wäre.

Die Erde um ihn war von faulenden Früchten übersät und die Luft angefüllt vom Surren trunkener Wespen. Dem Alten war es dennoch ein angenehmer Platz. Die Insekten ließen ihn in Frieden. Sonnenstrahlen tänzelten, von den Blättern gebrochen, über die Falten und Furchen seines Gesichts. Er hatte die Augen geschlossen und lauschte dem Lachen im Spiel zweier Kinder. Der alte Mann mochte Kinder, diese Tatsache allein hätte ihn vermutlich schon zum Lehrer des kleinen Dorfes gemacht, in dem er bereits die dritte Generation hatte aufwachsen sehen. Die Geschichten, die er jeden Vormittag erzählte, waren aus so grauer Vorzeit, dass niemand glauben konnte, er habe sie tatsächlich erlebt. Dennoch bildete sich nicht selten ein Kreis um ihn, der eine gewisse Zahl auch der erwachsenen Gemeinschaft mit einschloss. Lag viel Arbeit an, war es zur Gewohnheit einiger Familien geworden, wenigstens einen der Ihren zu ihm zu schicken, der später beim Nachtmahl eine Zusammenfassung vorzutragen hatte.

Als der Mann die Augen öffnete, fiel sein Blick auf einen Vogel, dessen Klauen sich erbarmungslos um ein winziges Geschöpf schlossen. Schon erhob der Jäger sich wieder in die Lüfte, einen gebrechlichen Alten zurücklassend. Bilder der Erinnerung fanden ihren Weg in sein Bewusstsein und riefen den Geschmack von Nostalgie, aber auch von Reue und Schuld hervor.

Allmählich gruppierte sich eine kleine Schar Heranwachsender im Halbkreis um ihn. Fried, der vorwitzigste Junge im Dorf, wurde bereits unruhig, was sich darin äußerte, dass er, nicht wissend was er sonst mit den Händen anfangen sollte, eine Rangelei mit zweien seiner Spielgefährten begann.

Die rot gelockte Kaila nahm wie üblich direkt links neben dem Greis Platz. Sie hatte die Fähigkeit, jeden Anwesenden mit ihrem sommersprossigen Lachen anzustecken. Bei besonders spannenden Stellen seiner Geschichten pflegte sie die langen, weißen Haare des Erzählers immer wieder durch ihre Hände gleiten zu lassen, bis kleine Locken entstanden.

Alles war wie jeden Morgen, alles war gut. Der alte Mann schmunzelte.

»Ihr seid gekommen, eine Geschichte zu hören?«, fragte er in alter Tradition.

»Jaaa«, antwortete der Kanon.

»Nun gut«, sagte er und räusperte sich, »ich erzähle euch die Geschichte von Lars und wie er den Bären von Hornstein bezwang …«

»Nein!«, unterbrach ihn Fried, der mittlerweile von seinen Sitznachbarn abgelassen hatte.

»Wir wollen viel lieber von der Kriegskrähe und der großen Schlacht gegen die Gorka-Orks hören. Du hast es versprochen, schon letzten Herbst.«

Einige nickten beipflichtend.

Für einen kurzen Augenblick schien sich seine Miene zu verfinstern, doch sie hellte sich sofort wieder auf, als er in den Kreis freundlich neugieriger Augenpaare blickte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob einige von euch nicht etwas zu jung dafür sind. Außerdem ist die Gerissenheit von Lars wirklich nicht zu unterschätzen, mit der er schließlich Groll die Pranke überlistete«, versuchte er, sich herauszuwinden.

»Du hast es aber versprochen, Ohm«, beharrte der Junge trotzig. Da die meisten aufgrund der harten Lebensbedingungen nicht das höhere Alter erreichten und daher kaum eines der Kinder die Möglichkeit gehabt hatte, seine Großeltern kennenzulernen, hatte es sich eingebürgert, ihm jene Rolle zuzuschreiben, doch um ihn nicht zu beleidigen, nannten ihn alle nur den Ohm.

 

Ohne Zweifel war der Großteil seiner Zuhörerschaft nicht reif für jene Geschichte, andererseits konnte er sie nicht ewig hinhalten, und ein Jahr mehr oder weniger machte für eine Seele schließlich kaum einen Unterschied.

Jeder im Dorf kannte das Grab des Helden, von dessen Taten er berichten sollte. Jedes Jahr zum Totenfest wurden Kränze und Blumen unter das schlichte Holzkreuz gelegt und aufgelesene Krähenfedern in die Erde darum gesteckt. Sie hatten ein Recht darauf zu erfahren, wie der Schutzpatron ihrer Heimat gelebt hatte. Ein Recht auch, wie ihm schien, die ganze Geschichte am Stück zu hören und nicht aus dem Zusammenhang gerissene und dadurch verzerrte Ausschnitte.

Trotz dieser Überlegung zögerte er noch einen Moment, bevor er nachgab.

»Also gut. Aber ich möchte keine Beschwerden von euren Eltern hören, wenn euch hinterher Albträume plagen.

Und davon könnt ihr ausgehen«, fügte er unheilvoll hinzu.

Schmale Hände gruben sich vorsorglich in sein Haar. Frieds Augen leuchteten in gespannter Erwartung.

***

In den überfluteten Auen am östlichen Flussufer des Rheins kämpften sich zwei in Felle und Leder gekleidete Männer einen Weg durch das dichte Unterholz. Ihre Pferde führten sie an den Zügeln. Es wurde bereits Abend und der Führer, den sie in der letzten Siedlung angeheuert hatten, war unauffällig verschwunden, nicht ohne seine volle Bezahlung eingestrichen zu haben.

Die Stiefel der beiden waren durchnässt, und erbarmungslose Kälte fraß sich nach oben, bis sie ihre Körper gänzlich durchdrungen hatte.

Der Frühling ließ auf sich warten in diesem Jahr. Noch immer waren Stellen, die vor Lichteinstrahlung verborgen waren, von Raureif bedeckt. Schwäne, die darauf eingestellt waren, das bittere Wetter besser zu ertragen, boten die einzige Abwechslung für die zwei Krieger.

Der eine sah grimmig aus seinen graublauen Augen auf die eleganten Tiere und spitzte unnatürlich große Ohren, während der andere gähnend einen Schopf schlohweißen Haares in den Nacken warf.

***

»Die Kriegskrähe!«, schrie eines der Kinder, die sich um den Alten versammelt hatten.

Er bedachte das Mädchen, das vielleicht gerade mal sieben Sommer zählte, mit einem strengen Blick, ließ es aber dabei bewenden – obwohl er wenig mehr verabscheute, als unterbrochen zu werden – und fuhr in leicht gereiztem Ton fort.

»Es war tatsächlich die Kriegskrähe, auch wenn man den jungen Mann damals noch nicht so, sondern schlicht Kraeh nannte. Der Name seines Begleiters dürfte ebenfalls ein Begriff sein: Sedain, Tausendtod. Schon damals Freund und Kampfgefährte der Kriegskrähe.«

***

»Gchchcht« machte ein Schwan und reckte dabei drohend seinen Hals, als Sedain das Schweigen brach. »Wir hätten diesen Bastard nicht bezahlen sollen. Das habe ich doch gleich gesagt. Diese Sumpfbewohner sind alles Lügner und Verbrecher.«

»So wie wir«, gab Kraeh zu bedenken. Das Fürstentum Brisak trug seit Jahren eine Fehde mit seinem Nachbarn Rhodum aus. Davon profitierten nicht nur die Orks, die auf der anderen Seite des Flusses erstarkten, sondern auch die beiden Freunde, die gerade eine Waffenladung an den eigentlichen Feind ihres Herrn, den selbsternannten König von Rhodum, verkauft hatten.

»Wir müssen das Gold verstecken«, sagte Sedain und deutete auf den Sack, der klimpernd am Sattel seines Pferds baumelte.

»Versuchen wir erst einmal, einen Weg aus diesem Schlamassel zu finden.«

»Solange der Fluss links von uns ist, können wir uns gar nicht verlaufen«, gab Sedain zurück.

Kraeh balancierte über einen umgekippten Baum. Das morsche Holz gab ächzende Laute von sich als er antwortete: »Du weißt genau, dass ich nicht diesen Spaziergang meinte. Was, glaubst du, passiert wohl, wenn ein Bote Brisak vor uns erreicht?«

Sie versuchten zwar, Kapital aus dem Krieg zu schlagen, aber es wäre nicht nur gegen ihre Ehre gewesen – deren Auslegung sie nach eigenem Ermessen der jeweiligen Situation anpassten –, den Feind mit tauglichen Waffen zu versorgen; es hätte vor allem als Dummheit gelten müssen, sich in einem späteren Kampf den eigenen Waffen gegenüberzusehen. Daher hatten sie Schwerter, Piken und anderes Kriegsgerät aus minderwertigem Stahl an die Grenze gebracht. Die wenigen tauglichen Waffen waren obenauf gelegen, doch der Schwindel war aufgeflogen und so hatte das Geschäft in einem Gemetzel geendet, das keinen der kleinen Gesandtschaft des Gegners am Leben gelassen hatte.

Nach einer Weile der Stille, nur unterbrochen von den Geräuschen der Tiere und ihren eigenen Schritten auf morastigem Grund, setzte Kraeh noch einmal an.

»Weshalb hast du sofort mit dem Töten angefangen? Wir hätten versuchen sollen zu verhandeln.«

»Verhandeln?!«, Sedain, der Größere von beiden, spuckte aus. »Dieser Wurm hat mich einen Betrüger genannt. Du bist einfach zu weich, Kraeh.«

Kraeh blieb kurz stehen, fuhr in alter Gewohnheit mit der freien Hand über den Knauf seines Schwertes, das über seine rechte Schulter ragte, und schmunzelte. Die Klinge auf seinem Rücken hatte einen Tag zuvor vier Männern die Seele aus dem Leib gerissen, etliche Lieder füllten überall im Land die Hallen mit seine Heldentaten, aber Sedain ließ keine Gelegenheit aus, sich über die moralischen Bedenken seines Freundes, die er als Schwäche auslegte, lustig zu machen.

Sedain dachte laut nach. »Mal ehrlich, unser lieber Fürst Bran weiß ganz genau, was er an dir hat. Wenn es nicht anders geht, erzählen wir ihm einfach, dass die Waffen sowieso Schrott waren.«

Kraeh zog an den Zügeln, um sein Tier aus einem Sumpfloch zu ziehen. Mit einem Ruck kamen die Vorderläufe frei und der junge Krieger fiel rückwärts in den Morast. Sein Freund lachte laut auf.

»Manchmal denke ich, zwischen deinen langen Ohren befindet sich nichts als Dreck! Willst du Bran vielleicht erklären, warum wir ihm erst einmal diese bescheuerte Lügengeschichte von Heimaturlaub und so aufgetischt haben?«

Umständlich rieb er den Schmutz von seinem Fellumhang. »Manchmal glaube ich, ihr Halbelfenstricher seid genauso dämlich wie Orks.«

Sedain lehnte an seinem Schimmel. »Du bist nur ärgerlich, weil du im Matsch gelandet bist.«

»Und stinken tut ihr auch wie sie«, grollte Kraeh.

Das Sterben des Tages kündigte sich in den Auen stets mit einem Knistern an. Abergläubische Männer behaupteten, es läge an den Kobolden und anderen Wesen aus dem Feenreich, die sich in ihren Hügeln und Astlöchern anschickten, die Welt der Menschen zu betreten. Sedain und Kraeh neigten dazu, nur an das zu glauben, was sie sehen und anfassen konnten, doch es gab unleugbare Fakten, die die Existenz von Zwischenwelten nahelegten. Wie die Irrlichter, die jetzt in einem für sterbliche Wesen fast unhörbaren Ton summend ihren Weg erleuchteten.

Was ihre eigene Sterblichkeit betraf, waren sie sich beide in Ermangelung eines Beweises nicht sicher. Die Andersartigkeit Kraehs spiegelte sich nicht nur in seinen weißen Haaren, sondern auch in der schnellen Genesung von Wunden wider. Außerdem war niemandem bekannt, wer ihn als Säugling damals vor so vielen Jahren in einen Binsenkorb gelegt hatte. Wenige Tagesreisen von ihrem derzeitigen Standort entfernt war er von einer Fischerfamilie aufgenommen und großgezogen worden. Dort hatte er eine harte und einsame Kindheit erlebt. Als die anderen Kinder in der Siedlung gemerkt hatten, dass es besser war, ihn nicht mit seinen Haaren und seiner Fremdheit ausstrahlenden Art aufzuziehen, waren sie dazu übergegangen, ihn zu ignorieren. Die etwa zwei Sommer ältere Tochter seines Ziehvaters war lange Zeit die einzige Spielgefährtin für den Heranwachsenden gewesen. Schnell hatte Kraeh gelernt, dem guten, aber einfältigen Mann, der sich seiner angenommen hatte, unter die Arme zu greifen. Er holte die schweren Netze ein und nahm Fische aus, aber dem Mann wurde bald klar, dass dem Jungen eine andere Bestimmung als die eines Fischers in die Wiege gelegt worden war. Nach dem Tagewerk übte er sich im Kampf. Mit einem Stock bewaffnet, besiegte er Legionen aus Gestrüpp bestehender Feinde und bewies darin wesentlich mehr Geschick und Leidenschaft als in den handwerklichen Tätigkeiten. Als der erste Saum von Barthaaren sich in seinem blassen Gesicht zeigte, nahm sich der Dorfvorstand, der einzige Mann des kleinen Ortes, der ein Schwert besaß, seiner an. Ein Jahr darauf waren sie unter dem Banner Brisaks zum ersten Mal in die Schlacht gegen die Orks gezogen, die damals in Kriegsbanden über den Rhein kamen. Inmitten der Grausamkeiten der Schlachtfelder wuchs er, begleitet von den Schreien der Sterbenden, zum Mann heran. Als der einzige Krieger seines Dorfes fiel, nahm er dessen Platz ein. Stück um Stück arbeitete er sich fortan in der Hierarchie der brisakschen Armee nach oben. Es war nicht so, als ob ihm das Töten Spaß bereitete, vielmehr stellte sich heraus, dass es schlichtweg das war, was er am besten konnte. Mittlerweile hatte seine Schwester selbst zwei erwachsene Kinder, und der Vater war nicht weit vom Alterstod entfernt. Da Kraeh, den zweithöchsten Rang der Armee bekleidend, ein stattliches Einkommen zustand, hatte das abgelegene Fischerdorf es zu einem relativen Wohlstand gebracht. Nicht bloß Dankbarkeit verband Kraeh mit den Menschen, die ihn aus den Fluten des Flusses gerettet und bei sich aufgenommen hatten, sondern auch Liebe, und wann immer es sich einrichten ließ, besuchte er sie, die Satteltaschen voller Geschenke.

Sedains einzige Leidenschaften hingegen waren der scharfe Stahl an seiner Seite, die zwei Armbrüste, deren filigran verzierte Wurfarme unter seiner Fellweste hervorlugten, und die Freundschaft, die sein Schicksal mit dem Kraehs verflocht. Nach den großen Orkkriegen war immer mehr das angrenzende Rhodum, mit dessen Soldaten man zuvor gemeinsam im Schildwall gestanden hatte, zum Rivalen geworden. Sedain hatte zu jener Zeit als Söldner unter der Standarte des Feindes gedient.

Er entstammte einem Volk mystischer Krieger, die an der Quelle des Rheins herrschten. Man nannte sie Gaesen. Sie waren leicht an den Runentätowierungen zu erkennen, die die größten Teile ihrer Körper schmückten. Niemand wusste, weshalb Sedain seinen Stamm verlassen hatte, aber das bizarre Muster, das sich verästelnd von der rechten Schläfe an seinen Hals hinunterzog, ließ keinen Zweifel an seiner Herkunft.

Nach einem Schlagabtausch beider Mächte war es Kraeh gewesen, der ihn auf dem Feld, auf dem die Schlacht ausgetragen worden war, halb verblutet gefunden hatte. Er hatte seine Wunden versorgt und später behauptet, ihn abgeworben zu haben. Zuerst war es seitens Kraeh Berechnung gewesen, den todbringenden Halbelfen auf seine Seite zu ziehen, nachdem er ihn im Kampf mehrere seiner Männer hatte niedermachen sehen. Im Laufe der Zeit aber hatte sich eine Verbundenheit entwickelt, wie er sie einzig zu seiner Stiefschwester in den Tagen seiner Kindheit empfunden hatte.

Auf einer moosbewachsenen Lichtung machte Kraeh halt. Der Mondschein tauchte den Platz in milchiges Grau.

»Wir bleiben hier bis zum Morgengrauen.«

Die beiden Freunde luden die Pferde ab und richteten sich eine behelfsmäßige Schlafstätte auf dem feuchten Untergrund. Eine Weile lauschten sie noch dem Heulen eines Wolfsrudels. Als es sich entfernt hatte, ließen sie sich vom Schlaf übermannen.

***

Am Morgen brachte ein halber Tagesmarsch Kraeh und Sedain aus dem Sumpfland auf eine weite Ebene. Sie bestiegen ihre Pferde. Im Trab hielten sie auf die in der Ferne bereits zu erkennende Feste Brisaks zu.

Die Spätwintersonne lag matt auf den strahlenförmig angelegten Wehrgängen, als die Hufe der Tiere hart auf Pflasterstein schlugen. Sie hatten das Weideland verlassen und befanden sich nun auf der großen Straße, die nach Südosten folgend das Feindesland Rhodum, die Auen umgehend, mit dem Hauptsitz ihres Herrn verband.

Eine Gewitterfront drängte sich von den jenseitigen Ufern des Rheins in ihr Sichtfeld.

»Es könnte heikel werden, wenn Bran von unsrem kleinen Geschäft erfahren hat«, sagte Kraeh düster.

»Mir schlottern die Knie«, antwortete Sedain ironisch, kniff aber die Augen zusammen, während er an dem höchsten Turm der Festung hochsah, hinter dessen Mauern Fürst Brans Gemächer lagen.

Eigentlich hätten Sträucher und Wiesen allmählich wieder an Farbe gewinnen müssen, doch von vereinzelten Schneeglöckchen abgesehen, lag das Land noch kahl und trostlos im Winterschlaf. Ostara, die Festlichkeit zur Tag- und Nachtgleiche stand in weniger als einem Mond an. Es würde traurig ausfallen, dachte Kraeh, wenn der Frost nicht bald seinen erbarmungslosen Griff lockerte. Zwar gab Kraeh wenig auf die Anbetung von Göttern, dennoch begrüßte er die freie Wahl der Bräuche und Kulte, die Bran seinem Volk zubilligte. Über etliche Generationen hinweg war eine Mischform aus zahlreichen Vielgott-Religionen entstanden. Germanische Gottheiten wurden gleichberechtigt neben keltischen, schamanistischen und anderen verehrt. Auf Brans Standarte, die über der Stadt im Wind flatterte, war zwar der Hammer Donars abgebildet, doch der Grund dafür lag schlicht darin, dass die meisten seiner Krieger sich eben diesem Gott verschrieben hatten.

 

Die Feindschaft mit dem benachbarten Reich war wohl nicht zuletzt auf den religiösen Konflikt zurückzuführen. Theodosus, der Herr von Rhodum, hatte eine Verschmelzung der, wie man sagte, ehemals die Welt beherrschenden, Eingott-Glaubensvorstellungen zur Staatsreligion bestimmt. Sein Gott hatte keinen Namen. Er wurde als Allvater, König der Könige oder einfach nur als Der Eine angerufen. In alter Tradition des Eingott-Glaubens verdammte Theodosus’ Priesterschaft alle, die andere Gebete sprachen.

Kraeh ließ seinen Schimmel steigen; erst jetzt bemerkte er die beiden anderen Banner links und rechts neben Donars Hammer: die Lilie von Mont und etwas erhöht den roten Bullen des Königs. Maet, der Fürst vom nördlich gelegenen Mont, war regelmäßig Gast in Brisak; nichts Besonderes für Kraeh, auch wenn er den verschlagenen Politiker verachtete – eine Antipathie, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Anwesenheit des alten Königs allerdings konnte nur eines bedeuten: Krieg.

Die Armee des Königs war so schwach und ausrangiert wie dieser selbst. Kraeh vermutete, Bran sei es an einer symbolischen Zustimmung gelegen, um eine groß angelegte Offensive gegen Rhodum zu rechtfertigen.

Im Galopp preschten die beiden Freunde auf die Feste zu. Eine Fanfare kündigte ihr Kommen an. Die schweren Flügel des Südtors öffneten sich gerade so weit, dass die Pferde ihr Tempo nicht verlangsamen mussten. Erst nachdem sie den dritten Verteidigungsring durchquert hatten, zügelten sie die Tiere. Zwischen dem dritten und fünften war die eigentliche Stadt angelegt. Frauen und Kinder öffneten Läden und liefen auf die Gassen, die Neuankömmlinge zu begrüßen. Trotz ihrer verwaschenen und abgetragenen Kleider und den Schlammkrusten an den Flanken ihrer Tiere, nickten sie dem einen oder anderen bekannten Gesicht in der vollen Selbstsicherheit und Arroganz ihres Ranges heiter zu. Die Einwohner Brisaks liebten Kraeh, eine Tatsache, die er vor allem der Unbeliebtheit des Generals der Armee und zugleich strengen Stadthalters Berbast zu verdanken hatte. Doch es ziemte sich nicht, öffentlich Anteilnahme an den Sorgen des einfachen Volkes zu zeigen, daher bekundete er sein Wohlwollen nur nachts in den Schenken, wenn ausgeschlossen war, dass einer der hohen Herren zugegen war.

Vor dem Tor des sechsten Ringes banden sie ihre Pferde an und gingen die letzten Schritte zu dem Haupthaus der Festung, an das sich der Bergfried anschloss, zu Fuß.

Sedain ließ zweimal einen stählernen, an der Pforte angebrachten Hammer gegen das Eichenholz schlagen, woraufhin ein Augenpaar sie durch einen Sichtschlitz musterte, bevor ächzend ein Riegel weggeschoben wurde.

Sie betraten eine Halle, in deren Mitte sich eine lange Tafel erstreckte. An ihrem Kopf saß der greise König flankiert von seinen Fürsten Maet und Bran, der in dem Moment, da er die beiden erblickte, aufstand und ein Lächeln aufsetzte. Am Tisch saßen außerdem General Berbast in sein typisches Schwarzbärenfell gehüllt und eine Person, deren Gesicht, wie auch der ganze restliche Körper, von einem schwarzen Kapuzenmantel verdeckt wurde. Da er neben Maet, dem Regenten von Mont, Platz genommen hatte, hielt Kraeh ihn für einen seiner Berater. Abseits standen zwölf Männer in voller Rüstung, jeweils drei aus der Leibgarde der Fürsten und sechs aus der des Königs, die sich aufgrund ihrer gezwirbelten Bärte und scharlachroten Umhänge von den anderen Kriegern abhoben.

Kraeh und Sedain verbeugten sich zuerst vor dem König und schritten dann auf Bran zu. Er war von allen Adligen am schlichtesten gekleidet. Über einer blauen Tunika diente ihm ein Fuchsfell als Schal, nur ein goldener Siegelring zeugte von seiner Stellung.

»Mit Freude kehren wir an deinen Hof zurück«, sprach Kraeh für sie beide.

Bran machte eine wegwerfende Handbewegung. »Warum so förmlich?«

Sie umarmten sich, wobei Sedain der missbilligende Blick Berbasts nicht entging. »Ich bin froh, meine besten Krieger um mich versammelt zu sehen.« Sedain schüttelte er die Hand im Kriegergruß.

»Fahren wir also fort …«, setzte Bran an, doch Berbast unterbrach ihn. »Verzeiht, Herr, aber diese Besprechung ist nichts für Männer von niederem Rang.« Der Hausherr sah erst Berbast, dann Sedain und schließlich den König an. Jener winkte müde ab. Ihm schien die Unterhaltung schon viel zu lange anzudauern.

»General Berbast hat recht«, sagte Sedain ruhig und wandte sich an seinen Freund. »Wir sehen uns später.« Er verbeugte sich noch einmal vor dem König und verließ die Halle, nicht ohne dem General einen Blick zu schenken, der den meisten Menschen nächtelang den Schlaf geraubt hätte. Berbast aber galt neben Kraeh als der beste Schwertkämpfer im ganzen Land, dieser Ruf wurde nur noch von dem seiner Grausamkeit übertroffen. Mühsam verbarg er ein gehässiges Lächeln hinter seinem dunklen Vollbart.

Nachdem die Tür hinter Sedain von einem Diener geschlossen worden war, ergriff Bran erneut das Wort.

»Wie du weißt, Kraeh, hat Theodosus alle, die nicht seinem eifersüchtigen Gott opfern, zu Heiden erklärt. Wir müssen diesen Wurm ein für alle Mal von seinem gestohlenen Thron werfen. Gemeinsam mit unsren Brüdern im Süden«, er deutete auf Maet, »und dem Segen unsres Königs Gunther können wir ein Heer aufstellen, stark genug, Rhodum in Schutt und Asche zu legen.«

Maet räusperte sich und begann, seine Bedenken zu äußern, wobei sein roter Schnurrbart auf und ab tanzte.

Kraeh lehnte sich zurück, Ränkeschmiedereien langweilten ihn. In Gedanken war er bei dem letzten Freudenmädchen, das er gehabt hatte.

Erst als Bran ihn direkt ansprach, wachte er aus seinen Fantasien auf. »… Also, wie viel Mann brauchen wir, Kraeh?«

»Wie viel Mann?«

»Bei Donar! Für die Wutachburg.« Er war offensichtlich verärgert, besann sich aber sofort auf die Verdienste seines zweiten Kriegers. Geduldiger wiederholte er: »Wie viel Mann, um die Burg einzunehmen?« Sie war der nördlichste Außenposten des Feindes und damit nicht weit entfernt von dem Fischerdorf, in dem er herangewachsen war.

»Wie war es eigentlich bei der Familie?«, mischte sich Berbast bissig ein.

Bran überging die Zwischenfrage. »Also?«

Kraeh dachte kurz nach. »Fünfzig Bogenschützen, fünfzig Reiter und hundert Speere.«

Jetzt sprach der König, und seine Stimme klang als sei sie bereits halb aus der nächsten Welt. »Wenn die Wutach gefallen ist, zieht der Bulle in den Krieg, aber ich bin nicht überzeugt, dass dies unsre letzte Möglichkeit ist.« Ein Hustenanfall schüttelte seinen ausgemergelten Körper, woraufhin ihm einer seiner Leibgardisten half, sich aufrechter hinzusetzen.

Der in schwarzen Stoff Gehüllte drehte seinen Kopf zu dem alten König, die Falten, die sein Gewand warf, schienen wie Schatten zu fließen, und Kraeh wunderte sich, dass er der merkwürdigen Gestalt nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Von seinem Gesicht war nichts zu erkennen außer einem schmallippigen Mund und einem gelb funkelnden Auge. Der Ton, in dem er sprach, war überaus angenehm und erinnerte an das Gurgeln eines Flusses vor einer Stromschnelle. »Ihr«, sagte er und breitete seine behandschuhten Hände aus, »seid die Herren des Rheins. Nicht die Orks oder die Zauberin jenseits der Fluten, auch nicht der verblendete Emporkömmling von Rhodum. Ihr seid es! Doch eure Dörfer werden geplündert, eure Frauen und euer Vieh werden geraubt. Wenn ihr jetzt Schwäche zeigt, werden sie bald mit Booten über den Fluss kommen und eure Reiche werden zerfallen. Es ist Zeit für Eisen und Blut.«

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