Einmal Kuba und zurück

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Einmal Kuba und zurück
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Inhalt

Impressum 2

Kapitel 1 3

Kapitel 2 30

Kapitel 3 54

Kapitel 4 152

Kapitel 4.1 249

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-728-2

ISBN e-book: 978-3-99107-729-9

Lektorat: Mag. Elisabeth Pfurtscheller

Umschlagfoto: Ekaterina Burtseva, Julian Peters | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Kapitel 1

Es ist fünf Uhr morgens, heute ist mein erster Tag der Ausbildung, mir graut vor diesem Neuanfang, aber er bringt mich wenigstens meinem Erwachsendasein etwas näher. Ich bin ja kein Frühaufsteher, aber so ist nun mal der Lauf des Lebens eines anständigen Mädchens. So zumindest wollen das meine Eltern, dass sie sagen können, ihre Tochter ist gut erzogen und hat die Schulausbildung erfolgreich beendet. Meine Mutter ist auch schon auf und kocht gerade Tee. Ich öffne die Augen und blicke in die von Neonlicht hell erleuchtete Küche, das Radio brummelt leise vor sich hin und berichtet gerade über das heutige Regenwetter an diesem Tag, dem 1. September des Jahres 1979, und da höre ich auch schon die Stimme meiner Mutter, die mich wieder ermahnt, damit ich meine Geschwindigkeit steigere, da wir auch denselben Arbeitsweg zur selben Zeit haben. „Petra, beeil dich, geh ins Bad, bevor dein Vater aufsteht! Am ersten Tag und dann gleich zu spät kommen …“ „Ja, ich geh ja schon!“

Diese Ausbildung war nicht mein Traumberuf, zu gerne wäre ich Stewardess geworden. Doch eine Ausbildung als Stewardess bekam man in der DDR nur mit guten Beziehungen zu denen, die was zu sagen hatten und mit einer absoluten sauberen Weste. Ich hatte weder gute Kontakte noch eine saubere Weste. Mein Vater ist in der BRD, in Frankfurt am Main geboren und aufgewachsen und er war Leistungsturner. Als er sich im Jahre 1956 bei einem Turn- und Sportfest in meine Mutter aus Leipzig verliebte und sie dann auch heirateten, errichtete man eine Mauer. Die Liebe ließ ihn dann auf der eingemauerten Seite verbleiben und somit war er ein Bürger der DDR. Für ihn gab es kein Zurück mehr in seine Heimat, nicht einmal einen Blick über die Mauer konnte er werfen. Seine Familie war natürlich weiterhin in Frankfurt am Main und somit war er ein Staatsfeind und vielleicht würde er ja mit seiner jetzigen Familie – meine Mutter, meine Schwester Maria und mir – die Seiten wechseln wollen, das jedenfalls wurde ihm stets unterstellt und die Schnüffler taten ihr Übriges, um die ganze Familie im Zaume zu halten. Da war es natürlich ausgeschlossen, dass ich eine Ausbildung zur Stewardess machen konnte. Die Tochter des Staatsfeindes über den Wolken mit unvermeidbaren Zwischenlandungen im westdeutschen Ausland. Ja, ich hätte mich abgesetzt, schließlich kannte ich die Familie meines Vaters und die waren so unglaublich lieb, ich hätte es da überhaupt nicht schwergehabt, irgendwie Fuß zu fassen. Aber dennoch, ich hatte das zum Zeitpunkt des Berufswunsches nicht vor. Ich liebte ja meine Heimat trotz aller Umstände. Ich wollte nur die Welt sehen, warme Länder, kalte Länder, über den Wolken sein, den Duft der Fremde schnuppern, im Flugzeug mal im Cockpit sitzen und Fremdsprachen lernen. Nun, es kam anders und ich begann eine Ausbildung bei der Post.

Mein erster Tag war gar nicht so schlimm, viel musste ich nicht machen, wie das eben so üblich ist am ersten Tag. Nur so organisatorisches Zeug, was man so alles braucht in der nächsten Zeit und so. Ich hatte mich auch gleich mit den neuen Mädchen angefreundet. Dabei hatte ich nie Probleme. Ich war sehr kontaktfreudig und es waren wirklich einige sympathische Mädels dabei.

Geschafft, die erste Woche war rum: endlich Wochenende. Anna, meine Freundin, kam vorbei und wir verabredeten uns für den Abend zur Disco. Meine Eltern mochten sie nicht, weil sie schon 19 Jahre alt war und auch schon ihr eigenes Leben führte. „Hey Petra, kennst du die neue Disco im nächsten Stadtteil? Ich war letzte Woche dort, die Musik ist sehr gut und samstags geht es bis 00:30 Uhr und tolle Jungs gibt es da auch noch.“ „Nein, kenne ich nicht, aber ich werde sie heute kennenlernen. Wann wollen wir los? Oje, was soll ich anziehen? Ach ja, ich weiß, meine neue rote Hose, nur was dazu? Ich will nicht aussehen wie eine 14-Jährige, sonst muss ich wieder meinen Ausweis zeigen.“ „Kein Problem, komm vorher zu mir, ich leih dir meine schwarze Bluse, die macht was her und schminken kannst du dich auch bei mir.“ „Okay, also bis dann, bin um sieben bei dir.“ Was für eine Freude, der Abend war gerettet! Jetzt noch meine Eltern fragen. „Ach, wäre ich doch schon 18 Jahre, da müsste ich nicht fragen und große Erklärungen abgeben und ich müsste auch keine sekundengenaue Zeit über meine Rückkehr angeben, die ich dann ohnehin nicht einhalte. Egal, dann bekomme ich eben meine Bestrafung von meinem Vater und muss wieder viel Prügel einstecken, Hauptsache der Abend war gut.“

Zum ersten Mal war ich in so einer Diskothek in welcher die Lichter nicht schon 21:00 Uhr ausgingen, nein, besser gesagt, angingen. Die Musik war wirklich sehr gut. Es liefen die Smokies, die Rubettes, Suzi Quatro, Santana – endlich konnten wir mal zu unserer Lieblingsmusik tanzen, die wir sonst nur heimlich auf Radio Luxemburg hörten. Anna und ich waren ein sehr gutes Team beim Tanzen, sie übernahm immer die Führung und auf diese konnte ich mich wirklich verlassen. Da wir dabei stets viel Platz brauchten, wir tanzten Foxtrott, was der Hit war, zogen wir auch die ungeteilte Aufmerksam auf uns. Ohne dass ich damals wusste, sollte dieser Abend über mein weiteres Leben entscheiden. Es waren unerwartet viele Leute da. Was jedoch sehr ungewöhnlich war, war, dass sehr viele junge Kubaner da waren. Sie sahen wirklich gut aus, so knackig, so rassig und die braunen Augen und was für schöne und dunkle Haare sie hatten. Sie hatten einen Blick, der alles zum Schmelzen brachte, zum Verlieben. Sie sahen aus, als hätten sie auch gleich die Sonne Kubas mitgebracht: voller Fröhlichkeit mit einem strahlenden Lächeln. Die pure unbeschwerte Lebensfreude voll Temperament und Rhythmus. Sie waren irgendwie ständig in Bewegung zur Musik – egal ob sie saßen oder standen. Schnell nahmen wir den Blickkontakt auf und mein Blick blieb bei ihm hängen. Ich konnte gar nicht mehr wegschauen, diese schöne braune Haut und die dunklen Locken. Seine Ausstrahlung faszinierte mich wie Magie. Viel Zeit ließ er nicht verstreichen. Er kam direkt auf mich zu.

„Hallo, schöne Tänzerin, ich bin Raul, tanzen wir den nächsten Tanz zusammen?“ Wie er das sagte mit seinem Akzent, das klang so hinreißend und diese Augen, sein strahlendes Lächeln mit seinen wunderschönen Zähnen, die aussahen wie Südseeperlen, schon da war es um mich geschehen. „Ja, gern und ich heiße Petra“, sagte ich schüchtern. Es war natürlich äußerst schwierig, bei der diskoüblich lauten Musik eine Unterhaltung während des Tanzens zu führen, aber dafür konnten wir uns riechen und anfühlen – und das war ohnehin mehr als jedes gesprochene Wort. Er fühlte sich so männlich an. Auf die Musik konnte ich gar nicht mehr hören, so sehr war ich in Gedanken. Ein richtiger Mann, der so viel Wärme ausstrahlte und mich regelrecht dazu einlud, ihn sofort zu küssen. Wenn ich auch ansonsten ein ziemlich loses Mundwerk hatte, aber in Sachen Jungs war ich schüchtern und unerfahren. Wir verbrachten den Abend nun gemeinsam und wenn wir nicht gerade tanzten, gesellten wir uns zu seinen Landsleuten, wo wir zusammen Havanna Club mit Cola tranken. Es stellte sich heraus, dass er mit seinen Kollegen seit drei Monaten in der DDR ist, um eine vierjährige Ausbildung zum Mechaniker zu machen. In Kuba wurde dieser Beruf sehr gebraucht, es gab jedoch dafür keine Ausbildungsmöglichkeiten und die DDR hatte ein Abkommen mit Cuba, das erlaubte, sie in unseren einheimischen Unternehmen auszubilden.

Der Abend neigte sich dem Ende zu und unsere Wege mussten sich vorerst wieder trennen. Wir standen bereits draußen. Er küsste mich nun das erste Mal zum Abschied. Warme, weiche Lippen ruhten auf meinen und es dauerte eine Ewigkeit. Dieser Kuss sollte doch nie enden. Meine Güte war das toll und dieser angenehme Geruch, diese Wärme, ich hätte ihn am liebsten nie mehr losgelassen. „Wo wohnst du?“, fragte er. Da ja kaum jemand Telefon in der DDR hatte, gab ich ihm meine Adresse und sagte. „Besser wir treffen uns wo anders, da ich sonst ganz sicher mit meinen Eltern Ärger bekomme, wo wohnst du denn?“ Er gab mir seine Adresse, er wohnte in einem Wohnheim zusammen mit seinen Kollegen. „Kann ich dich morgen treffen?“ „Ja, gern“, sagte ich und wir verabredeten einen Treffpunkt für den nächsten Nachmittag. Es war schon sehr spät bereits ein Uhr, viel zu spät und der Ärger mit meinem Vater war mir jetzt schon sicher. Aber das war nun auch nicht mehr zu ändern, in meinem Kopf war jetzt nur Raul und dafür nahm ich den Ärger gerne Kauf. „Komm Petra wir müssen uns beeilen, sonst verpassen wir die letzte Straßenbahn und die nächste fährt erst vier Uhr morgens!“ Wir hatten Glück, aber dennoch lag noch eine halbe Stunde Fahrweg vor uns.

 

„Und“, sagte Anna, „habt ihr euch verabredet? Ich hoffe doch, dass du ihm nicht einen Korb gegeben hast.“ „Ja, haben wir. Wir treffen uns morgen, aber ich weiß noch nicht,wie ich morgen von zu Hause wegkommen soll, da ich heute Nacht sowieso für die nächsten drei Wochen Hausarrest bekomme. Aber irgendwas wird mir schon einfallen und wenn ich abhaue. Ich will Raul unbedingt wiedersehen und wenn ich morgen nicht zum Treffen komme, denkt er doch sicher, dass ich gar kein Treffen möchte und ich hätte das nur so gesagt.“ Plötzlich machte sich in mir Panik breit. Ich war sicher, das, was ich gerade ausgesprochen hatte, würde ganz bestimmt so eintreffen. Dazu kannte ich meinen Vater zu gut. Am liebsten wäre ich gar nicht mehr heimgegangen, um dann am nächsten Tag auch ganz sicher zu unserer Verabredung gehen zu können. Ich musste Raul unbedingt wiedersehen. „Du wirst dir das doch nicht gefallen lassen, du bist bald 17 Jahre und hast bereits eine Berufsausbildung angefangen, da stehst du doch quasi schon auf eigenen Beinen!“ „Du kennst ja meinen Vater, er verbietet mir doch einfach alles und heute Abend konnte ich auch nur weg, weil ich gesagt habe, die Disco sei um 21 Uhr zu Ende und anschließend komme ich gleich heim. Wenn er wüsste, wo die Disco ist, wäre er doch schon längstens gekommen und hätte mich da rausgeprügelt.“ Meine Gedanken kreisten nun leider nur noch darum, die Realität hatte mich schnell wieder eingeholt. Für mich war klar, es wird das erste und auch das letzte Mal gewesen sein, dass ich in einer Disco war, die länger als bis 21 Uhr geöffnet hat. Mein Vater hatte mir beigebracht, meinen Kopf gesenkt zu halten und gehorsam zu sein, anderenfalls wurde ich bestraft. Erreicht hatte er damit, dass ich rebellisch wurde und im Außen nicht den Kopf gesenkt halten wollte. Ich musste so schnell wie möglich 18 Jahre werden, dann war ich volljährig und konnte machen, was ich wollte. Meine Schwester Maria war bereits in diesem Jahr 18 geworden und einen Monat später hatte sie ihren langjährigen Freund geheiratet und war zu Hause ausgezogen. Ich beneidete sie so sehr darum. Sie wohnte zwei Minuten zu Fuß von uns und ich war sehr oft bei ihr. Das war jedes Mal ein gutes, wenn auch kurzes, Freiheitsgefühl. Wenn ich bei ihr war, ließen mich meine Eltern in Ruhe, weil sie meiner großen Schwester vertrauten. Ich rauchte dann heimlich bei ihr, denn auch das durfte ich natürlich nicht, wir tranken süßen Rotwein dazu und anschließend putzte ich gründlichst die Zähne und ging wieder heim.

„Ich wünsch dir viel Glück und lass dir nicht alles gefallen, sieh einfach zu, dass du deinen Traumprinzen morgen triffst, du musst mir dann unbedingt auch erzählen, wie es war.“ Sie stieg aus und ich musste noch zwei Stationen weiterfahren. Ich wollte nur zu gern die Gedanken verdrängen und versuchte ständig, mir das Bild von Raul ins Gedächtnis zu holen, um das gute Gefühl noch mal zu spüren. Es war ein Auf und Ab in meinem Kopf. Könnte ich doch einfach nur ganz normal mit meinen Eltern reden und ihnen einfach erzählen, wo ich war und was ich erlebte. Nur allzu sehr wünschte ich mir das Verständnis von ihnen und alles wäre viel einfacher und harmonischer und ich hätte so auch nie das Gefühl gehabt, nur endlich von zu Hause zu fliehen, einfach weg – und zwar für immer. Ständig diese Bevormundung, diese sinnlosen Auseinandersetzungen, dieses Misstrauen. Aber wie sollte das auch gehen, wenn doch meine Eltern auch miteinander so umgingen: Ständig stritten sie sich und brüllten sich hässliche Dinge an den Kopf, bis dann mein Vater zu guter Letzt auf meine Mutter einprügelte. Mein ganzes bisheriges Leben mussten wir, meine Schwester und ich, das mit ansehen. Eines wusste ich ganz sicher, wenn ich selbst Kinder hätte, würde ich niemals so zu ihnen sein. Zu Hause angekommen, steckte der Schlüssel von innen in der Wohnungstür, damit mein Vater auch wirklich wach werden musste, wenn ich nach Hause. „Wo kommst du denn so spät her? Von wegen 21 Uhr zu Ende, wo warst du? Das hat Konsequenzen.“ Während er brüllte kamen auch die Schläge. Ich dachte nur, wenn Raul das jetzt wüsste, er wäre sicher entsetzt. Ich hoffte nur, es lohnt, sich das jetzt einzustecken. „Geraucht hast du auch.“ Und auch dafür schon wieder Schläge „Ich will wissen, wo du warst, wo hast du dich rumgetrieben, du Schlampe?“ Ich und eine Schlampe, wo ich doch wirklich anständig war, wäre ich doch nur nicht nach Hause gekommen. Wenn er schon denkt, dass ich eine Schlampe bin, dann sollte ich doch wenigstens meinem Ruf gerecht werden. Am liebsten hätte ich ihm das an den Kopf geworfen, aber das hätte ich wahrscheinlich nicht überlebt. „Ich war bei Anna und wir haben Monopoly gespielt und ich habe vergessen, auf die Uhr zu schauen“, log ich. „Lüg’ mich nicht an, von wegen vergessen, auf die Uhr zu schauen, und außerdem habe ich dir den Umgang mit ihr verboten. Die nächsten drei Wochen hast du Hausarrest, dass das klar ist.“ Ich war kurz vor einem Anfall vor Entsetzen. „Das ist Freiheitsberaubung“, schrie ich ihn an. „Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst, wird gemacht, was ich sage.“ Das war sein Lieblingsspruch, dabei wollte ich ja gar nicht meine Füße unter seinen Tisch stellen, ich war ja regerecht dazu gezwungen und das schon seit 16 Jahren, was blieb mir denn anderes übrig. Dann durfte ich abtreten und so ging ich ins Bett. Das Gebrüll, die Prügel lagen nun erst mal hinter mir – das war nun erledigt. Mit der Zeit gewöhnte ich mich auch daran. Immer wieder dachte ich, wie sehr ich doch meine Freundinnen um ihre verständnisvollen Eltern beneidete und dass diese nicht so einer Härte ausgesetzt waren. Sie konnten zu Hause mit ihren Eltern über fast alles reden. Meine Mutter hatte leider auf die Erziehungsmaßnahmen meines Vaters keinen Einfluss und was er einmal aussprach, wurde konsequent durchgezogen. Am nächsten Tag war die übliche Hausarbeit angesagt, na ja an diesem Tag im übertriebenen Maße, da hatte sich mein Vater immer was sehr Zeitintensives ausgedacht, damit ich auch wirklich bereute. Ich bereute aber gar nichts, im Gegenteil. Hausarbeit machte mir nichts aus und außerdem dachte ich nur an Raul. Nur dass mir in keinster Weise einfiel, wie ich denn nun aus dem Hause käme. Ich erfand, dass ich noch zu meiner Freundin müsste, konnte aber keinen glaubwürdigen Grund dafür liefern. Zu meiner Schwester durfte ich auch nicht. Es hieß: „Nein!“. Jeder Versuch war zwecklos. Ich konnte nicht raus und traute mich auch nicht, einfach abzuhauen, ich hatte den Mut nicht und wie hätte ich es auch machen sollen, ich wollte so schnell nicht wieder eine Tracht Prügel einstecken. Es ging einfach nicht. Raul stand jetzt sicher an unserem vereinbarten Treffpunkt und ich saß in meinem Zimmer. Es war zum Verzweifeln. Nur allein der Gedanke daran machte mich fast wahnsinnig. Endlich hatte ich mal eine Gelegenheit, einen Jungen kennenzulernen, und schon sollte ich ihn wieder loswerden. Das war es nun, den werde ich wohl nie wiedersehen. Ganze drei Wochen vergingen und ich durfte absolut keinen Schritt vor die Tür setzen. Nur zur Arbeit oder Berufsschule und auch danach musste ich sofort nach Hause. Alle meine Zeiten waren meinem Vater bekannt. Am wohlsten fühlte ich mich immer, wenn ich in der Arbeit oder in der Schule war. Es gab bei uns nur zwei Jungs in der Klasse, der Rest waren alles Mädchen. Meine Freundin Adele und ich standen uns schnell sehr nahe. Sie hatte sehr liebe Eltern und auch schon einen Freund, mit dem sie in ihrem Elternhaus ein und aus gehen konnte. Ich beneidete sie darum, wir verbrachten viel Zeit miteinander. Das war für mich ein willkommener Ausgleich. Anna konnte ich in den drei Wochen auch nicht treffen. Ich rief sie ab und zu von meiner Arbeitsstelle aus an, da gab es wenigstens ein Telefon, um ihr auch zu berichten, was geschehen war, und von ihr zu erfahren, was es sonst in der Außenwelt Neues gab.

„Ich war am Samstag wieder in der Diskothek und ich habe Raul gesehen. Ich habe ihm gesagt, dass dein Vater dich nicht gehen lassen hat, aber er sah nicht so aus als hätte er mir das geglaubt. Schau mal, er ist 22 Jahre, da kommt doch keiner auf die Idee, dass das so ist und vielleicht ist so was in Kuba auch überhaupt nicht üblich.“ Genervt antwortete ich: „Das verstehe ich nicht, wieso sollte ich das denn erfinden, so ein Blödsinn. Warum hast du ihm denn nicht mal gesagt, wo ich arbeite, dann hätte er vielleicht mal dahinkommen können.“ Ich war fassungslos, aber es kam noch schlimmer. „Ich konnte mich gar nicht groß mit ihm unterhalten.“ Wieso denn nicht, das ist doch wohl kein Problem, mal drei vier Sätze mit jemanden zu wechseln.“ „Petra, es sind zwei Wochen vergangen und er hat nichts mehr von dir gehört, er hatte eine andere bei sich, was hätte ich denn tun sollen?“ „Was, eine andere, das glaube ich nicht, ich drehe ihr den Hals um, ich muss unbedingt wieder dorthin, das will ich sehen und dann werden wir ja mal sehen, wer dann neben ihm sitzt. Die andere auf keinen Fall.“ Ich war kurz davor, zu platzen. „Sie sah aber wirklich nicht so aus, als würde man Lust verspüren, sich mit ihr anzulegen. Sie ist sicher auch älter als du und somit ist es für ihn wieder einfacher.“ Ich wurde immer kleinlauter, was sollte ich machen, einfach hingehen, sie packen und dann sagen: Mach Platz den habe ich zuerst kennengelernt? Das gibt’s nur im Film und was sollte dann Raul von mir denken. Irgendwie war ich trotzdem auch sauer auf ihn, aber er konnte ja nichts dafür, schließlich war er ja zu unserer Verabredung gekommen. „Anna, egal wie, aber am Samstag gehen wir wieder zusammen hin.“ „Ja okay, wir treffen uns am besten bei mir, sei 19 Uhr da und jetzt beruhige dich erst mal, aber mach dir nicht zu viel Hoffnung.“ Gut, dann bis Samstag 19 Uhr bei dir.“ Der Tag war für mich gelaufen, ich war traurig und gleichzeitig so wütend auf meinen Vater, dem ich das jetzt zu verdanken hatte. Mir reichte es, ich wollte mir das nicht mehr länger gefallen lassen und mir auch nichts mehr verbieten lassen. Ich war doch kein kleines Kind mehr. Ich würde Samstag gehen. Der Samstag rückte näher und auch ich sollte mal etwas Glück haben. Mein Vater war nicht da, heute war sein Skatabend. Mit meiner Mutter hatte ich kein Problem, sie war nicht so streng, allerdings wollte ich auch ihr nicht sagen, wohin ich wollte, denn sonst hätte es mein Vater aus ihr herausgeprügelt. Um 19 Uhr war ich bei Anna, wir machten uns zusammen fertig, Haare und schminken, und dann zogen wir los. Meine Aufregung stieg mit jeder Minute. „Hoffentlich ist er auch da, ich bin so gespannt.“ „Klar ist er da, das war er ja in den letzten Wochen auch.“ Wir hatten Mühe, überhaupt reinzukommen, da auch diesmal wieder viele Leute da waren. Am Eingang blieb ich erst mal stehen, meine Augen kreisten durch den ganzen Saal. „Siehst du ihn?“ „Nein, ich sehe ihn nicht, verdammt ich habe es doch geahnt, ausgerechnet heute ist er nicht da.“ „Mensch, Petra, es ist doch noch früh, er kann ja immer noch kommen und sollte er doch nicht kommen, dann wirst du uns hoffentlich nicht den ganzen Abend versauen, ich will Spaß haben auch ohne ihn, da musst du eben durch.“ „Ja doch, ich habe mich schließlich nicht umsonst so aufgebrezelt.“ Aber im Innersten dachte ich etwas anderes, ich hatte mich nur aus einem einzigen Grund so aufgebrezelt. Ich hatte meine schulterlangen braunen Haare offen, sie fielen alle in einer Länge und meine blauen Augen strahlten nur so, da ich ordentlich Wimperntusche, die wir üblicherweise mit schwarzer Schuhcreme gestreckt hatten, auf meine langen Wimpern aufgetragen hatte. Meine Augen habe ich meinem Vater zu verdanken und auch meine dunkelbraunen Haare. Tja, wenigstens etwas Positives von ihm. Aber schlussendlich wollte ich auch etwas älter als 16 Jahre aussehen, was aufgrund meiner eher mageren Figur nicht einfach war. Die Musik war gut und wir tanzten auch schon eine Weile – von Raul jedoch immer noch keine Spur. Ich war in schlechter Stimmung, versuchte aber, es mir nicht anmerken zu lassen. Ich sah auch einige Kubaner, aber Raul war nicht dabei. So ein Mist, ich konnte doch unmöglich die anderen nach ihm fragen, das war mir unangenehm. Ich hoffte aber immer noch, dass er noch käme, außerdem war es ziemlich dunkel und vielleicht hatte ich ihn ja nur noch nicht entdeckt. Das war es, genau. „Komm, wir schauen uns mal bisschen um, wir wollen ja auch schließlich gesehen werden.“ „Da ist sie.“ „Wer?“ „Na die andere, und wenn die da ist, dann ist Raul sicher auch nicht weit.“ „Was, wo?“ „Da hinten an dem großen Tisch.“ Bevor Anna weitersprach, sah ich auch schon Raul gerade an den Tisch herankommen, um sich zu setzen. „Oje, hast du es auch gerade gesehen?“ „Ja, verdammt, diese blöde Kuh und wie sie aussieht, wie ein Mann. Ich denke, ich sehe tausendmal besser aus, was will er denn mit so einer, na gut umso besser für mich, aber was machen wir jetzt?“ „Wir gehen jetzt einfach hin oder nur vorbei, damit er dich sieht.“ „Nein um Himmels willen, das ist ja peinlich.“ „Was willst du denn sonst machen, willst du warten, bis sie ihn wieder vereinnahmt?“ „Na gut, oje mein Herz rast, ich kann das nicht.“ „Komm jetzt, Weib, hab dich nicht so, willst du ihn nun oder nicht?“ Auf ging’s, meine Hände waren auf einmal ganz kalt, als wir uns näherten. Ich schaute immer zu ihm, um wenigstens seinen Blick zu erhaschen, bevor wir direkt vor ihm standen. Es gelang mir zwar, aber sein Blick war alles andere als lieblich und erfreut. Wahrscheinlich hatte er mich schon vergessen und abgeschrieben. Er schaute total kalt und ich las darin etwas wie: Zu spät, Kleine, geh besser nur vorbei und was willst du hier – oder etwas Ähnliches. Viel Zeit, um noch was anderes zu denken, blieb mir nicht mehr, denn wir standen nun direkt an seinem Tisch. Anna lief zum Glück vor mir und aufgeweckt, wie sie war, sagte sie: „Hallo zusammen! Hey Raul, du bist ja auch da, wir dachten schon, du kommst heute gar nicht mehr.“ Wenn Blicke jetzt töten könnten, dann wäre Anna jetzt tot, so und noch viel böser schaute die andere sie nun an und gleichzeitig auch mich. Zu unserer Überraschung sagte Raul: „Setzt euch doch!“ Von einer Sekunde auf die nächste war ich völlig eingeschüchtert, brachte kein einziges Wort heraus, nicht einmal ein Hallo konnte ich sagen. Nachdem wir uns eine Ewigkeit anschwiegen, stellten wir uns vor und so erfuhren wir, dass die andere Ella hieß. Was fand er denn nur an ihr? Vielleicht lief da ja doch nichts, ich konnte mir das einfach nicht vorstellen, sie saß ihm auch nur gegenüber und wie zwei frisch Verliebte wirkten sie gar nicht. Das ließ wieder neue Hoffnung in mir aufsteigen. Wenn das so war, dann konnte ich es ja auf jeden Fall mal drauf ankommen lassen. Ella kapierte aber dennoch sofort, dass da etwas im Busch war, ständig hatte sie mich im Visier. Raul zeigte sich ihr gegenüber aber ziemlich gleichgültig. Wenn er das mit mir dann vielleicht auch so machen würde? „Ach was“, sagte ich mir, „bei mir ist es nicht so.“ Anna und ich tanzten schon wieder eine Weile, sie fasste sich ein Herz und holte schließlich Raul vom Tisch weg und brachte ihn zu mir zum Tanzen, wo wir uns auch endlich wieder näherkommen konnten. Ich war so glücklich, seine Nähe genießen zu können, die Zeit hätte stehen bleiben sollen. Seine rhythmische Art, zu tanzen, so rassig, so beweglich und doch anschmiegsam, war mir etwas außergewöhnliches Neues und doch konnte ich mich problemlos seinem Rhythmus anpassen. „Wieso bist du nicht zu unserer Verabredung gekommen? Ich habe eine Stunde auf dich gewartet!“ Mit seinem Akzent klang das so süß und überhaupt nicht vorwurfsvoll. Während er das sagte, stellte ich mir vor,wie er dort stand und vergeblich auf mich wartete. Er war sicher so enttäuscht. „Hast wohl einen anderen?“ Ich wusste nicht, ob das nun ein Scherz sein sollte oder ob er das tatsächlich dachte. „Anna hat dir doch erzählt, dass ich Hausarrest bekam und meine Eltern mich nicht mehr weggelassen haben. Glaub mir, ich wäre so gerne gekommen. Ich wollte dich unbedingt wiedersehen und deshalb bin ich auch heute gekommen.“ Er gab mir einen Kuss auf die Wange und ich nutzte die Gelegenheit und blieb nun, während wir tanzten ununterbrochen mit meiner Wange an seinen Lippen. Es war himmlisch, so sanft, weich, warm und gut duftend. „Jetzt habe ich ihn und lass ihn nicht mehr los. Scheiß auf Ella, er wird das schon regeln, er muss.“ Wir gingen wieder an den Tisch zurück, Anna zwinkerte mir strahlend zu, sie hatte es geschafft, Ella in die Flucht zu jagen. Wie hatte sie das nur wieder gemacht? „Wo ist denn Ella?“, flüsterte ich ihr zu. „Die habe ich davongejagt.“ „Wie ist dir denn das gelungen?“ „Kennst mich ja, ich habe ihr gesagt, dass du schon lange mit Raul zusammen bist und sie sich da lieber keine Hoffnung machen soll, denn du gibst ihm so schnell nicht den Laufpass.“ „Und das hat sie dir abgenommen?.“ „Nicht sofort, aber auch ich kann Angst einflößend gucken. Es war einfach köstlich.“ Ich fühlte mich sehr wohl, was auch daran lag, dass Anna bei mir in der Nähe blieb, denn ich wollte auf keinem Fall an diesem Abend noch einmal Ella begegnen. Die Zeit verging viel zu schnell, wir lachten, tanzten und tranken zusammen und auch Anna hatte sich inzwischen einem kubanischen Flirt hingegeben. Er hieß Fidel und war ein gutaussehender großer Mann, seine Hautfarbe war milchkaffeebraun und wenn er lachte, strahlte aus ihm die pure Sonnenenergie. Anna war ihm bereits ergeben. Ich beobachtete sie schon eine Weile, sie sah sehr gut aus. Sie hatte schulterlange, rotbraune Naturlocken und kämmte sie stets leicht mit etwas Gel allesamt glatt nach hinten aus ihrem Gesicht. Sie selbst mochte ihre Locken nicht, ich hingegen fand sie wunderschön. Da sie über sehr weibliche Rundungen verfügte, fand sie, dass ihre Locken dies nur noch unterstreichen würden. Ihr Lippenstift war nun mehr auf Fidels Lippen als auf ihren eigenen. „Du hast es gut“, sagte ich zu ihr. „Du wirst sicher mit ihm die Nacht verbringen.“ „Ja, das werde ich, so gesehen hat die Aktion mit Raul auch für mich etwas Nützliches gehabt. Wir sind uns in den letzten Wochen schon nähergekommen und heute lasse ich nichts mehr anbrennen“, sagte sie schmunzelnd. „Du wirst Raul doch sicher heute Abend auch begleiten, so oder so bekommst du Ärger zu Hause, also was soll’s, wenn schon Ärger,dann sollte sich es doch auch lohnen und denk dran, garantieren kann ich dir nicht, dass Ella beim nächsten Mal wieder aufkreuzt, nimm ihn dir!“ Der letzte Tanz wurde angekündigt und das war wie immer ein langsamer Song. Ich nahm Raul bei der Hand und wir tanzten diesen letzten Song eng zusammen. Ich wollte einfach nicht, dass der Tanz zu Ende geht. Würde er mich fragen, ob wir noch zusammen etwas trinken oder zu ihm nach Hause gehen? Wenn nicht, was sollte ich tun, auf eine neue Verabredung ließ er sich bestimmt nicht ein. Warum fragt er mich denn nicht? Er schwieg, da er spürbar und sichtlich mit geschlossenen Augen das Tanzen mit mir genoss, sagte ich auch nichts. Das verdammte grelle Licht ging nun an, wie unsensibel, jedes Mal zum Ende eines Abends gingen immer diese blöden Kronleuchter an. Die Musik war auch schon zu Ende und wir standen immer noch auf der Tanzfläche. Schweigend gingen wir zum Tisch und gemeinsam mit Anna und Fidel zum Ausgang. Draußen angelangt, knutschten wir wieder. „Wir gehen jetzt, kommt ihr auch mit?“ „Wohin geht ihr denn?“ „Jetzt frag’ doch nicht so naiv.“ Ich wusste es ja, aber irgendwas musste ich ja antworten. Fidel sprach einige Worte in Spanisch zu Raul. Er schaute mich an und sagte: „Kommst du mit?“ „Ja, aber, wohin?“, fragte ich schüchtern. „Na, nach Hause zu uns, komm bitte mit.“ Wie er das sagte, mit diesem Blick aus seinen braunen Kullerlaugen. Anna rief jetzt: „Los, überleg nicht zu lange, vergiss jetzt deine Eltern und denk an den schönen Abend, der dir noch bevorsteht. Wir nehmen ein Taxi zusammen.“ Raul sah mich an, nahm meine Hand und nun konnte ich ihm nicht mehr widerstehen. Ich wollte es ja auch so und war froh darüber, dass Anna die Sache in die Hand genommen hatte. In ihrer Gesellschaft fühlte ich mich immer so beschützt. Sie lief mit Fidel vor uns und kicherte, sie sah so sexy aus, ihr Hintern schaukelte so weiblich und selbstbewusst. Schon im Taxi, als Raul und ich zusammen auf dem Rücksitz saßen, konnten wir gar nicht mehr voneinander loslassen. So unendlich wohl hatte ich mich noch nie gefühlt, völlig frei und kein einziger Gedanke an die Folgen zu Hause. Als das Taxi anhielt, standen wir vor einem Häuserblock, wo anscheinend noch niemand schlief, in fast jedem Fenster sah man Licht und lärmende Stimmen und Musik drang aus ihnen. „Wo sind wir denn hier gelandet?“, sagte Anna „Die scheinen sich gewaltig zu streiten.“ Ich war so erschrocken und mit einem Schlag kam in mir die Ernüchterung. „Um Himmels willen, was ist denn hier los, wo sind wir? Hier steige ich nicht aus, Anna, ich habe Angst. Noch können wir zurück.“ Ich merkte, dass auch Anna ihr Unbehagen nicht unterdrücken konnte, was mich nur noch unsicherer machte. Sie war doch von uns die Starke und Mutige. Der Taxifahrer sagte: „Das ist immer so hier und scheint ganz normal zu sein.“ Unsere Ankunft, unsere Gedanken und kurzer Wortwechsel spielten sich alle innerhalb von Sekunden ab. Währenddessen ließ ich Raul völlig außer Acht und erst recht nicht zu Wort kommen. Jetzt endlich sagte er: „Was ist mit dir, wieso hast du jetzt Angst vor mir, was ist passiert?“ Irgendwie schien er wirklich nicht zu verstehen, was in mir vorging. So wie er mich dabei ansah spürte ich wieder das Blut in meinem Körper und seine Worte hatten sofort etwas Beruhigendes für mich. „Was ist denn hier nur los? Dieser Lärm, die vielen Kubaner, das macht mir Angst, was habt ihr vor mit uns? Was ist das für ein Haus? Wohnst du etwa hier?“ „Wie denkst du denn von mir? Dir passiert doch nichts, hier ich bin doch bei dir und du bist mein. Das ist das Wohnheim, in dem wir untergebracht wurden. Wir wohnen alle hier und jeder hat sein Zimmer und was meinst du mit Lärm? Hier streitet sich doch niemand, wir sprechen immer laut und viel. Wir haben eben viel Temperament.“ Jetzt tat es mir schon wieder leid, wie konnte ich nur solche Gedanken haben. Ich bin sein, sagte er, es hatte so etwas Männliches, er hatte sich also wirklich für mich entschieden. Ich brauchte keine Angst zu haben, er würde niemals zulassen, dass mir etwas passiert. Was jedoch seine Worte ‚Du bist mein’ für eine gewaltige Bedeutung hatten, sollte ich erst viel später erfahren. Nun stiegen wir endlich aus. Es gab hier und da einen kurzen Wortwechsel in ihrer Landessprache und es klang auch nicht ein bisschen beängstigend für uns. Das ging so durch das gesamte Treppenhaus und auch noch weiter, als wir oben in deren Wohnung ankamen. Anna und ich fanden das sogar lustig, man mochte es kaum glauben, dass es so gesellige Menschen gab. Die hatten wirklich Temperament. Wir tranken zusammen Havanna Club und Salsamusik klang vom Tonband. Wir amüsierten uns einfach köstlich, schon allein durch dieses Durcheinander beim Sprechen. Solche Art von Party mit so viel Geselligkeit und Freude hatten wir noch nie erlebt. Die Kubaner waren auch ständig in Bewegung, sie sprachen mit Händen und Füßen und unterstrichen dazu jedes Wort mit ihrer Mimik. Es war wunderbar. Das erklärte uns auch nun, warum es so laut zuging. Inzwischen waren wir auch aufgetaut, mir fiel nur auf, dass kein einziges kubanisches Mädchen da war. Aber vielleicht wohnten sie ja getrennt. So gegen fünf Uhr wurde es langsam ruhiger und wir waren nur noch zu viert. Anna hatte schon eine Ewigkeit nichts mehr gesprochen, aber das war ja auch kein Wunder, da sie mit Fidel die ganze Zeit rumknutschte. Sie zogen sich nun beide lachend in Fidels Zimmer zurück. Raul stand auf, nahm mich an der Hand und wir gingen ebenfalls beide gemeinsam in sein Zimmer. Ich war so schüchtern und heilfroh, dass es dunkel war. Sein Bett war klein, aber das störte uns natürlich überhaupt nicht. Es war eine wunderschöne Nacht, besser gesagt von dem, was davon übrig war. Wir erwachten am späten Morgen durch den Lärm, der draußen wieder tobte. Die Kubaner waren wieder zum Leben erwacht. Plötzlich realisierte ich, dass ich eine Nacht nicht zu Hause war. Oh mein Gott, meine Eltern hatten es jetzt sicher auch schon gemerkt. Der Gedanke, wieder nach Hause zu gehen, jagte mir unendliche Furcht ein, aber mir war natürlich klar, dass ich nach Hause gehen musste, so oder so. Raul wollte aufstehen, ich sagte: „Bitte geh nicht raus ich will hier nicht alleine in deinem Zimmer bleiben.“ „Ich geh doch nur ins Bad, bin gleich wieder da.“ Es verging eine Weile und immer wieder hörte ich laute Stimmen an der Tür vorbeihuschen, so als ob jeden Moment jemand reinkommen würde. Ich fühlte mich so unwohl, dass ich schon fast bereute, hier zu sein. Ich hockte auf seinem Bett unter der Decke und schaute mich in seinem Zimmer um. Es sah alles sehr bescheiden aus: ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett und ein Schrank. Raul kam endlich zurück und brachte mir Kaffee. Ich war so froh, endlich war er wieder bei mir. Es kam mir schon vor wie eine halbe Ewigkeit. Der Kaffee war heiß und sehr gut. „Ich möchte gerne ins Bad, bitte komm mit mir, ich trau mich nicht allein da raus.“ Als wir zusammen aus seinem Zimmer kamen, waren einige Kubaner draußen und sahen mich an. Ich kam mir so blöd vor und schämte mich so. Endlich sah ich Anna, ihr schien es wirklich gut zu gehen. So langsam sah ich erst einmal, wo wir hier genau waren. In der Nacht waren so viele Leute da, dass ich mir davon noch gar kein Bild gemacht hatte. Es war eine ganz normale Wohnung mit drei Zimmern, einem Bad und einer Küche. Als wir alle wieder angezogen, fit und wach waren, fing Raul und Fidel an zu kochen. Es gab Reis mit roten Bohnen und Fleisch in einer roten Soße mit viel Knoblauch zubereitet. Für uns war das absolut fremd, aber es schmeckte sehr gut. Die Küche war so klein und trotzdem standen wir alle die ganze Zeit darin, tranken und rauchten und lachten über unsere kleinen Verständigungsschwierigkeiten. Keinen Moment mehr dachte ich daran, nach Hause zu gehen. Als es dunkel wurde, sagte ich zu Anna: „Mist, ich muss langsam nach Hause.“ „Ich bleibe hier bei Fidel, bleib doch auch, was willst du zu Hause, da hast du sowieso nur Ärger und was willst du denn sagen, wo du warst.“ „Du hast es gut, du kannst machen, was du willst, gestern nicht nach Hause zu kommen, war schon schlimm genug, aber jetzt machen sich meine Eltern vielleicht doch schon Sorgen, dass mir was passiert ist, ich kann ja noch nicht einmal anrufen. So oder so mir bleibt gar nichts anderes übrig“, und wandte mich Raul zu. „Ich muss jetzt langsam gehen.“ „Wieso? Bleib doch da.“ Ich dachte nur: Will er oder kann er mich nicht verstehen? Ich kann doch nicht einfach noch eine Nacht bleiben und außerdem habe ich nicht einmal Klamotten zum Wechseln dabei, das kann er doch nicht wollen.“ „Bei uns sind die Mädchen mit 15 Jahren erwachsen, deine Eltern werden das doch sicher verstehen.“ „Bei uns aber nicht, wir sind erst mit 18 Jahren erwachsen und außerdem muss ich morgen zur Schule. Meine Eltern denken sonst wirklich, dass mir was passiert ist. Ich würde auch viel lieber dableiben, aber es geht nicht.“ Es kam mir vor als würde er mir das nicht glauben, aber mir fiel dazu auch nichts mehr ein. Mit der Situation war ich dann wirklich überfordert. „Ich bring dich nach Hause aber wir sehen uns morgen.“ Ich war jetzt so froh, dass er das sagte und ich nicht die Stunde Heimweg allein antreten musste, zumal ich nicht einmal genau wusste, wo ich überhaupt war. Es war ein weiter Weg, wir fuhren mit der Straßenbahn. Es war kalt und wir warteten eine Ewigkeit, bis eine Straßenbahn kam. Es war so angenehm, ihn in meiner Nähe zu wissen. Als wir dann nach mehr als einer Stunde bei mir ankamen, liefen wir noch ein Stück. Wir verbrachten noch eine ganze Weile in der Kälte und wärmten einander eng umschlungen. „Komm morgen zu mir!“ „Ich weiß noch nicht einmal, was mich jetzt erwartet. Ich habe Angst, heimzugehen.“ „Aber warum gehst du dann heim, wenn du solche Angst hast und wie kann man überhaupt vor seinen eigenen Eltern Angst haben. Komm morgen.“ Wie war das wohl in Kuba? Durften da die Kinder machen, was sie wollten? Waren die Eltern dort so viel anders als in Deutschland? „Okay, kannst du mich nach der Schule um 15:30 Uhr abholen?“ „Gut ich hol dich ab. Wo ist deine Schule?“ Ich gab ihm die Adresse, wir verabschiedeten uns und ich ging heim. Noch eine Weile stand ich am Hauseingang und sah ihm nach. „Dreh dich doch noch mal um, nur noch einmal, ich will doch wissen, ob ich noch in deinen Gedanken bin.“ Endlich, er drehte sich noch einmal um und warf mir einen Kuss zu. Diese Leichtigkeit, es könnte doch alles so einfach sein. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Nur noch zwei, drei Sekunden trennten mich von der Türklinke zur Wohnung. „Ich muss, ich muss, ich muss!“ Und somit öffnete ich die Tür und trat ein. Es war so gegen 19:00 Uhr. Im Wohnzimmer sah ich Licht und ansonsten war es überall dunkel. Die müssten mich doch jetzt gehört haben, wieso sprang mir denn mein Vater nicht direkt entgegen, was war nur los hier? Diese Ruhe machte mich fast wahnsinnig und noch viel unsicherer, als ich es ohnehin schon war. „Okay“, dachte ich, „auf geht’s, wenn mir schon diese Ruhe entgegengebracht wird, dann bleibe ich eben auch ganz ruhig.“ Ich öffnete kurz die Wohnzimmertür und sagte nur schnell. „Ich bin da!“ Ich sah meinen Vater auf dem Sofa liegen und meine Mutter saß auf dem Sessel. Beide sahen fern, dachte ich jedenfalls. Mein Vater schlief, aber ich hörte meine Mutter zu ihm sagen: „Deine Tochter ist da.“ Oh mein Gott, es ging los, wie von einer Tarantel gestochen sprang mein Vater hoch und nichts war schlimmer bei ihm, als wenn man ihn aus einem kurzen Schläfchen weckte. Ich ging rückwärts raus und er kam auf mich zu, ständig zuckte ich zusammen. Er sah verschlafen aus und doch wütend. Er redete auf mich ein, fragte mich, wo ich mich die ganze Nacht rumgetrieben hätte und mit wem. Währenddessen prügelte er auf mich ein und ich hasste diese Ohrfeigen mit seinem Handrücken im Gesicht, es brannte und tat so weh. Natürlich heulte ich und hielt mir immer wieder die getroffenen Stellen zu. Er schaffte es sogar noch, meine Hand jedes Mal davon wegzureißen, bevor er erneut ausholte. „Ich habe bei Anna übernachtet, wir waren zusammen weg und es war schon spät.“ „Du lügst schon wieder, wir waren zweimal dort und niemand war da. Verschwinde in dein Zimmer und wage es ja nicht, da wieder rauszukommen.“ Nichts lieber als das, dachte ich. Nach einer Weile kam meine Mutter rein und sagt nur: „Wir haben uns Sorgen gemacht, es hätte ja was passiert sein können. Ich bin sehr enttäuscht von dir.“ Das konnte ich jetzt auch nicht mehr ändern. Ich wollte doch einfach nur weg von zu Hause, für immer. Nie mehr nach Hause kommen. Am nächsten Morgen fuhren meine Mutter und ich wie immer mit derselben Straßenbahn, sie zur Arbeit und ich zur Berufsschule. „Mutti, ich habe jemanden kennengelernt. Er ist so lieb und so anständig, aber er ist kein Deutscher, er ist Kubaner und er ist 22 Jahre alt.“ „Das kommt überhaupt nicht in Frage, du spinnst wohl, ein Ausländer, der sicher schon eine Frau in Kuba hat. Der will sich doch hier die Zeit nur amüsant verkürzen.“ „Aber Kuba ist doch ein kommunistisches Land, das sind anständige Leute“, sagte ich. „Wenn du denkst, dass du dich weiter mit ihm treffen kannst, schlag dir das aus dem Kopf. Du kommst heute nach der Schule zu mir ins Büro und wartest dort auf mich, wir fahren zusammen nach Hause.“ Hätte ich doch bloß nichts gesagt, jetzt hatte ich auch noch meine Mutter gegen mich. Wer wusste, was sie sich alles hat anhören müssen von meinem Vater, als ich nicht da war. Tja ich konnte aber heute nicht zu ihr ins Büro kommen, ich war ja mit Raul verabredet. In der Schule erzählte ich alles Adele, sie konnte es kaum glauben. „Ich muss weg von zu Hause, jetzt ist Schluss. In der großen Pause fahre ich schnell heim und hole ein paar Sachen. Wenn jemand fragt, wo ich bin, sag einfach, ich musste zum Zahnarzt.“ „Aber Petra, du weißt, wenn du das machst, kannst du wahrscheinlich nie mehr nach Hause.“ „Das ist mir egal.“ Die Schule war pünktlich zu Ende und Raul stand draußen und wartete auf mich. Ich war so stolz auf ihn, alle konnten ihn sehen. Ein paar Sachen hatte ich in der Pause geholt und in einen Stoffbeutel gepackt. Wir fuhren nun gemeinsam zu ihm nach Hause. Was für ein schönes Gefühl, so frei und unbeschwert. Ich hatte mit zu Hause abgeschlossen. Nicht ein einziges Mal dachte ich mehr daran, keine Angst mehr, nichts mehr war davon übrig. Nur meine Mutter tat mir leid, sie wartete sicher auf mich und musste nun ihrem Mann sagen, dass ich nicht gekommen war, und ganz sicher machte er ihr nun die Hölle heiß, meine arme Mutter. Bei Raul angekommen, kochte er uns was, diesmal half ich ihm aber und es machte richtig Spaß. Er war so fürsorglich. Ich sagte ihm, dass ich bei ihm bleibe und nicht mehr nach Hause gehe. Er konnte es kaum glauben und für den ersten Moment machte er sich sogar Sorgen wegen meinen Eltern, ob ich mir da wirklich sicher sei. Das machte mich nun wieder unsicher. War es nun doch vielleicht zu viel für ihn? Was sollte das denn nun, er wollte es doch so? Ich erzählte ihm alles vom Vorabend und sagte ihm, dass ich mir ganz sicher wäre und nicht mehr nach Hause möchte. „Okay, dann bleibst du hier, wir kriegen das schon hin, Hauptsache, es geht dir gut.“ Das hatte er so schön gesagt. Er gab mir jeden Tag Geld, damit ich mir immer etwas zum Frühstück beim Bäcker kaufen konnte. Meistens aber brachte mir Adele etwas zu essen mit. Ihre Mutter wusste, dass ich nicht mehr zu Hause war, und sie machte ihr jeden Morgen ein riesiges Frühstückspaket für uns zwei. Raul und ich verbrachten fast jeden Nachmittag zusammen, wir kochten, gingen zusammen einkaufen, badeten zusammen und wuschen zusammen unsere Wäsche. Wir hörten immer die Bee Gees und Gloria Gaynor ‚I will survive’. So jedenfalls verliefen unsere ersten Wochen. Von meinen Eltern hatte ich nichts mehr gehört. Von meinem Lehrausbilder erfuhr ich nur, dass meine Mutter in der Schule war. Maria hatte ich telefonisch darüber informiert, wo ich war, obwohl ich ihr so von Raul vorschwärmte, konnte und wollte sie mein Verschwinden nicht gutheißen. In der Woche, als Raul Nachtschicht hatte, fing das erste große Problem für mich an. Die Nachmittage konnten wir zwar zusammen verbringen, aber am Abend musste Raul zur Arbeit. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne ihn die Nacht in dem Wohnheim zu verbringen. Das Zimmer, in welchem wir schliefen, war für zwei Bewohner und wir hatten unseren Teil nur mit zwei Kleiderschränken und einem Vorhang abgetrennt. Es war für mich eigenartig, dass Raul nicht wollte, dass ich das Zimmer verlasse, wenn er weg war. „Du bleibst im Zimmer, wenn ich nicht da bin, ich möchte nicht, dass du rausgehst oder sonst irgendwo anders hin und auch nicht mit jemand sprichst oder ins Zimmer lässt.“ „Aber wo soll ich denn hingehen? Und wenn ich zur Toilette muss?“ „Dann geh jetzt, es ist besser so.“ Er hatte dabei so einen komischen Gesichtsausdruck, das gefiel mir gar nicht. Was waren denn das plötzlich für Töne, wieso verhielt er sich so, was hatte das zu bedeuten? Er brachte mir alles, was ich hätte brauchen können, etwas zum Essen oder Trinken. Als er ging, fühlte ich mich fürchterlich einsam, ich sehnte mich nach Maria, nach Anna nach einer gewohnten Umgebung. Plötzlich war mir alles fremd in diesem Zimmer. Die Geräusche von draußen, die Stimmen der anderen Kubaner, die wie immer laut waren. Das machte mir Angst. Ich hockte auf dem Bett, die Beine angewinkelt und mein Kopf fiel mir auf die Knie und ich trug ein Hemd von Raul. So blieb ich mindestens zwei Stunden regungslos sitzen. Ich hatte Sehnsucht nach einem Zuhause, nicht nach meinem Zuhause, aber nach irgendeinem guten Zuhause. Eine vertraute Umgebung ohne fremde Leute und Geräusche, wo ich mich frei bewegen konnte. Es war kaum zum Aushalten, als Raul weg war. Es fiel mir sehr schwer, einzuschlafen. Am Morgen, als Raul kam, stand ich auf und ging selbst zur Arbeit. Jedes Mal fragte er mich, ob ich auch wirklich die ganze Nacht im Zimmer war. „Natürlich war ich im Zimmer, wo soll ich denn sonst gewesen sein?“ „Sei nicht so frech!“, sagte er. Ich konnte das alles nicht verstehen. Aber die Freizeit, die wir dann gemeinsam verbrachten, war trotzdem schön, obwohl ich immer wieder merkte, dass er sehr eifersüchtig war. Bei jedem Jungen oder einem Kubaner, der uns begegnete, sagte er ständig, ich solle sie doch nicht so anschauen. Egal wo es war, ob in der Straßenbahn oder im Bus oder einfach nur auf der Straße, immer wieder machte er mir eine Szene. „Ich habe ihn nicht angeschaut.“ „Doch ich habe es genau gesehen, du hast ihn angelacht.“ „Das habe ich nicht, jetzt hör doch auf, warum sollte ich denn, ich bin doch mit dir zusammen und was ist schon dabei, wenn man mal jemanden ganz normal anschaut, das kann doch überall passieren. Soll ich immer nur auf den Boden schauen? Du musst doch Vertrauen haben, das ist doch das Mindeste, wenn man zusammen ist.“ „Ich lasse mich nicht verarschen, ich bin dein Mann und niemand anderes, du bist mein.“ Da war es wieder, diese Aussage. Immer wieder war dies Anlass zu Streitereien zwischen uns. Er wurde jedes Mal wütend und sobald wir wieder in seinem Zimmer waren, schrie er mich an, bis er plötzlich auf mich einschlug. Er schlug mich ins Gesicht, was inzwischen auch schon blaue Flecke zeigte, und jedes Mal entschuldigte er sich anschließend dramatisch und versprach mir, es nie wieder zu tun. Ich glaubte immer wieder aufs Neue seinen Entschuldigungen. Das war eine Seite an ihm, die ich nicht kannte. Aber irgendwie war mir das alles lieber, als zu Hause bei meinen Eltern zu sein. Zu Hause war ich auch nicht frei und auch unter ständiger Kontrolle. Natürlich war es unter diesen Bedingungen besser, wenn wir allein unter uns waren. So gab es auch keinen Anlass zur Eifersucht. Anna sah ich nur ganz selten und dann auch nur kurz. Deshalb gingen wir auch nie wieder in eine Disco, da ich diesen Szenen aus dem Weg gehen wollte. Wir waren ein einziges Mal noch und das war so schlimm, dass wir schon gegen 22:00 Uhr nach Hause gingen, wo er mir auf dem gesamten Weg immer wieder vorwarf, ich hätte mit anderen Männern geflirtet. Ich brauchte eine Ewigkeit, um ihn zu beruhigen, damit die Stimmung zwischen uns wieder auf einem normalen Niveau war. Schon da wäre ich am liebsten nach Hause gegangen, aber das konnte ich jetzt nicht mehr tun. Ich kannte so etwas nicht. Die deutschen Jungs waren nicht so, das wusste ich ja auch von Marias Mann. Ich dachte aber, dass sich das sicher irgendwann ändern wird. Es beeinträchtigte aber dennoch unser Zusammenleben. Es war sehr beschwerlich und ich hatte nur wenig Wechselwäsche dabei. Täglich musste ich meine Wäsche waschen, um sie dann auf der Heizung zu trocknen. Ständig fehlten mir irgendwelche Bücher für die Schule. Keinen Schritt konnte ich mehr ohne Raul machen, immer war er bei mir, beim Kochen, beim Waschen und ich war sogar froh darüber. So konnte er mir wenigstens keine Szene machen, ich hätte wieder mit einem Kubaner gesprochen oder gar geflirtet. Meine Mutter war zwischenzeitlich wieder in meiner Berufsschule bei meinem Ausbilder. Nach dem Gespräch kam er auf mich zu und sagte, dass er mich persönlich heute Mittag zu einer Aussprache zu meiner Mutter ins Büro begleiten würde, da ich noch nicht volljährig sei. Irgendwie war es mir auch schon egal, ich hatte mich nicht dagegen gewehrt und ich dachte an meine Mutter und freute mich sogar, sie wiederzusehen. Unser Zusammentreffen war jedoch anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Von wegen, die Mutter fleht: Komm doch endlich wieder nach Hause, alles wird gut! Meine Mutter stand in einem separaten Raum und als ich reinkam, verzog sie keine Miene. Ihr Blick war fordernd und hatte überhaupt nichts Liebevolles. Nur Vorwürfe: „Wo warst du die ganze Zeit, sieh dich mal an, wie du aussiehst, völlig abgemagert und heruntergekommen.“ Ich ärgerte mich schon, dass ich überhaupt gekommen war. Aber ich wusste, dass ich unter diesen Umständen auf gar keinen Fall wieder nach Hause kommen würde. Ich gab auch keine Antworten, ich sagte nur: „Wenn das so ist, kann ich ja auch gleich wieder gehen.“ Vielleicht war das der Auslöser bei ihr, ich wusste es nicht genau. Sie änderte ihre Haltung und sprach nun ganz normal mit mir. „Komm bitte wieder nach Hause, das bringt doch alles nichts, du brauchst doch ein geregelteres Leben als in diesem Wohnheim.“ Das wusste sie inzwischen von meiner Schwester. „Ich komme nur zurück, wenn ich keine Strafe bekomme.“ „Ich verspreche es dir. Komm mich heute nach der Schule abholen, aber komm wirklich.“ Ich holte sie ab und wir fuhren gemeinsam nach Hause. Alles war normal, es gab kein Theater, keine Fragen, keine Probleme. Mein Vater sagte nur: „Was willst du denn hier?“ Ich dachte schon, jetzt geht es ja doch los, aber er sprach kein Wort mehr zu mir. Ich war so sehr erleichtert. Ich konnte mich endlich mal wieder frei bewegen, ohne dass ich mich nur in einem kleinen Zimmer aufhalten musste. Ich konnte in Ruhe duschen, wieder frische Klamotten aus dem Schrank anziehen. Es war ein Genuss. Trotzdem ging ich, nachdem ich geduscht hatte, zu Raul, schließlich wartete er auf mich und hatte ja keine Ahnung, dass ich wieder zu Hause war. Meine Mutter enttäuschte das sehr und sie sagte: „Hältst du es denn nicht mal ein paar Stunden zu Hause aus?“ Ich ging wortlos, wusste aber, dass ich am selben Abend wieder nach Hause kommen würde. „Ich komm nicht so spät zurück!“ Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich meine Rückkehr selbst bestimmen.