Buch lesen: «Die Kunst zu trösten»
Philipp Müller
Die Kunst zu trösten
Ignatianische Impulse
Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ und Stefan Hofmann SJ
Band 88
Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.
Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.
Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.
Philipp Müller
Die Kunst zu trösten
echter
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© 2020 Echter Verlag GmbH, Würzburg
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05539-4
978-3-429-05111-2 (PDF)
978-3-429-06498-3 (ePub)
Inhalt
Hinführung
1. Trösten – eine vermessene Aufgabe?
Die Warum-Frage und religiös verbrämter Trost
Der Trostversuch der Ijob-Freunde
Die Shoa und die Sinnlosigkeit des Leidens
Elie Wiesel und »Der Prozess von Schamgorod«
Die persönliche Not vor Gott ins Wort bringen
Echter und falscher Trost, Trost und Vertröstung
»… trotzdem Ja zum Leben sagen«
2. Was beim Trösten helfen kann
Wer kann trösten – wo und wann?
In der Begegnung präsent sein
Nähe und Distanz
Trauernde trösten
»Ich glaube, ich bin ein schlechter Tröster« (D. Bonhoeffer)
»Wenn ihr ein Wort des Trostes habt …«
Das Trostwort als Intervention
Humor beim Trösten
3. Wenn Gott tröstet
Vertrauen als elementare Haltung
Der Impuls Karl Rahners
Trost durch ein Wort der Schrift
Trost durch die Sakramente
Trost an besonderen Orten
Trost durch religiöse Lieder
»Von guten Mächten treu und still umgeben«
4. Die ignatianische Perspektive: Ganz bei Trost sein
Trost und Trostlosigkeit als Leitfaden der Exerzitien
Zwei Zeitgenossen: Ignatius von Loyola und Martin Luther
Die Haltung der »Indifferenz« als Ausdruck innerer Freiheit
Regeln zur Unterscheidung
Das Größte aber ist die Liebe
Die unterscheidend-kluge Liebe des Ignatius
Literaturhinweise
Hinführung*
Jemanden trösten zu wollen, dessen Leben plötzlich aus den Fugen geraten und dem der Boden unter den Füßen weggebrochen ist, ist alles andere als leicht. Deshalb fühlen sich Menschen nicht selten unsicher und hilflos, wenn sie fremdem Leid begegnen und es durch gute Worte lindern möchten. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit ist berechtigt. Missglückte Trostversuche gibt es zuhauf, setzt doch Trösten ein gutes Maß an Einfühlungsvermögen und Intuition voraus. Darüber hinaus sind verschiedene Kompetenzen beim Trösten hilfreich, die sich beispielsweise in einer Ausbildung zum Trauerbegleiter oder zur Trauerbegleiterin aneignen lassen. Bestimmte Standards, die auf diesem Weg vermittelt werden, können dazu beitragen, dass Trost gelingt. Manchmal ist freilich schon viel gewonnen, wenn ein stümperhafter Trostversuch vermieden wird, der einen leidenden Menschen mehr irritiert, anstatt ihm zu helfen.
Gelingender Trost ist nicht planbar und bleibt letztlich unverfügbar. Er geschieht in Begegnungen, die dem anderen guttun und ihn stärken. Manche Menschen sind wahre Trostkünstler und verfügen in besonderer Weise über diese Gabe. Was aber hat es mit einem guten und echten Trost auf sich? Woran lässt er sich erkennen und wie unterscheidet er sich vom billigen Trost und von einer Vertröstung? Was trägt dazu bei, dass sich Menschen wirklich getröstet fühlen, wodurch wird es verhindert? Nicht nur Menschen trösten einander. In der jüdischchristlichen Tradition tröstet auch Gott. »Der du der Tröster wirst genannt«, heißt es in einem bekannten
Heilig-Geist-Lied. »Tröster« ist einer der schönsten Namen des an sich unsagbaren Gottes. Wie aber tröstet Gott? Und woran erkenne ich, dass Gott mich tröstet, und was will er mir damit sagen? Die letzte Frage verweist auf die ignatianische Spiritualität, in der das innere Empfinden von Trost oder Trostlosigkeit der entscheidende Kompass ist, um den Willen Gottes für das eigene Leben zu erkennen.
Mit diesen Fragen und Hinweisen ist der inhaltliche Rahmen der folgenden Überlegungen abgesteckt. Sie stehen unter dem Vorzeichen, dass das Trösten eine Kunst ist, die viel Fingerspitzengefühl verlangt und für deren Gelingen es kein Patentrezept gibt. Was sich in einer Situation als goldrichtig erwiesen hat, kann in einem anderen Zusammenhang Verstörungen auslösen.
Zur Illustration wird im Folgenden immer wieder auf Personen und ihre Erfahrungen zurückgegriffen, die sich unter extremen Bedingungen zu behaupten hatten. Unter widrigen Umständen sind Menschen oft besonders trostbedürftig. Dabei trennt sich auch die Spreu vom Weizen und es wird leichter erkennbar, was wirklich tröstet und was hohle Phrasen sind.
* Dieses Buch ist dem Andenken an Marianne Müller (1926-2018) gewidmet.
1. Trösten – eine vermessene Aufgabe?
Bevor positiv darauf eingegangen wird, unter welchen Bedingungen Trost vielleicht gelingen kann, wird in diesem Kapitel gefragt, ob das Trösten-Wollen im Grunde nicht vermessen ist. Dabei kommen auch mögliche Fehlformen zur Sprache. Besondere Achtsamkeit ist angezeigt, wenn der Trost mittels religiöser Floskeln erfolgt; denn dann ist die Gefahr groß, dass Religion zur Vertröstung verkommt und der Name Gottes missbraucht wird.
Welches gute Wort hilft der Frau weiter, deren Partner nach vielen gemeinsamen Ehejahren gestorben ist? Was tröstet einen Menschen, dessen Beziehung in die Brüche gegangen ist und der mit seinem Leben nun wie vor einem Scherbenhaufen steht? Außenstehende fühlen sich in solchen Situationen schnell verunsichert und wissen nicht recht, wie sie reagieren sollen. Deshalb wird eine langjährige Bekannte, die mit einer unheilbaren Krankheit im Krankenhaus liegt, nicht besucht oder dem trauernden Nachbarn, dem man zufällig auf der Straße begegnet, aus dem Weg gegangen. Die gute Bekannte oder der trauernde Nachbar, zu denen bis dahin ein unkomplizierter Kontakt bestand, finden ein solches Verhalten irritierend.
Menschen tun sich mit dem Trösten schwer, weil sie spüren, wie schwierig und heikel diese Aufgabe oft ist. Denn ein Trost muss sich im anderen einstellen, und ein Begleiter oder eine Begleiterin haben es nicht in der Hand, ob und wann dies geschieht. Wie vermessen es im Grunde ist, einen Menschen trösten zu wollen, wird besonders in der Sterbebegleitung deutlich. Welche Hoffnung will man einem Sterbenden vermitteln, wenn man selbst nicht weiß, was einen nach dem Tod erwartet und wie man sich an Stelle des Sterbenden verhielte? Eigentlich sind dabei die Sterbenden die Experten, weil sie den anderen ein Stück des Weges voraus sind und vom Sterben mehr Ahnung als diejenigen haben, die zurückbleiben. Darum wären sie auch die idealen Sterbebegleiter. Es schmerzt, einen anderen Menschen leiden zu sehen; und je weniger man aktiv tun kann, desto größer ist das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit. Manche gehen solchen Situationen bewusst aus dem Weg. Andere verfolgen eine offensive Strategie: Sie geben Ratschläge und Tipps, wie damit umzugehen sei. Damit wollen sie erreichen, dass es dem anderen bald wieder besser geht. Hierfür erwarten sie von ihrem Gegenüber unbewusst vielleicht eine Form von Dankbarkeit – und dies, obwohl ihre Bemühungen wenig gebracht haben. Möglicherweise hat der andere die Begegnung gar als anstrengend erlebt und wäre lieber in Ruhe gelassen worden.
Manchmal soll durch vermeintlich gute Ratschläge die eigene Hilflosigkeit kompensiert werden. Um zwei Beispiele zu nennen: Ein erfolgreicher Mann von Mitte 40 wird durch den schwerkranken Schulfreund mit der eigenen Verletzbarkeit und Endlichkeit konfrontiert, die er bis dahin erfolgreich verdrängt hatte und sich immer noch nicht recht eingestehen will. Oder: Eine Frau erfährt von sexualisierter Gewalt in der Familie ihrer Freundin, und ihr schwant dabei, im eigenen Leben etwas Ähnliches erlebt zu haben, das niemals richtig aufgearbeitet wurde. In beiden Fällen können Ratschläge ein Abwehrmechanismus sein, sich bedrohliche Gefühle vom Leib zu halten. Damit die »blinden Flecken« der eigenen Biographie das Handeln so wenig wie möglich torpedieren, empfiehlt es sich gerade für Menschen in helfenden Berufen, zu denen auch Seelsorgerinnen und Seelsorger gehören, sich mit ihrer Lebensgeschichte intensiv auseinandergesetzt und sie so gut wie möglich aufgearbeitet zu haben. Denn die helfende Person ist und bleibt das eigentliche »Instrument« ihres Handelns.1 Deshalb gilt für alle, die anderen helfen und ihnen tröstend beistehen wollen: Je besser sich eine Person selbst kennt und je mehr sie gelernt hat, mit ihren Grenzen und Unvollkommenheiten umzugehen, desto adäquater und feinfühliger wird sie auch anderen begegnen.
Die Warum-Frage und religiös verbrämter Trost
Leute, denen ein schlimmer Schicksalsschlag widerfahren ist, fragen nicht selten: »Warum ist ausgerechnet mir das passiert?« Was soll man als Begleiter oder Begleiterin auf eine solche Frage antworten, die sich im Grunde nicht beantworten lässt?
Zunächst ist Verständnis dafür aufzubringen, dass ein Mensch diese Frage stellt. Weil auf dem Gebiet der Naturwissenschaften oder der Medizin die Frage »Warum ist das so?« enorme Erkenntnisfortschritte ermöglicht hat, legt es sich nahe, auch das eigene Leben und die persönliche Biographie kausal begreifen zu wollen. Auf diese Weise wird das Leben berechenbar. Im Alltag funktioniert das in der Regel recht gut: In Kindheit und Jugend entwickelt ein Mensch einen Deuterahmen, in den sich weitere Erfahrungen und Erlebnisse integrieren und einordnen lassen, der durch neue Erfahrungen aber auch immer wieder modifiziert und verändert wird.
Die jeweilige Kultur und Religion bestimmen als kollektive Größen den persönlichen Deuterahmen in dem Maße inhaltlich mit, wie ein Mensch die jeweiligen Inhalte in seine Weltsicht integriert. Schwierig und bedrohlich wird es dann, wenn einen ein Ereignis so aus der Bahn wirft, dass es den bestehenden Deuterahmen sprengt. Dies kann Anlass sein, das Leben als Ganzes zu hinterfragen und auf einer existentiellen Ebene die Warum-Frage zu stellen.
Vielleicht findet ein Mensch in einer schweren Situation selbst zu einer Antwort auf die Warum-Frage. Es ist jedoch mehr als fragwürdig, wenn Außenstehende einem die Deutung von Krankheiten und anderen Schicksalsschlägen abnehmen wollen und zu wissen vorgeben, welcher Sinn darin liegt und was Gott einem damit sagen möchte. Solche Antworten werden in der Regel dem Einzelnen nicht gerecht, drohen sein Leiden zu verharmlosen und es religiös zu verbrämen. Schenkt man beispielsweise einem Menschen, dem das Wasser (im übertragenen Sinn) bis zum Halse steht, eine Spruchkarte mit dem Text »Was macht schon der Schiffbruch, wenn Gott das Meer ist«, dann ist es mehr als verständlich, wenn der Empfänger die Karte als zynisch empfindet. Misslungene Trostversuche dieser Art offenbaren, wie sehr die Redeweise stimmt, dass das Gegenteil von »gut« häufig »gut gemeint« ist.
Der Trostversuch der Ijob-Freunde
Religiösen Trost von außen, den Betroffene als wenig hilfreich erleben, hat es immer gegeben. Das biblische Ijob-Buch ist hierfür ein Lehrstück. Ijob ist ein Mann, der in jeder Hinsicht vorbildlich gelebt hat. Irgendwann trifft ihn ein Schicksalsschlag nach dem anderen. Alles wird ihm genommen: Reichtum, Gesundheit und sogar die eigenen Kinder. Eindrücklich beschreibt die Bibel, wie er mit einer Tonscherbe in der Hand in der Asche sitzt, um sich den Ausschlag zu schaben (2,8f.).
Ijob hat jedoch drei Freunde, die immerhin einen weiten Weg auf sich nehmen, um ihn zu trösten. Nach ihrer Ankunft verweilen sie zunächst sieben Tage und Nächte schweigend bei ihm (2,11–13), wie es der jüdischen Trauerwoche entspricht. Danach bricht es aus Ijob heraus: Er verflucht den Tag seiner Geburt und wünscht sich den Tod (Kap. 3). Seine Freunde empfinden eine solche Rede als Frevel und gebieten ihm Einhalt. Sie raten ihm, er solle seine Schuld anerkennen und Gott um Vergebung bitten; dann werde dieser sich seiner erbarmen und die Not wenden. In ihrer Argumentation setzen sie unausgesprochen voraus, Ijob habe gesündigt und das Leid sei hierfür Gottes gerechte Strafe. Ijob ist sich freilich keiner Schuld bewusst, und er signalisiert den Freunden deutlich, dass ihm ihr Zuspruch wenig hilft: »Leidige Tröster seid ihr« (16,2b), ruft er ihnen zu. Und weiter: »Wie wollt ihr mich mit Nichtigem trösten? Eure Antworten bleiben Betrug« (21,34). Trotzdem hat die Logik der Freunde schon bei ihm verfangen. Ijob steigert sich in Unschuldsbeteuerungen hinein und wendet sich klagend und anklagend an Gott, der erscheinen und ihm in einem Prozess die Schuld beweisen soll.
Am Ende erscheint Gott tatsächlich und würdigt ihn einer Antwort. Aber es kommt anders, als Ijob und seine Freunde sich dies vorgestellt haben: Gott verweist eingehend auf die Größe seiner Schöpfung; sie ist ein Zeichen dafür, dass er bei aller Unbegreiflichkeit das Geschick der Welt und der Menschen trägt, auch wenn vieles im Leben unverständlich bleiben wird. Von irgendwelchen Sünden, die Ijob begangen haben soll, ist keine Rede; die Prämisse Ijobs und seiner Freunde hat in Wirklichkeit nie gegolten. Das Buch endet mit einem Happyend und schildert, wie Ijob es wieder zu Glück und Wohlstand gebracht hat. Auf die Frage, warum er hat leiden müssen, gibt das Buch keine Antwort – wie sie für viele Menschen offenbleiben muss, deren Leiden nicht mit einem Happyend zu Ende gehen.
Als das Buch Ijob in vorchristlicher Zeit entstand, war sowohl unter Theologen als auch in der Volksfrömmigkeit ein Denken weit verbreitet, das man heute den »Tun-Ergehen-Zusammenhang« nennt. Dem zufolge hat das konkrete Leid eines Menschen als Strafe Gottes für begangene Sünden zu gelten. Wenn also jemand schwer krank wurde, dann ging man davon aus: Der Kranke selbst oder jemand aus seinem nächsten Umfeld hat sich etwas zuschulden kommen lassen. Dieses Denkmuster bot dem Betroffenen und seiner Umgebung Anlass für vielfältige Spekulationen und Tuscheleien. Spätestens mit dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt verlor es an Bedeutung, aber ganz verschwunden ist es nicht. Auch heute sind besonders solche Menschen für ein solches Denkmuster anfällig, die das Bild eines strafenden Gottes in sich tragen. Heute sind manchmal (pseudo-)psychologische Varianten an die Stelle eines religiös fundierten »Tun-Ergehen-Zusammenhangs« getreten, die beispielsweise im Ausbruch einer Krebserkrankung einen nicht aufgearbeiteten psychischen Konflikt erkennen oder die Auffassung vertreten, dass Herzkranke immer ängstliche Persönlichkeiten sind.
Das Ijobbuch erteilt jedwedem zum Dogma erhobenen »Tun-Ergehen-Zusammenhang« in seinen verschiedenen Varianten eine Absage. Damit entlarvt es alle vermeintlichen Tröster, die andere Menschen darüber belehren wollen, warum ihnen Leid widerfahren ist und welcher vermeintliche Sinn darin liegt. Auf diese Fragen kann es keine objektiv gültige Antwort von außen geben. Bezeichnend ist eine Begebenheit, über die der Schriftsteller Walter Dirks in einem Zeitschriftenbeitrag (Die Zeit, vom 13. Oktober 1968) berichtet. Dirks hatte kurz vor dessen Tod noch einmal den Religionsphilosophen Romano Guardini (1885–1968) besucht, der ihn wissen ließ: »Er werde sich im letzten Gericht nicht nur fragen lassen, sondern auch selber fragen; er hoffe in Zuversicht, dass ihm dann der Engel die wahre Antwort nicht versagen werde auf die Frage, die ihm kein Buch, auch die Schrift selber nicht, die ihm kein Dogma und kein Lehramt, die ihm keine ›Theodizee‹ und Theologie, auch die eigene nicht, habe beantworten können: Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld?«
Die Shoa und die Sinnlosigkeit des Leidens
Trotzdem hat es in der Geschichte der Theologie und der Philosophie immer wieder Versuche gegeben, das Leid von Menschen zu erklären und es irgendwie mit einem tieferen Sinn zu belegen. Erklärungs- und Trostversuche dieser Art sind allerspätestens durch die systematische Judenvernichtung im Nationalsozialismus ad absurdum geführt worden. Diese Einsicht spiegelt sich begrifflich darin wider, dass man heute lieber von der Shoa als vom Holocaust spricht.
Bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde zunächst im angelsächsischen Raum, dann auch in anderen Ländern wie Deutschland die systematische Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus als Holocaust bezeichnet. Die gleichlautende amerikanische Fernsehserie »Holocaust« hat das Thema filmisch eindrucksvoll inszeniert. Sie erzählt die (fiktive) Geschichte der vormals angesehenen jüdischen Arztfamilie Weiss, deren Weg ins Konzentrationslager Auschwitz führt. Als die Serie im Januar 1979 zum ersten Mal im deutschen Fernsehen lief, löste sie bei vielen Zuschauern eine tiefe emotionale Betroffenheit aus und hat zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit geführt. Seitdem können weite Teile der Bevölkerung mit dem Holocaust-Begriff etwas anfangen und verbinden ihn mit den nationalsozialistischen Gräueltaten an den Juden.
Doch dieser Begriff ist fragwürdig. Ursprünglich stammt Holocaust aus dem Griechischen und bedeutet »vollständig verbrannt«. Dieses Wort hat einen religiös-kultischen Hintergrund: In der altkirchlichen Übersetzung des hebräischen Alten Testaments ins Lateinische bezeichnet das »holocaustum« ein Tieropfer, bei dem alle Körperteile und Innereien eines geschlachteten und zerteilten Opfertieres auf einem Altar verbrannt wurden. Damit stellt sich die Frage: Ist es angemessen, die Juden, die in Auschwitz und anderswo vergast und deren Körper in den dortigen Krematorien verbrannt wurden, als »Ganzopfer« zu verstehen? Was würden die Opfer selbst dazu sagen? Denn der Begriff assoziiert, dass in der Judenvernichtung irgendeine religiöse Sinnhaftigkeit liegen könnte, auch wenn sie von außen nicht erkennbar ist.
Jüdischerseits hat man deshalb schon früh den hebräischen Begriff »Shoa« dem des »Holocaust« vorgezogen. »Shoa« bedeutet so viel wie »Untergang« oder »Zerstörung« und betont das Destruktive und Widersinnige der damaligen Ereignisse, ohne sie (wie dies beim Holocaust-Begriff und seinem impliziten Opfer-Verständnis der Fall sein kann) noch mit irgendeinem latenten Sinn belegen zu wollen. Bereits im Jahr 1951 hat der Staat Israel den Shoa-Tag, den Jom haSho’a, als nationalen Gedenktag eingeführt, an dem bis heute Juden aus aller Welt der Judenpogrome der NS-Zeit gedenken. Ursprünglich sollte dieser Gedenktag am 14. Nisan und damit an dem Tag sein, an dem der Aufstand im Warschauer Ghetto begann; da dieser Tag nur einen Tag vor dem Beginn des Pessach-Fests liegt, wurde er um dreizehn Tage auf den 27. Nisan verlegt, an dem er bis heute begangen wird.
Elie Wiesel und »Der Prozess von Schamgorod«
Lässt sich das Leiden von Menschen in seiner ganzen Sinnlosigkeit überhaupt irgendwie mit dem Glauben an einen guten Gott vereinbaren? Um diese Frage hat zeit seines Lebens der jüdische Schriftsteller Elie Wiesel (1928–2016), ein Überlebender der nationalsozialistischen Konzentrationslager und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1986, gerungen. Der in Siebenbürgen Geborene verlor in Auschwitz Mutter und Schwester; in Buchenwald kam kurz vor der Befreiung im April 1945 sein Vater um. Eindrücklich beschreibt er seine Erfahrungen im ursprünglich jiddisch verfassten Erstlingswerk »Die Nacht«, das im Jahr 1956 und damit elf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschienen ist. Diese Zeitspanne hat damit zu tun, dass Wiesel sich nach dem Entrinnen aus dem Todeslager vorgenommen hatte, zehn Jahre lang zu schweigen, ehe er das Erlebte in Worte fassen werde – wie übrigens auch Ijob und seine Freunde eine ganze Woche miteinander geschwiegen hatten, ehe einer nach dem anderen das Wort ergriff.
Im Jahr 1979 und damit mehr als 20 Jahre später hat Wiesel sein vielleicht abgründigstes Theaterstück veröffentlicht, das er in der Regieanweisung als »tragische Farce« charakterisiert: »Der Prozess von Schamgorod (so wie er sich am 25. Februar 1649 abgespielt hat)«. Dieses Werk greift das biblische Ijob-Thema auf, stellt es aber in den Kontext der Chmelnyzkyj-Pogrome des 17. Jahrhunderts, die zu den blutigsten Pogromen der ostjüdischen Geschichte zählen. Ort und Zeit der Handlung sind eine Wirtschaft im Dorf Schamgorod unweit des Dnjepr. Dort kehren eines Tages bei Berisch, dem Wirt, und seiner geistig verwirrten Tochter Hanna drei jüdische Wanderschauspieler ein. Da dieser Tag auf das jüdische Purim-Fest fällt, bietet die mittellose Wandertruppe an, für die Juden des Dorfes ein Purim-Spiel aufzuführen, das traditionsgemäß von der wunderbaren Errettung des jüdischen Volkes durch die Königin Esther erzählt. Der Wirt wehrt ab und klärt die Gäste auf, was Schlimmes am Ort geschehen ist: In Schamgorod seien unlängst alle Juden umgebracht worden; nur er und seine Tochter Hanna hätten überlebt. Später erfährt man: Hanna hat den Verstand verloren, weil sich das Massaker ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag ereignete.
Nach einigem Hin und Her stimmt der Wirt einem Spiel in seinen Räumen zu, aber nur unter der Bedingung, dass dieses Purim-Spiel – Purim ist das jüdische Fest der Narren – ein fingierter Prozess gegen Gott vor einem rabbinischen Schiedsgericht sei. Man einigt sich auf die Rollen: Der Wirt übernimmt den Part des Anklägers, der Gott verstehen, ihn anklagen, verurteilen und verdammen will. Die drei Wanderschauspieler sind die Richter. Aber niemand ist bereit, die Verteidigung Gottes zu übernehmen. Die für diese Aufgabe Prädestinierten – der Richter, der Lehrer und alle, die an ihn glaubten – sind dem Massaker zum Opfer gefallen. Plötzlich betritt ein elegant gekleideter Fremder die Wirtsstube. Seine Identität gibt er nicht preis, aber jeder spürt seine negative Ausstrahlung. Spontan erklärt er sich bereit, die Rolle von Gottes Advokat zu übernehmen, und er füllt sie meisterhaft aus. Wortgewandt und spitzfindig führt er alle gängigen Argumente ins Feld, mit denen bisweilen Theologen und Philosophen auf die Frage zu antworten pflegen, warum der gute Gott Menschen leiden lässt. Alle Anklagepunkte des Wirtes weiß er zu entkräften, den er als Ungläubigen bloßstellt. Schließlich sind die Anwesenden geneigt, den Fremden aufgrund seiner überzeugenden Argumentation für einen Zaddik, einen gerechten Gottesmann, zu halten. Doch die Geschichte nimmt eine überraschende Wende: Als gegen Ende des Purim-Spiels alle ihre Masken aufsetzen, setzt der gewiefte Fremde die Maske des Teufels auf und gibt damit seine wahre Identität preis. Das Stück schließt mit den Worten:
Der kostenlose Auszug ist beendet.