Wölfe

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Philipp Probst

WÖLFE

Die Reporterin in Engelberg


© 2020 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Umschlagbild: istock, maljuk

Gesetzt in Arno Pro Regular

Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

ISBN 978-3-85830-276-2

ISBN e-Book 978-3-85830-277-9

www.orteverlag.ch

INHALT

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

PROLOG

Sie konnte den kleinen Plüschbären nicht wegwerfen. Das brachte sie nicht übers Herz. Sie hielt ihn, drückte ihm einen Kuss auf die Schnauze und legte ihn in die Kuschelecke ihres Sofas zu den anderen Tieren.

Sechsundzwanzig Stofftiere waren es mittlerweile: acht Bären, vier Hunde und vier Katzen, je ein Reh, Fuchs, Wolf, Hase, Igel und Elefant, eine Giraffe, ein Schimpanse, ein Walfisch und ein Hai. Marlène besass einen ganzen Zoo.

Auch die Rose, die neben dem Bären vor ihrer Wohnungstür gelegen hatte, konnte sie nicht einfach in den Müll werfen, schliesslich war es eine Pflanze, ein Lebewesen. Wie so oft zuvor stellte sie sie in einer kleinen Vase auf den Balkon. Dort waren sie aus ihrem Blickfeld. Denn sie betrat den Balkon nur noch selten. Und in nächster Zeit gar nicht: Sie würde eine längere Zeit abwesend sein.

Marlène schlüpfte in ihre neuen Skihosen, in ihre neue Daunenjacke, setzte die neue Wollmütze auf und zog sie tief ins Gesicht. Sie prüfte im Spiegel, ob wirklich keine einzige Strähne ihrer dunkelblonden Haare zu sehen war. Schliesslich setzte sie die grosse, neue Sonnenbrille auf und ergriff ihren vollbepackten und ebenfalls neuen Rucksack und verliess das Haus.

Sie hatte schon so viel unternommen, um sich vor ihm zu schützen. Jetzt diese Flucht. Aber es war ihr klar, dass er sie trotz ihrer Verkleidung, ihrer neuen Identität, die sie sich zu geben versuchte, erkennen würde, falls er irgendwo auf der Lauer lag. Er würde sie an ihrem Gang erkennen. Deshalb versuchte sie, möglichst grosse Schritte zu machen, was aber unnatürlich aussah. Zudem fiel sie, wenn sie eine Strasse überqueren und auf den Verkehr achten musste, immer wieder in ihren gewohnten Schritt zurück. Sie wurde nervös. Wollte zurückschauen, ob er ihr bereits folgte. Aber sie zwang sich, sich nicht umzudrehen.

Erst als der Zug anfuhr und sie den ganzen Wagon abgecheckt hatte, fühlte sie sich besser und etwas sicherer. Sie nahm die Mütze ab, schälte sich aus der Jacke und nahm die Sonnenbrille von der Nase, die sie gar nicht gebraucht hätte. Es war noch früh am Morgen, dunkel und wolkenverhangen.

Als sie in Luzern umsteigen musste, zog sie alles wieder an, ging mit grossen Schritten den Perrons entlang. Sie schaute weder links noch rechts noch zurück.

In Engelberg regnete es leicht. Trotzdem behielt sie die Sonnenbrille auf und marschierte los. Marlène ging durch den Touristenort, der an diesem Novembertag wie ausgestorben wirkte, blickte aber auch jetzt weder nach rechts noch links, immer nur nach unten, ab und zu geradeaus, um auf dem richtigen Weg zu bleiben. Sie passierte das imposante Kloster mit der integrierten Stiftsschule, kam an der Talstation der Brunni-Seilbahn vorbei und bog kurz darauf in die Strasse Richtung Horbis ein. Eine Pause gönnte sie sich erst, als sie den Wald erreichte. Sie atmete tief durch und wagte einen Blick zurück.

Es war niemand zu sehen.

Sie nahm die Sonnenbrille ab und konnte weiterhin keinen Menschen erspähen. Sie ging weiter. Nun getraute sie sich, ihren gewohnten Gang zu gehen: kurze, schnelle Schritte. Das erleichterte den Fussmarsch. Marlène konnte sich etwas entspannen und ihren Blick geradeaus richten. Nur wenn ihr ein Auto entgegenkam oder sie überholte, wurde sie nervös, setzte die Brille auf und schaute nach unten auf den nassen Asphalt. Aber keiner der Autofahrer stoppte und kümmerte sich um sie.

Schliesslich erreichte sie hinten im Talkessel den kleinen Weiler Horbis, kam an der Kapelle vorbei und verliess beim Restaurant Bergfrieden die Strasse. Ein schmaler Weg führte sie weiter durch einen Wald, dann durch eine steile Furche entlang eines Bachs. Sie atmete heftig. Sie musste stehen bleiben. Aufschnaufen. Niemand folgte ihr. Rechts erblickte sie die Höhlen in den Felsen. Und sie erinnerte sich an ihre Kindheit, als sie mit ihren Brüdern darin Verstecken gespielt hatte.

Sie erreichte das Haus. Es war kurz nach Mittag. Es regnete zwar nicht mehr, aber die Wolken hingen noch immer tief. Der mächtige Titlis, der auf der gegenüberliegenden Seite des Engelbergertals zu sehen sein sollte, war vollständig verhüllt. Auch der markante Gipfel hoch über dem Haus, der 2606 Meter hohe Felsklotz Hahnen, war in den Wolken versteckt. Ob es dort oben schon geschneit hatte?

Sie kramte den Schlüssel aus der Jacke, stieg die Aussentreppe zur Terrasse hinauf und betrat die Hütte. Sie war direkt in den steilen Hang gebaut, der hintere Teil war im Berg verankert. Der obere Stock der Hütte wurde als Ferienwohnung genutzt, im unteren hauste in den Sommermonaten der Senn. Daneben befand sich eine zweite Hütte. Es war der Stall, in dem alle Geräte und Werkzeuge untergebracht waren.

Marlène stellte den Rucksack ab, öffnete einen Fensterladen und schaute sich um. Alles war so, wie sie es erwartet hatte. Die Stühle ruhten verkehrt herum auf dem Holztisch, auf der kleinen Küchenkombination lagen die Tücher perfekt zusammengefaltet neben der Spüle. Im Schaft lagerten Lebensmittel in Büchsen, die Etiketten nach vorne gerichtet. Es waren viele Büchsen. Typisch für ihre Mutter, sie bunkerte nicht nur zu Hause, sondern auch im Ferienhaus Lebensmittel für mehrere Wochen. Nun stellte Marlène ihre lang haltbaren Esswaren dazu. Randen- und Selleriesalate in Tüten, getrocknete Bohnen, Teigwaren. Die uperisierte Milch, Kaffeerahm, Käse und Trockenfleisch deponierte sie draussen auf dem Sims zwischen Fenster und Laden.

 

Neben dem Cheminée lag das gespaltene Holz minutiös aufgestapelt, die Anfeuerpaste und die Zündhölzer waren daneben platziert. Sie schaute kurz ins Kinderzimmer mit den zwei Doppelstockbetten und erinnerte sich daran, wie sie sich mit ihren Brüdern immer wieder darum gestritten hatte, wer von den drei Geschwistern unten schlafen musste. Meistens war sie es, die Älteste.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.

Im dritten Raum, dem Schlafgemach ihrer Eltern, waren die Betten wie auch die Kommode mit Leintüchern zugedeckt. Über der Kommode hing das alte Sturmgewehr ihres längst verstorbenen Grossvaters an der Wand. Ob ihr Vater auch irgendwo Munition versteckt hatte?

Es roch muffig. Sie öffnete das Fenster, die Läden und schaute hinaus in die wolkenverhangene Landschaft und den dunklen Tannenwald.

Sie fühlte sich in Sicherheit.

Ihr Schlaf war unruhig. Sie hörte immer wieder Geräusche. Aber sie konnte sie zuordnen. Der Wind liess die Bäume hin und her wippen, das Holz der Hütte knarrte, und die Schritte, die sie zu glauben hörte, bildete sie sich nur ein. Zumindest versuchte sie, sich das einzureden. Sie würde sich mit der Zeit daran gewöhnen. Niemand würde hierherkommen. Niemand würde sich zu dieser Jahreszeit hierher verirren. Niemand wusste, dass sie hier war. Schon gar nicht er.

Doch auch in der zweiten Nacht lag sie meistens wach. Oder sie sass dick eingepackt und mit Wollsocken an den Füssen vor der fast erloschenen Glut im Cheminée und versuchte, ein bisschen Wärme aufzunehmen. Trotzdem zitterte sie.

In der dritten Nacht konnte sie es nicht mehr schönreden, Marlène hatte eine furchtbare Angst. Sie zweifelte ernsthaft, ob ihre Idee gut war: sich eine Zeit lang in die Einsamkeit zurückzuziehen, zu sich selbst zu finden, Tagebuch zu schreiben, in der Natur zu sein und den ganzen Horror der letzten Monate zu verarbeiten.

Sie wollte nicht aufgeben. Aber sie änderte den Tagesablauf. In der vierten und fünften Nacht liess sie das Feuer und die Petroleumlampe brennen, sass am Tisch und schrieb. Erst gegen Morgen legte sie sich schlafen. Zumindest für drei, vier Stunden. Das klappte gut.

In der sechsten Nacht – sie war gerade in ihr Tagebuch vertieft – hörte sie plötzlich ein Kratzen, ein Scharren, ein Rumpeln. Sie wagte kaum zu atmen. Sie blies die Lampe aus. Die Glut in der Feuerstelle tauchte die Hütte in schwaches, rötliches Licht. Alles war wieder still. Sie erhob sich und packte ihre Taschenlampe. Sie öffnete die Türe und linste vorsichtig hinaus.

Sie leuchtete den Bergweg hinunter. Nichts. Sie fuhr mit dem Lichtkegel die Weide ab, auf der im Sommer die Kühe grasten. Nichts. Sie suchte den Wald ab. Nichts. Als sie die Taschenlampe auf die Wipfel der Bäume richtete, sah sie, dass diese weiss gepudert waren. Es hatte geschneit.

Sie schloss beruhigt die Türe, verriegelte sie und legte sich schlafen. Als sie gegen zehn Uhr aufwachte, sah sie, dass auch auf der Weide und am Boden ein Hauch Schnee lag. Sie zog sich an und ging nach draussen. Sie suchte nach Spuren. Wenn jemand in der Nacht da war, müsste er Fussabdrücke hinterlassen haben. Doch ausser Tierspuren fand sie nichts. Sie ging den Bergweg ein Stück hinunter bis zur Verzweigung. Es gab zwei Wege nach Engelberg: jenen über das Seitental Horbis, den sie gegangen war, und jenen direkt hinunter ins Engelbergertal. Beide waren etwa gleich lang. Sie schaute ganz genau auf die beiden Wege. Doch sie fand keine Spuren.

Marlène ging zum Haus zurück, öffnete den Fensterladen und nahm die Milch, den Käse und das Trockenfleisch in die Hütte hinein und gönnte sich ein ausgiebiges Frühstück. Plötzlich schien ein Sonnenstrahl in die Stube. Sie beendete ihre Mahlzeit, legte die Lebensmittel zurück auf den Fenstersims, verriegelte den Laden, zog ihre dicken Kleider an und machte einen Spaziergang. Die Wolken verzogen sich. Die Sonne wärmte und liess den Schnee schnell schmelzen.

Nun hatte sie freie Sicht auf Engelberg und ins Engelbergertal. Auch der 3238 Meter hohe Titlis strahlte hell. Der Gletscher war zugeschneit. Schnee lag auch auf dem Stand, der Zwischenstation der Titlisbahn. Von dort fährt die grosse Schwebebahn, die Titlis-Rotair, hinauf zum Klein Titlis, dem Nebengipfel des Titlis. Im Winter transportiert die Bahn die Skifahrer und im Sommer viele asiatische Touristen, die einmal in ihrem Leben Schnee anfassen wollen, in alpine Höhen.

Der Spaziergang tat ihr gut. Sie fühlte sich besser, leichter, selbstbewusster. Sie fühlte sich bestätigt: Ihr Plan war gut. Das Schreiben, die Einsamkeit, die Natur – all das stärkte sie, heilte ihre Seele. Sie war auf dem richtigen Weg.

Weil sie der ausgedehnte Spaziergang ermüdet hatte, ging sie an diesem Abend früher zu Bett und schlief sofort ein.

Sie erwachte, weil sie ein Knarren hörte, ein Kratzen. Eindeutig. Sie glaubte, es mache sich jemand an der Türe zu schaffen.

War er hier?

Sie bekam eine Höllenangst. Sie wagte kaum zu atmen. Aber es war still.

Doch plötzlich war es wieder da, dieses Geräusch! Rüttelte jemand am Fensterladen?

Wieder Ruhe.

Sollte sie sich verstecken? Wo? Im Kinderzimmer? Unter einem Bett? Nein, er würde sie finden! Was würde er mit ihr machen? Sie töten? Sie quälen?

Marlène schaute sich um. Gab es einen Gegenstand, den sie als Waffe einsetzen und ihm auf den Kopf schlagen könnte? Das Gewehr! Der alte Karabiner ihres Grossvaters! Wo aber war die verdammte Munition?

Sie hatte keine Zeit, danach zu suchen. Sie eilte ins Schlafzimmer, nahm das Gewehr von der Wand und ging zur Türe. Sie schloss sie auf, gab ihr einen Tritt und zielte mit dem Karabiner in die Nacht hinaus. Sie hörte ein Rascheln. Sie nahm die Taschenlampe, trat hinaus in die Nacht. Sie leuchtete den Weg hinunter. Nichts. Die Weide. Nichts. Sie liess den Lichtkegel langsam entlang des Waldrands streifen.

Dann sah sie es: Etwas reflektierte den Schein ihrer Taschenlampe. Ganz schwach. Augen? Reflektoren eines Kleidungsstücks? Sie schwenkte mit der Taschenlampe zurück. Sie zitterte.

Es war nichts mehr zu sehen.

Aber nun wusste sie: Sie war nicht allein.

1

Leas Coiffeursalon war voll mit elegant gekleideten Leuten. Die meisten Damen trugen Röcke oder stilvolle Hosenkleider, die Herren schwarze oder graue Anzüge. Nur einer fiel ein bisschen aus dem Rahmen: Jonas Haberer. Auch er trug zwar einen dunklen Anzug, dazu aber rote Cowboyboots und einen schwarzen Westernhut, verziert mit einem roten Seidenband. Er betrachtete ein Bild nach dem anderen. Lange und sehr genau. Wenn er sich bewegte, dann nur langsam und leise. Jonas Haberer trat nicht mit den Absätzen aufs Parkett und erzeugte für einmal kein lautes Klack–klack–klack, sondern er ging auf Zehenspitzen.

Lea, Elin und Marcel servierten Sekt, vegetarische Häppchen und gegrilltes Gemüse. Die Gäste standen in Grüppchen, diskutierten über die Bilder, nippten an ihren Gläsern und versuchten, die kleinen Sandwiches und Blätterteigtörtchen möglichst anständig und ohne zu kleckern in ihre Münder zu schieben.

Charlotte trug ein enges, kurzes, schwarzes Etuikleid, kniehohe Stiefel mit hohen Absätzen und sass auf einem Frisierstuhl. Sie beobachtete die Szenerie mit einem Lächeln.

Und dann war es so weit: Selma betrat den zur Galerie umfunktionierten Coiffeursalon. Charlotte stand auf, fasste ein Sektglas und schlug mit einem Löffel sachte dagegen. Laut sagte sie: «Eh, voilà, hier ist die Künstlerin. Meine Tochter Selma Legrand-Hedlund!»

Die Gäste drehten sich zu Selma um und applaudierten. Selma winkte kurz, fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare, lächelte, trat von einem Bein aufs andere und spielte an ihren Silberringen herum.

«Messieurs dames», sagte Charlotte. «Oder wie wir Schweden sagen: Hei!» Die Leute lachten kurz. «Es ist mir eine Ehre, Sie zu dieser Vernissage begrüssen zu dürfen. Es ist die allererste Vernissage dieser wundervollen Künstlerin. Und ich sage Ihnen, es war ein langer Weg bis zu dieser Ausstellung. Kunst soll und darf sich nicht verstecken, aber bringen Sie dies einer wahren Künstlerin bei!» Ein kurzes Raunen ging durch die Reihen. «Es brauchte nicht nur die liebevollen Worte von Selmas Schwester Elin, nicht nur viele Diskussionen und noch mehr Frisuren ihrer Freundin Lea und nicht nur die psychologische Beratung ihres Freundes Marcel. Nein, es brauchte ein – wie soll ich sagen – deutliches Wort ihres journalistischen Ziehvaters, der …»

«Es brauchte einen Tritt in den Arsch!», warf Jonas Haberer in breitestem Berner Dialekt ein. Die Leute lachten.

«Oder so», meinte Charlotte und lächelte angestrengt. «Und schliesslich brauchte es noch die Tatkraft ihrer Mama, die Sache zu organisieren und die Künstlerin vor ein fait accompli, vor vollendete Tatsachen, zu stellen.»

Die Leute lachten erneut und klatschten.

«Meine Damen und Herren», fuhr Charlotte fort. «Ich habe mich entschieden, nur einen kleinen Teil von Selma Legrand-Hedlunds Schaffen auszustellen. Es handelt sich um Bilder, die Selma während weniger Wochen im vergangenen Sommer gemalt hat. Die Künstlerin ist dabei zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. Ihre früheren Bilder zeigten realistisch dargestellte Landschaften, später kamen abstrakte Landschaften hinzu, gefolgt von einer sehr düsteren, schwarzen Phase. Doch die Farben kehrten zurück. Der Grund dafür war ein prägendes Ereignis auf einer Alp im märchenhaften Saanenland. Und hier sehen Sie das Resultat: mystische, fantasievolle Bilder, die eine ungeheure Lebenskraft ausdrücken.»

Charlotte legte eine kurze Pause ein und trank einen Schluck Wasser aus einem Glas, das ihr Lea reichte. «Die Werke zeugen von einem grossen handwerklichen Können und einem noch grösseren Talent. Aber lassen wir das hochgestochene Geschwätz: Überzeugen Sie sich selbst. Vielen Dank.»

Nach einem weiteren Applaus rief Selma: «Danke, Mama! Ihr wisst ja, einer Kunsthistorikerin, die einen grossen Teil ihres Lebens in verstaubten Archiven verbracht hat, darf man nicht alles glauben.» Sie blickte in die Runde, lächelte und sagte: «Danke, dass Ihr alle gekommen seid. Ich freue mich sehr über diese Vernissage!»

Die meisten Leute kannte sie. Es waren Freunde und Bekannte, viele Frauen ihrer Fasnachtsclique waren da, auch einige Journalisten und Fotografen, mit denen sie in der Vergangenheit zusammengearbeitet hatte.

Selma bewegte sich in ihrem kurzen, blauen Designerkleid und den hohen schwarzen Pumps elegant und sicher. Dass sie genau dieses Kleid und diese Schuhe an ihrer Vernissage tragen würde, wie es ihre Mutter gesagt hatte, als sie Selma die edlen Stücke schenkte, war also wahr geworden. Und ja, es stimmte: Sie hatte sich lange gegen diese Ausstellung gesträubt und deshalb den «Tritt» ihres ehemaligen Chefs und jetzigen Auftraggebers für ihre Reportagen gebraucht. Selma ging zu ihm: «Danke, Jonas, du elender Kotzbrocken!»

«Ach, Selmeli», meinte Jonas Haberer. «Ich weiss doch, was für dich gut ist.» Er deutete auf seinen Hut. «Hast du schon bemerkt, dass ich einen roten Seidenbändel an meinem Hut trage? Extra für meinen Besuch bei dir im Haus ‹Zem Syydebändel›.»

«Du bist süss», sagte Selma entzückt.

«Oh», machte Haberer, «du bringst mich in Verlegenheit, Selmeli.»

«Nenn mich nicht Selmeli, Habilein!»

Die beiden lachten. Dann wurde Selma von einem ihr unbekannten Mann, der etwa gleich alt war, angestupst und gefragt, ob er ihr einige Fragen stellen und ein Foto machen dürfe. Er stellte sich als Kulturjournalist vor und sagte, er würde sehr gerne einen kurzen Bericht über sie schreiben. Selma wollte gerade verneinen, als Marcel angerauscht kam.

«Wunderbar», mischte sich Marcel ein. «Das machen wir sehr gerne!»

«Sind Sie Frau Legrand-Hedlunds Kunstagent?»

«Nein, nein, ich bin bloss ihr bester Freund. Und wie Sie schon in der Ansprache von Selmas Mutter erfahren haben: Die Künstlerin ziert sich ein bisschen.»

Selma gab Marcel einen Stoss in die Rippen.

«Machen wir doch zuerst das Foto», schlug Marcel vor.

Der Journalist dirigierte Selma vor das grösste Alpgemälde und bat um ein Lächeln.

Doch Selma lächelte nicht.

«Bitte, Selma», forderte Marcel sie auf.

«Nein, ich will nicht lächeln, das weisst du.»

 

Marcel wandte sich dem Journalisten zu und flüsterte ihm ins Ohr: «Sie bekommt so ein kleines Grübchen in der rechten Wange, wenn sie lächelt. Alle finden das süss. Nur sie nicht.»

Der Journalist drückte einige Male auf den Auslöser. Selma blickte steif in die Kamera.

«Meine Güte, Selma!», schimpfte Marcel. «Du bist selbst Fotografin. Also solltest du wissen, worauf es bei einem guten Bild ankommt!»

«Ist ja gut», murrte Selma, fuhr mit ihren Händen durch ihre langen Haare, schüttelte sie und rief dann genervt nach Lea. Diese eilte mit einem Kamm herbei und frisierte Selma.

«Du schaffst das, Selma», sprach ihr Lea Mut zu.

«Ja, du schaffst das, Liebste», wiederholte Marcel.

«Ihr seid doof», kommentierte Selma und warf sich nun gekonnt in Pose. Süsses Lächeln inklusive Grübchen, verführerischer Blick, ein Auge durch eine Haarsträhne verdeckt.

«Danke», sagte der Journalist und bat Selma, nun einige Fragen zu beantworten. Selma merkte schnell, dass der Typ nicht bloss ein Lokaljournalist war, der von seiner Chefin oder seinem Chef zu einer langweiligen Vernissage verknurrt worden war. Der Mann schien etwas von Kunst zu verstehen. Zumindest machte er diesen Eindruck, in dem er Selmas Bilder mit anderen Künstlern verglich und fragte, ob sie sich von diesen Malern habe beeinflussen lassen.

«Nein. Ich habe schon immer gemalt, habe meinen eigenen Stil verfolgt. Dann studierte ich Fotografie, was mich ebenfalls geprägt hat.»

«Aber sie wuchsen in einem künstlerischen Umfeld auf?»

«Wie meinen Sie das?»

«Ihre Mutter ist eine bekannte Kunsthistorikerin.»

«Sie kennen meine Mama?»

«Flüchtig. Ich arbeitete während des Studiums im Kunstmuseum.»

«Aha», machte Selma, schaute um sich und suchte ihre Mutter. Diese schien aber in ein Gespräch vertieft zu sein. «Meine Mutter versteht tatsächlich etwas von Kunst. Was man von mir nicht unbedingt behaupten kann.»

«Sie sind schliesslich keine Kunstkritikerin, Sie sind eine wundervolle Künstlerin.»

Selma fühlte sich geschmeichelt, zweifelte aber daran, dass das Kompliment echt war. «Na ja … ich male einfach. Und wie Sie gehört haben, wollte meine Mutter unbedingt diese Ausstellung.»

«Zum Glück. Ich nehme an, das künstlerische Talent haben Sie von Ihrer Mutter. Malt sie auch?»

Selma spürte einen dumpfen Schlag in der Magengegend, ihr wurde schwindelig. Sie verlor beinahe das Gleichgewicht und konnte sich nur mit Mühe auf ihren hohen Absätzen halten.

«Frau Legrand-Hedlund, alles in Ordnung?»

«Ja … ich brauche … einen Schluck Wasser …»

Der Journalist ging schnell zu Lea und bat um ein Glas Wasser. Als er zurückkam, war Selma verschwunden.

Kurz darauf wollten sich die ersten Gäste bei der Künstlerin verabschieden. Lea, Marcel und Elin begannen, Selma zu suchen. Aber Selma war weg.