Im Bauch des stählernen Wals

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Im Bauch des stählernen Wals
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Philipp Hager

Im Bauch des
stählernen Wals

Roman


Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel I

Ein paar Bäume rasten am Fenster vorbei; dann war der Blick auf die Landschaft wieder frei. Endloses Ackerland. Bis zum Horizont erstreckte sich ein ockerfarbenes Nichts. Es machte den Eindruck, als hätte auf diesem Landstrich im Mittelalter eine unsägliche Metzelei getobt und als hätte die Erde die Kadaver niemals richtig verdaut. Wie ein grenzenloser, mit Weizen bewachsener Friedhof. Irgendwie war es schön anzusehen.

Ich versuchte, ein paar Eindrücke in meinem Notizbuch festzuhalten, aber der Zug rumpelte stark, und es kamen nicht mehr als schwarze Spinnennetze dabei heraus. In zwei Stunden würde ich nichts mehr davon entziffern können. Ich murmelte die Wörter vor mich hin, ließ sie wie Streichhölzer aufflammen, in der Hoffnung, sie mögen sich in meine Hirnrinde einbrennen. Aber kaum eine Minute später konnte ich mich an keine Silbe mehr erinnern; ich schnaubte, packte das Notizbuch in den Rucksack und lehnte mich zurück in den Polstersitz.

Es war Nachmittag, ein schöner Julinachmittag, und ich saß allein auf einem Viererplatz. Die Sonne brannte herein; Staubkörner schwebten im Licht. Weiter vorne im Wagen saßen ein paar Menschen. Sie schwatzten, und ihre Sätze zerbröckelten im Stampfen des Zuges, kleine Bruchstücke staubten über meine Ohren … PersonalmangelAkten … Ich achtete nicht darauf. Mir war fröhlich und heiter zumute. Ich fühlte mich meistens wohl. Zumindest, wenn ich alleine war.

Ich schaute eine Weile aus dem Fenster. Bis irgendwann die Abteiltür sich aufschob und ein glänzender Servicewagen hereinrollte. Der Mann dahinter war kaum älter als ich. Er hielt vorn, bei den Schwätzern. Dann kam er zu mir.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Eine Erfrischung vielleicht?«

»Gibt’s auch was zu essen?«, fragte ich.

»Wir haben Sandwiches … mit Thunfisch, Schinken und Ei, Käse …«

»Drei Thunfischsandwiches bitte«, und während er eine Lade aufzog und darin kramte, »Obst gibt es wohl nicht? Nein … dann noch einen schwarzen Tee.«

Er gab mir die Sandwiches. Dann ließ er den Tee herabsprudeln und reichte mir den dampfenden Becher. Er blickte kurz an die Decke; zwischen seinen Schläfen floss der Strom.

»Das wären dann … neun Euro zwanzig.«

»Hier sind zehn. Stimmt schon«, sagte ich.

Das war meine letzte Kohle, nun war ich blank. Aber darüber machte ich mir keine Sorgen. Wenn alles glatt lief, würde ich noch heute Abend ein paar Hunderter in der Tasche haben.

Der Mann lächelte und nickte. Dann rollte er sein Wägelchen an mir vorbei. Unter dem hydraulischen Ächzen der Abteiltür verschwand er in den nächsten Wagen.

Ich sah wieder aus dem Fenster. Die Landschaft blühte nun zusehends auf. Ein bewaldeter Hang zog vorbei. Unzählige Rotbuchen streckten ihre Wipfel nach der Sonne, die am Himmel stand wie eine platzende Orange. Zwischen den Baumstämmen wand sich eine Straße hervor, darauf ein Lastwagen, der langsam hinter den Zug zurückfiel.

Ich packte ein Thunfischsandwich aus und versenkte meine Zähne. Während ich kaute und weiter aus dem Fenster sah, dachte ich über dieses und jenes nach, ließ meine Gedanken kullern wie ein Würfelspiel. Ich dachte an Camus’ Pest, das ich unlängst gelesen hatte, und wie wirklichkeitsfremd seine Figuren waren, aber den Schwarzen Tod hatte er gut hinbekommen. Ich verweilte ein bisschen bei der Pest, bei Wachsmänteln und Leichengruben und Pesthaken, und mir kam ein Tartarenführer in den Sinn, der im vierzehnten Jahrhundert Pestleichen über die Mauern einer belagerten Stadt katapultiert hatte. Ich versuchte mich an seinen Namen zu erinnern, brachte ihn aber nicht zusammen.

Auch das zweite Thunfischsandwich, das ich aus dem Plastik gewickelt hatte, schmeckte köstlich, umso köstlicher, weil mein Körper nicht mit schwarzen Beulen übersät war, und als sich die Pest in meiner Vorstellung aufgezehrt hatte, ließ ich die Flügel ausgebreitet und glitt mühelos weiter zur Spanischen Grippe. Ich sah ein ausgestorbenes Madrid vor mir, verrammelte Fensterläden und leere Straßenbahnen, die auf Kreuzungen verrosteten – plötzlich blitzte der sterbende Schiele wie ein glühender Draht durch meinen Kopf, und mein Herz setzte aus, aber schon drängte die Apokalypse nach, und Schiele wurde überschwemmt von Millionen anderen Toten, von entvölkerten Landstrichen und verseuchten Schützengräben und Scheiterhaufen, die tagelang brannten.

Aber auch die Grippe ging vorbei, und ich blieb bei Spanien hängen. Ich stellte mir eine Landkarte vor, versuchte Barcelona und Katalonien einzuzeichnen, und während ich mich über das dritte Thunfischsandwich hermachte, fielen mir unversehens ein paar Zeilen von Gogol ein, die ich noch am Morgen gelesen hatte: Ich entdeckte, dass China und Spanien völlig ein und dasselbe Land sind und dass man sie bisher nur aus Unbildung für zwei verschiedene Staaten gehalten hat. Ich rate jedem, einmal aufs Papier »Spanien« zu schreiben – Sie werden sehen, es kommt »China« dabei heraus.

Mit vollen Backen kicherte ich vor mich hin.

Nach dem letzten Bissen leckte ich mir alle Finger und schnalzte genüsslich mit der Zunge. Ich trank einen Schluck Tee. Mit der Wärme breitete sich eine wohlige Zufriedenheit in mir aus. Ich sperrte den Mund auf und gähnte. Dann lehnte ich meinen Kopf gegen die zitternde Scheibe und schloss die Augen.

Als ich erwachte, stand der Zug still. Die Abteiltüren waren offen, unzählige Menschen strömten herein. Sie lärmten und hoben ihre Taschen auf die Gepäckablage und nahmen mit ihren Körpern und Stimmen alles in Besitz. Draußen, vor dem Fenster zu meiner Linken, hing ein leuchtendes Schild: Würzburg.

Ich kniff geblendet die Augen zusammen und richtete mich in meinem Sitz auf. Aber noch bevor ich richtig zu mir kam, ließen sich zwei Rekruten in Ausgehuniform schwungvoll neben mir nieder. Ihre grünen Taschen fielen zu Boden. Flaschen schepperten darin. Der eine war groß, mit breiten Schultern und kantigem Gesicht, wie einem Gemälde von Albin Egger-Lienz entstiegen. Der andere war kleiner und rothaarig. Ihre Hosenbeine waren akkurat aufgestrickt, die Stiefel glänzten, und sie hatten kühne, entschlossene Mienen.

»SALUTIEREN, SOLDAT!«, rief der Große plötzlich.

Der andere riss die Hand zur Schläfe. Dann lachten sie. Na toll! Ich war an zwei Wahnsinnige geraten. Der Große zog den Reißverschluss seiner Tasche auf und fischte zwei Flaschen Bier heraus.

»Da, Michael. Auf deine Beförderung.«

»Danke. Zum Stabsgefreiten fehlt zwar noch ein Stück, aber zum Anstoßen reicht es.«

»Genau. Heute machen wir einen drauf, was?«

»Aber logo. Heut lassen wir’s krachen.«

»Die Weiber … ich sag dir … die Weiber stehen auf Uniformen.«

»Und soll ich dir was sagen? ICH AUCH!«

»HAHAHAHAHAHA!«, brüllte der Große aus vollem Hals.

»HAHAHAHAHA!«

»Prost, Michael.«

»Prost, René. Sollen wir?«

»Aber sicher!«

»KAMERAAADEN, LASST UNS SINGEN …«, brüllten sie.

Die Takte dieses Soldatenlieds prallten mir gegen den Schädel wie Hammerschläge. Mich beschlich das unheimliche Gefühl, Gehirnzellen einzubüßen. Fast wünschte ich mir einen Krieg, allein, um ihnen diese Flausen auszutreiben; um ihren beknackten Soldatenstolz im Pfeifen der Kugeln zerbröseln zu sehen. Ich packte meinen Rucksack, drängte mich grob zwischen den Knien der beiden durch und verschwand in den nächsten Wagen.

Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und atmete tief durch. Hier tönte nichts als sanftes Gemurmel und Gebrabbel, wie Meeresrauschen. Was für eine Wohltat! Ich sah mich nach einem Sitzplatz um, konnte aber keinen finden. Also ging ich weiter in den nächsten Waggon. Aber auch hier war alles voll.

 

Ich arbeitete mich zwischen den schwankenden Sitzreihen bis zur nächsten Abteiltür vor, zog sie auf und gelangte in das Zwischenstück, das die Waggons verband. Es war kaum zwei Meter lang und ein wenig so, als stünde man im Inneren eines Akkordeons. Der Boden bestand aus Stahlschuppen, die sich überlappten und in den Kurven ineinanderschoben. Durch die Ritzen sah man hinab auf die rasenden Schienen; ein ungeheures Brausen stieg auf.

Mittendrin saß ein Mädchen auf einer Reisetasche. Unsere Blicke streiften einander. Ich wollte weitergehen, aber durch das Fenster in der Abteiltür konnte ich sehen, dass sich auch im nächsten Waggon die Menschen stauten.

»Stört es dich, wenn ich mich zu dir setze?«, fragte ich laut gegen den Lärm der Schienen.

»Nein«, rief sie.

Ich legte meinen Rucksack ab und setzte mich ihr gegenüber. Sie war damit beschäftigt, in einem Seitenfach ihrer Reisetasche zu kramen, und ich nutzte die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten. Ein blondes Durcheinander von Haaren umrahmte ein Gesicht, das mich aus irgendeinem Grund an eine Gauklerin denken ließ. Sie strahlte etwas Verschmitztes aus, das mir gefiel. Schließlich fand sie, was sie suchte, nahm eine Bierdose heraus und kippte zischend den Verschluss. Sie trank einen Schluck und spähte über die Dose zu mir herüber. Ihre Augen waren grün wie ein Sumpf oder wie Aventurin.

»Alles voll, was?«, fragte sie.

Ich nickte.

»Wohin fährst du?«

»Frankfurt«, sagte ich.

»Dann hast du ja nicht mehr allzu lange.«

»Ungefähr eine halbe Stunde noch. Und du?«

»Ich fahre noch ewig. Ich bin nach Amsterdam unterwegs. Übers Wochenende.«

»Eine schöne Stadt«, sagte ich.

»Ich glaube nicht, dass ich von der Stadt allzu viel mitbekommen werde«, antwortete sie und schmunzelte.

Es fiel mir schwer, den Blick von ihren Brüsten abzuwenden. Immer, wenn sie von ihrem Bier trank oder in die Luft starrte, was oft vorkam, schwenkten meine Augen wie von selbst dorthin zurück. Das Beben des Zuges verlieh ihnen Leben, rüttelte sie sanft; sie waren rund und prächtig und … Stopp! … Meine Pupillen klebten schon wieder daran fest. Ich sah ihr in die Augen, aber sie tat, als hätte sie nichts bemerkt.

»Du kommst auch aus Wien, oder?«, fragte sie.

»Hört man das?«

»Nicht wirklich … ist mehr eine Ahnung … Was machst du denn in Frankfurt?«, fragte sie, dann runzelte sie die Stirn:

»Wenn ich dir irgendwie zu nahe trete, dann musst du es sagen.«

»Ist schon in Ordnung«, lachte ich, »Ich bin als Reporter unterwegs. Heute Abend ist in Frankfurt eine Kampfsportveranstaltung. Und ich bekomme Kohle dafür, dass ich darüber schreibe.«

»Echt?«, fragte sie und lehnte sich ein Stück vor, »Wie läuft das ab? Ich meine, für wen schreibst du? Für eine Zeitschrift?«

»Direkt für den Veranstalter. Ich schreibe ihm einen Artikel, und er bringt ihn dann in irgendwelchen Magazinen unter. Oder gibt ihn als Presseaussendung heraus.«

»Und damit verdienst du deinen Lebensunterhalt?«

»Nein. Ich mache das nicht allzu oft.«

»Was machst du sonst so? In Wien, wenn du nicht gerade als Reporter herumfährst?«

»Nichts.«

»Was meinst du mit: nichts?«

»Na ja … leben«, sagte ich und lachte.

Sie warf mir einen verwirrten Blick zu. Eine Minute lang saßen wir uns schweigend gegenüber. Zwischen uns tanzten die Stahlschuppen zum Lärm der Schienen. Dann kramte sie in ihrer Reisetasche, brachte ein Magazin zum Vorschein und begann, darin zu lesen. Ich tat es ihr nach, nahm ein Buch aus meinem Rucksack und hielt es mir vor die Nase. Aber ich betrachtete sie noch eine Weile unauffällig über die Seiten hinweg. Irgendwas an ihrem Mund war sonderbar. Vielleicht hatte sie als Kind eine Hasenscharte gehabt, die operiert worden war. Jedenfalls war der linke Mundwinkel stets ein Stück nach oben gezogen. Es sah eigenartig aus.

Nach einiger Zeit begann der Zug zu bremsen. Das Gekreische war hier, in unserem Zwischenstück, beinahe unerträglich. Ich stand auf und schwang mir den Rucksack um die Schulter. Gerade wollte ich mich von dem Mädchen verabschieden, da reichte sie mir einen Zettel. Sie sagte irgendwelche Worte dazu, aber der Lärm war so ohrenbetäubend, dass ich nichts verstand. Ich nickte nur und lächelte sie blöd an. Auf dem Zettel standen ein Name und eine Telefonnummer.

»Danke Iris. Eine gute Fahrt noch«, brüllte ich in das Getöse.

Sie schrie irgendwas zurück.

Kapitel II

Frankfurt empfing mich wie eine bezahlte Hure. Kaum setzte ich einen Fuß auf den Bahnsteig, umtosten mich schnaufende Gestalten, stöhnten Lautsprecherdurchsagen gegen die wartenden Züge, steckten mir die Neonröhren und Anzeigetafeln eine Zunge aus Licht in den Rachen. Für einen Moment war ich so verwirrt, dass ich vergaß, wozu ich eigentlich hier war.

In der Bahnhofshalle fiel es mir wieder ein. Unter einer elektronischen Anzeigetafel stand ein Mann, der ein Kartonschild mit meinem Namen vor seine Brust hielt. Ein Zuchtbulle. Zwischen seinen wulstigen Lippen qualmte eine Zigarette. Misstrauisch beäugte er jedes vorbeikommende Gesicht.

Ich stellte mich vor ihn hin und grinste.

»Kann ich dir helfen?«, fragte er unfreundlich.

»Ich bin der auf dem Schild«, sagte ich.

»Sie sind das?«

»Jepp.«

»Oh, Entschuldigung. Kommen Sie bitte.«

Ich folgte ihm hinaus zu seinem Wagen, einem grünen Kleinbus. Er hatte die Warnblinkanlage an und stand im Parkverbot. Nach einem letzten Zug trat er seine Zigarette aus. Dann stiegen wir ein und fuhren los. Durch das dämmernde Frankfurt.

»Bitte entschuldigen Sie, weil ich Sie nicht gleich erkannt habe. Ich habe Sie mir viel älter vorgestellt«, sagte er, während er den Blinker setzte und am Lenkrad kurbelte, »Sie sehen ziemlich jung aus. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.«

»Ach was. Und sag ruhig Du zu mir.«

Am Rückspiegel baumelte ein Duftbaum. Entspannung stand darauf, aber es roch wie eine Mischung aus Lavendel und Benzin. Ich schraubte das Fenster runter und hängte den Ellbogen raus.

»Ich mag deine Artikel. Die sind ziemlich gut«, sagte er.

»Danke.«

»Steckt wohl viel Arbeit drin, was?«

»Geht so.«

»Es gibt nicht viele Leute, die gut über Kämpfe schreiben können. Aber du schaffst es wirklich, einen dabei sein zu lassen …«

Er ließ sich weiter über meine angeblichen Vorzüge aus. Ich blickte auf zum Himmel; die Wolkenkratzer steckten in einer Decke aus Smog. Um ganz ehrlich zu sein, ich gab keinen müden Furz auf meine Artikel. Ebenso wenig auf die Veranstaltungen, über die ich schrieb. Warum ich es dann machte? Zum einen, weil ich etwas für das Kämpfen übrighatte. Darin ballte sich eine unglaubliche Menge Leben. Da waren Menschen, die alles aufs Spiel setzten, und wenn sie gegeneinander prallten, wurde eine Energie frei, als schösse man Elementarteilchen aufeinander ab.

Vor allem aber war ich als Reporter unterwegs, weil dies die einfachste Möglichkeit war, schnell an viel Geld zu kommen, die ich kannte.

Das konnte ich meinem Fahrer natürlich nicht sagen. Deshalb lächelte und nickte ich zu seiner Schwärmerei, und zwischen seinen Sätzen ließ ich kleine, schillernde Seifenblasen aus meinem Mund steigen. – Ja, ja, es ist schon toll, überall kostenlos reinzukommen, mhm, und immer einen Platz am Ring, ja, und weißt du was, manchmal schleppt man sogar ein Ringmädchen ab, pfff …

Unter einem schwarzen Himmel bogen wir auf den Parkplatz einer großen Halle ab. Unsere Scheinwerfer gruben sich durch einen Wald aus Menschen. Hunderte hatten sich bereits vor den Toren versammelt, standen da mit Pappbechern und Zigaretten und warteten auf Einlass. Wir fuhren an ihnen vorbei, zur Rückseite des Gebäudes. Dort drückte er mir einen Presseausweis in die Hand.

»Hör zu, ich muss noch ein paar Leute abholen. VIPs. Aber du kommst schon zurecht, oder? Mit dem Presseausweis kannst du nach Belieben rein und raus. Und auch backstage. Der Chef hier heißt Knopp. Den erkennst du gleich. Ist der einzige, der im Anzug rumläuft. Rede mit ihm, wenn du irgendwas brauchst. Wir sehen uns später.«

Dann ließ er die Reifen quietschen.

Ich fand mich in einem dunklen Hinterhof wieder. Ringsum linsten Mercedessterne aus dem Schatten. Über einer Stahltür hing eine vergitterte Lampe. Ihr roter Schein glühte auf einem Blechschild: Zugang nur für Mitarbeiter und strahlte schwach auf die umstehenden Mülltonnen. Eine graue Katze streifte zwischen den Tonnen umher. Ich ging in die Knie und lockte sie mit den Fingern. Sie sah mich nur verdutzt an, mit dem roten Glanz in ihren Augen, und lief weg.

Ich machte Ksch, Ksch, als hätte ich sie ohnehin fortjagen wollen, und schmunzelte über die Flausen in meinem Kopf. Dann ging ich auf die Hintertür zu. Ich drückte die Klinke runter, weißes Licht sickerte heraus, und es war, als träte ich durch eine hauchdünne Membran in eine andere Welt über. Plötzlich dröhnte alles vor Getrampel und Hammerschlägen. Ein Mann in Latzhose lief an mir vorbei:

»Wo ist er denn schon wieder? Scheiße, wo ist der Kerl?«

Im Mittelpunkt der Halle stand ein Ring in hellem Licht. Menschen umschwärmten ihn wie Mücken ein Glühbirne, hoben und schraubten und fluchten und kommandierten. Nach allen vier Seiten hin erhoben sich stufenweise Tribünen; die letzten Reihen waren weit oben und verschwammen in der Dunkelheit. Niemand kontrollierte meinen Ausweis; ich nahm den erstbesten Aufgang, stieg die Treppe hinauf und setzte mich in den Schatten der zehnten Reihe. Ich hatte gelernt, dass es besser war, bei den Vorbereitungen nicht im Weg zu sein.

Eine Weile saß ich herum und drehte Däumchen. Bis es irgendwann in meinem Unterleib rumorte. Ich stand auf und spähte nach einer Toilette. Plötzlich waren alle Stimmen verstummt. Die Handwerker rafften ihr Werkzeug und stoben in alle Richtungen davon. Bunte Lichtsäulen flammten auf und kreiselten über Ring und Tribünen. Die Lautsprecher dröhnten. Ich wusste, was das bedeutete und nahm drei Stufen auf einmal, aber ich hatte noch nicht einmal die Hälfte der Treppe geschafft, als die Tore aufschwangen. Eine Menschenwelle brach herein, brandete gegen die Absperrungen, strömte die Tribünen hoch. Ganze Kohorten mit verkniffenen Mienen stürmten die Toiletten.

Ich grub mich durch die Flut aus Körpern, zückte meinen Ausweis und stolperte durch die Absperrung in den Backstagebereich. Sofort war es ruhiger. Ich sah mich nach einer Toilette um. Nirgendwo ein Hinweis. Also tauchte ich auf gut Glück in die Gänge. Als ich an einer offenen Umkleide vorbeikam, sah ich ein Schwergewicht, das sich aufwärmte. Er trug einen Kapuzenpulli, tänzelte und ließ lockere Schläge durch die Luft sausen … Ssstssstssst … Obwohl er sich nach Kräften mühte, sie zu verbergen, konnte ich die Furcht in seinen Augen erkennen – wie ein dunkles Insekt, das hinter den Pupillen saß. Kurz darauf: eine weitere offene Umkleide und ein dunkelhäutiges Mittelgewicht, dem die Fäuste bandagiert wurden. Ihm dampfte die Angst aus allen Poren. Und doch würde er einem eher die Zähne in den Kehlkopf dreschen, bevor er sie eingestanden hätte. Dabei war die Furcht kein Zeichen von Schwäche. Sie allein verlieh der Sache erst ihre Größe, ihre Menschlichkeit. Ohne diesen Abgrund der Angst und ohne den ungeheuren Willen, den jeder Kämpfer braucht, um ihn zu überwinden, hätte das Kämpfen keinen Wert und keinen Sinn. Es wäre blass und tot und langweilig wie eine beliebige Heldengeschichte.

Schließlich fand ich eine leere Kabine. Dann, beim Hinausgehen, wandte ich mich nach links und stieg ziellos eine Treppe hinauf. Ich suchte nach einem ruhigen Plätzchen, wo ich auf den Beginn der Kämpfe warten konnte. Auf der obersten Stufe stand ein Riese in einem schwarzen T-Shirt. Weiße Buchstaben auf seiner Brust verkündeten: Sicherheit. Als ich vorbei wollte, fiel seine Hand wie eine Schranke vor mir runter.

»Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen?«

Ich zeigte ihn vor.

»Danke. Viel Spaß. Und guten Appetit!«

Ich dachte mir nicht viel dabei. Erst ein paar Schritt weiter, als ich im schummrigen Licht weiße Lederbänke ausmachte und ein Kellner Verzeihen Sie sagte und ich beim Ausweichen mit dem Ellbogen gegen eine Champagnerflasche stieß, die aus einem Eiskübel ragte, wurde mir klar, wo ich gelandet war: Ich war in der VIP-Loge. Ich blieb verwirrt stehen. Es irritierte mich, dass ich mit meinem Ausweis Zutritt erhalten hatte. Ich sah zurück zum Riesen, aber der starrte bereits wieder die Treppe hinab und schenkte mir keine Beachtung. Für einen Moment war ich drauf und dran, umzukehren … aber dann erspähte ich das kalte Buffet, und der Sturzbach unter meiner Zunge ertränkte alle Bedenken. Ich straffte meine Haltung und hielt mit der größten Selbstverständlichkeit darauf zu.

 

Ich nahm mir einen Teller und griff mit leuchtenden Augen zu: geräucherte Forellen, gebeizter Lachs in Senfsauce, Garnelen, frisches Brot, Mangostücke, Erdbeeren. Dieser dämmrige Raum war bei anderen Anlässen wohl die Presseloge, denn es gab eine Glasfront, durch die man eine unschlagbare Sicht auf den Ring hatte. Einige Tische waren an der Scheibe aufgereiht. Herausgeputzte Arschlöcher saßen daran und schenkten ihren Weibern Champagner ein; und die Weiber grinsten mit weißen Zähnen, streckten ihr Dekolleté dem Kerzenschein entgegen, staubten mit ihren dünnen Zigaretten in Kristallaschenbecher und neigten lange Gläser an rote Lippen, deren Kosmetika mehr wert waren als alles, was ich am Leibe trug. Sie lachten wie Aufziehpuppen, mit einer erhabenen Gleichgültigkeit; hoheitsvolle Geschöpfe, die aus ihren Türmen herabgestiegen waren, um den wilden Tieren zuzusehen, wie sie sich gegenseitig zerfleischten. Ganz am Rand war noch ein Tisch frei. Ich hörte Gemurmel und spürte entrüstete Blicke, als ich mit meinem Teller darauf zuging.

Ich fühlte mich unwohl. Aber stärker noch als dieses Unwohlsein empfand ich Trotz sowie eine grimmige Entschlossenheit, mir dieses unverhoffte Festmahl schmecken zu lassen. Ich rutschte mit den Knien unter das Tischtuch. Von hier aus konnte ich die gesamte Halle überblicken. In den Rängen wimmelte und brodelte es. In einer halben Stunde würde es losgehen, nicht später.

Ich brach gerade eine Garnele aus der Schale und widerstand der Versuchung, sie über der Kerzenflamme zu rösten; da erklang hinten im Raum eine hektische Stimme.

»Du! Ach, Scheiße, du musst hier stehen, oder?«

»Ähm … pfff … ja?«, stammelte der Riese.

»Ich seh schon. Ich seh schon.«

Schwere Schritte trampelten heran. Plötzlich stand ein dicker Mann in einem schwarzen Anzug neben mir. Alle sichtbaren Körperteile, von der Glatze bis zu den Fingerspitzen, waren mit Schweiß glasiert. Eine feuchtwarme Wolke aus Gestank waberte um ihn herum; Dünste nach feuchten Socken und Zigarrenqualm krochen mir die Kehle hinab.

»Du! Was machst du hier?«, fragte er, völlig außer Atem.

»Was?«

»Was du hier machst?«

»Essen«, gab ich verdutzt zurück.

»Nein, ich meine, wozu bist du hier?«

»Auf dieser Welt?«

»In dieser Halle!«

»Ach so … ich soll hierüber berichten.«

»Ah … du bist der aus Wien, oder? Wie war die Fahrt?«

»Lang. Aber …«

»Sehr schön. Hör zu, hast du noch etwas anderes anzuziehen?«

»Nein. Warum?«

»Der Nebenkampfrichter ist in letzter Minute ausgefallen. Wir brauchen wen, der einspringt. Aber du siehst ziemlich heruntergekommen aus. Dieses abgewetzte Hawaiihemd … und die Hose … hat die da Löcher? Scheiße, nein, das geht nicht.«

»Ich reiße mich auch nicht darum«, sagte ich.

»Scheiße, verfluchte. Was mach ich nur?«, knirschte er, und ohne ein weiteres Wort schnellte er herum und trampelte davon.

Ich steckte mir die Garnele in den Mund. Ein Kellner kam angebuckelt. Er machte den Eindruck, als hätte er bereits ungeduldig im Rücken des Veranstalters gewartet. Nach raschen Einleitungsfloskeln und mehreren Entschuldigungen gab er mir zu verstehen, dass der Tisch, an dem ich saß, reserviert sei. Die Herrschaften müssten jeden Moment eintreffen. Ob ich vielleicht so freundlich wäre …

Ich stand mit dem Teller in der Hand auf. Ob ich mich vielleicht am Tisch geirrt hätte? Wenn ich ihm meine Reservierung zeigte, führte er mich gerne an meinen Tisch! Ach … ich hätte keine Reservierung? Nun, es täte ihm leid, aber es wäre so, dass ein Aufenthalt in der VIP-Zone nur mit gültiger Reservierung möglich sei … also … er griff nach dem Teller, höflich lächelnd. Ich zerrte daran, versuchte, ihn an mich zu nehmen. Er ließ nicht los, lächelte nur verbissen, knurrte:

»Entschuldigen Sie … den Teller müssen Sie hier lassen … jetzt … würden Sie bitte loslassen … was machen Sie denn?«

Ich merkte, wie immer mehr Augen zu uns rübersahen. Aber ich hatte erst eine verfluchte Garnele gegessen, und der Teufel sollte mich holen, ehe ich diese Leckereien einfach so aufgab.

In diesem Moment, als ich mit dem Kellner rang, fiel mir ein Trick ein, um auch den eisernsten Griff zu sprengen. – Man gibt kurz und überraschend nach und zieht dann mit einem festen Ruck wieder an. Aber ich ging zu energisch vor; anstatt nur nachzugeben, stieß ich ihm den Teller gegen die Brust. Die Forelle patschte gegen seine weiße Seidenkrawatte. Er breitete die Hände aus und sah fassungslos an sich runter. Ich wusste sofort, dass ich zu weit gegangen war … aber andererseits hatte er losgelassen; ich wandte mich um und eilte der Treppe zu.

Den Wellenschlag der Empörung ließ ich hinter mir, aber ein scharfer Pfiff holte mich ein, und der Riese vorn an der Treppe drehte den Kopf, sah mich kommen und nahm die Hände aus den Hosentaschen. Das ist Irrsinn, ging es mir durch den Kopf, es geht doch bloß um ein paar Bissen; aber irgendwie war die Sache außer Kontrolle geraten, und nun konnte ich nicht mehr zurück … oder doch? Ich verlangsamte meinen Schritt. Die Gedanken sprühten wie Funken durch mein Hirn. War es wirklich zu spät? Was war denn schon passiert? Die Krawatte, ja, aber sonst? Angenommen, ich …

Ich nahm ein gewöhnliches Schritttempo an und zwang mich zu einem Lachen. Es klang nervös, wie das Bellen einer Hyäne. Ich blickte über die Schulter zurück; der Kellner stand da mit hochrotem Gesicht und rubbelte mit einer Serviette den braunen Saft von seiner Krawatte. Ich rief nach hinten: »Tut mir leid wegen der Krawatte. War keine Absicht.« Dann stellte ich mit einer deutlichen Geste den Teller auf einen Tisch, grinste dem Riesen zu, als ich näher kam, kehrte meine Handflächen nach oben und sagte:

»Alles in Ordnung. Nichts für ungut, Kumpel.«

Unbehelligt huschte ich die Stiegen hinab.

Aber die Erleichterung verging schnell, und schon drei Gänge weiter biss ich mir in den Hintern, weil ich die Leckerbissen zurückgelassen hatte. Essen hatte eine ungeheure Bedeutung für mich. In den Wochen und Monaten davor war ich allzu oft mit leeren Händen dagestanden.

Versunken in diese trüben Erinnerungen bog ich um eine Ecke; da prallte ich plötzlich gegen etwas Weiches. Ich taumelte zurück. Und hatte diesen Gestank in der Nase.

»Du!«, keuchte Knopp, wobei er sich erschöpft gegen die Wand lehnte, »Wozu bist du hier?«

»Auf dieser Welt?«

»Scheiße, dich hab ich schon gefragt, oder?«

»Ja.«

»Und?«

»Was und?«

»Was hast du hier zu tun?«

»Ich bin der Reporter aus Wien.«

»Ah … genau! Und warum kannst du den Kampfrichter nicht machen?«

»Weil ich zu abgefuckt aussehe«, sagte ich.

Ächzend stemmte er sich von der Wand ab. Er schnaufte laut; seine Nasenlöcher blähten sich wie Nüstern. Er musterte mich von oben bis unten.

»Hmm, ja, stimmt. Aber scheiß drauf. Die Leute werden langsam ungeduldig. Was sagst du? Machst du es?«

»Eigentlich habe ich mit der Reportage schon genug um die Ohren.«

»Wie heißt du?«

»Philipp«, seufzte ich.

»Philipp, ich bin Friedrich«, sagte er und streckte mir seine feuchte Hand entgegen. Das machte ihn mir unsympathisch. Ich hasste diese billigen Vertretertricks, die einem Vertrautheit vortäuschen sollen. Ich runzelte die Stirn und ließ seine Hand zwischen uns sterben.

»Hör zu, Philipp, du würdest mir einen riesigen Gefallen tun. Diese beschissenen Handwerker kann man vergessen. Die kennen nicht mal den Unterschied zwischen K.O. und T.K.O. Geschweige denn irgendwas von Submissions. Und meine Leute sind alle verplant. Die kann ich nicht abziehen. Ich weiß nicht, wen ich noch fragen soll. Und ohne Nebenkampfrichter kann die Show nicht losgehen.«

»Zweihundert extra.«

»Was?«

»Zweihundert für den Kampfrichter, Dreihundert für den Reporter. Also Fünfhundert insgesamt. Dann mach ich’s.«

»Scheiße … Fünfhundert? Sagen wir Vierhun…«

»Dann vergiss es.«

»Scheiße, o.k.! Fünfhundert!«, röchelte er, holte ein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

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