Buch lesen: «Der Grenadier und der stille Tod»

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Petra Reategui, geboren in Karlsruhe, war nach einem Dolmetscher- und Soziologiestudium Redakteurin bei der Deutschen Welle. Sie arbeitet heute als freie Journalistin und Autorin in Köln.

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenn auch eingebettet in ein zeitgeschichtliches Umfeld und vor dem Hintergrund eines tatsächlich stattgefundenen Ereignisses erzählt. Einige Personen der Geschichte haben tatsächlich gelebt, ihre Charaktere und Handlungsweisen entspringen jedoch der Phantasie der Erzählerin.

Der Anhang enthält eine Übersicht über die realen Personen, ein Glossar, Hinweise zu den im Buch angesprochenen Themen sowie Literatur- und Quellenangaben.


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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus akg-images/Jürgen Raible, Joanna Czogala/Arcangel.com, shutterstock.com/ilolab, shutterstock.com/kuzmaphoto

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Stadtplan: Stadtarchiv Karlsruhe 8/PBS XVI 95 (bearbeiteter Ausschnitt)

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-657-9

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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Denken ist das Selbstgespräch der Seele.

Platon

1

Freitag, den 17ten Januarij 1772

Es ist so weit. Ihm wird übel. Er schwankt, wendet sich ab. Und sieht doch in den Mienen der Umstehenden,

… dass der Scharfrichter zum Schwert greift …

… dass er zielt …

… ausholt …

Die Gaffer recken die Köpfe, stellen sich auf Zehenspitzen, Kinder werden hochgehoben.

Jetzt …

Der Mann neben ihm zuckt zusammen, zieht jäh die Schultern hoch, die frisch gepuderte Perücke verrutscht. Eine Frau hält dem Jungen auf ihrem Arm die Augen zu, unter ihrer Haube löst sich eine Haarsträhne. Zwei Mädchen klammern sich aneinander, weinen.

Dann ist es vorbei. Die Menschen atmen auf. Münder öffnen und schließen sich aufgeregt, pusten Wölkchen in die kalte Luft. Drei Herren in Beinkleidern und Röcken aus edlem Tuch nicken einander zu, leeren gleichmütig die Becher, die sie zuvor beim Getränkehändler erstanden haben. Einer kratzt sich im Schritt.

Es fängt zu schneien an, Bewegung kommt in die Schaulustigen. Die ersten machen sich auf den Nachhauseweg. Die Magd des Gürtelmachers von der langen Morgenabendstraße bückt sich nach ihrem Korb, ihre Hände sind rau und rissig, die Nägel abgekaut. Sie grüßt ihn, bevor sie von Bekannten untergehakt und fortgezogen wird. Schon haschen Kinder mit weit ausgebreiteten Armen nach den vom Himmel herabwirbelnden Flocken. Buben schwingen Stöcke wie eben der Henker seine scharfe Waffe, stupsen und schubsen sich, bald tobt auf der weiten Flur vor dem Stadttor eine wilde Schlacht. Schneebälle fliegen. Einer der Kleineren fällt, die anderen stürzen sich auf das Kerlchen, halten es fest und reiben ihm das Gesicht mit den nassen Bollen ab, der Junge kann sich nicht wehren.

Es ist ungerecht, alle gegen einen. Als er im selben Alter war, hatten die Kinder in seinem Viertel es auch ständig auf ihn abgesehen. Machten sich einen Spaß daraus, ihm aufzulauern, immer von hinten, sodass er sie nie bemerkte. Traten ihn, stellten ihm ein Bein, verprügelten ihn. Aber er hat sich nichts gefallen lassen. Er hat wild um sich geschlagen. Gebissen. Geboxt. Gekratzt. Und er hat gespürt, wie aus seiner Kehle, aus seinem geöffneten Mund, ein Beben herausbrach, Stöße, so heftig, dass ihm schier gar der Kopf zersprang. Bis einmal das Mädchen vom Nachbarhaus angeschossen kam. Aufhören! Lasst ihn in Ruhe! Ihre Augen spuckten Feuer, ihre Hände verteilten Ohrfeigen. Er rannte in den Hof und verkroch sich hinter Gerümpel. Aber seither hatte er eine Beschützerin, eine Freundin, einen Menschen, vor dem er sich nicht fürchten musste. Nie im Leben würde er vergessen, wie sie dem prahlerischen Fettwanst, der der Gemeinste von allen war, eine solche Maulschelle verpasst hat, dass die Backe des Dicken drei Tage lang geschwollen war.

Er hält sein Gesicht in das Schneegegriesel und schmeckt die kalten Kristalle, die ihm auf den Lippen zerschmelzen. Flockenfangen mit dem Mund. Wie oft haben sie dieses Spiel gespielt, er und seine Beschützerin. Eine und noch eine und noch eine. Und wenn sie dann müde waren, warfen sie sich in den Schnee und kullerten die Böschung zum Steineschiffkanal hinunter, unter Herzklopfen, denn kurz vorm Wasser galt es abzubremsen, um nicht hineinzurollen.

Endlich dreht er sich um und starrt hinüber zu der Stelle, wo die Hinrichtung stattgefunden hat. Der Stuhl, auf dem sie gesessen und mit verbundenen Augen den furchtbaren Streich erwartet hat, ist leer. Zwei Männer mühen sich ab, den leblosen Körper in eine Kiste zu legen. Sie stopfen die überhängenden Zipfel des Totenhemds zwischen Leichnam und Kastenwand und schließen den Deckel. Ein dritter wirft ein Tuch über den Korb, in den der Kopf gefallen ist, und verstaut den Behälter auf einem Leiterwagen. Schon sind andere dabei, das Schafott abzubauen. Das Holz des Gerüsts ist Teil des Henkerlohns, es wird dem Mann mit der langen Hiebwaffe gutes Geld bringen.

Er weiß, dass es so ist. Trotzdem packt ihn die Wut. Trauer und das Gefühl von Verlassenheit übermannen ihn. Wieder wird ihm schwindlig. Die Bäckersfrau aus der Gasse, in der er wohnt, eilt besorgt zu ihm herüber und will ihn halten. Er schüttelt den Kopf: Es ist nichts, gar nichts, mach dir um mich keine Sorgen. Sie zweifelt, zögert, kehrt dann aber doch zu den Leuten zurück, mit denen sie zum Richtplatz gekommen ist.

Der Schnee fällt jetzt in dichten Schwaden. Hastig packen die Essensverkäufer die übrig gebliebenen Brezeln und Weckle zurück in die Brotkästen, die Schankknechte verstöpseln angebrochene Flaschen und verstauen sie samt Gläsern und Bechern wieder bruchsicher auf ihren Karren. Nur ein welscher Bauchladenkrämer, dem das Wetter nichts anzuhaben scheint, zählt ungerührt das Geld in seiner Hand. Er hat gut verkauft, Knöpfe, Borten, Seifen, fast seinen gesamten Vorrat an Citronen. Eben ersteht eine Frau schnell noch einen billigen Halsschmuck. Als ihr der sonnendunkle Händler das Bändchen mit dem glitzernden Anhänger unter ihrem Haarknoten zu einer Schleife bindet und seine gelenken Finger ihren Hals streicheln, kichert sie verlegen, ruckelt ihren Umhang zurecht und blinzelt dem Mann zu, bevor sie lachend der Menschenmenge hinterherrennt, die zum Abendtor strömt. Der Himmel sieht aus, als stürze er gleich auf die Stadt herab.

Er geht, als niemand mehr auf dem Richtplatz ist. Es muss Mittag sein, denn in der kargen Wachtstube am Tor sitzen die Posten beim Essen. Er würde sich gern zu ihnen setzen, um nicht allein zu sein. Aber den einen, mit dem er sich hin und wieder unterhält, leidlich, mit armseligen Gesten, sieht er nicht. Die anderen hier würden ihn nicht verstehen, würden nicht begreifen, was er von ihnen will, ihn fortwinken, im schlimmsten Fall auslachen. Er grüßt im Vorbeigehen. Sie mustern ihn kurz, aber scheren sich nicht weiter um ihn. Der eine der Wächter trägt einen gebieterischen Schnäuzer, der zu beiden Seiten der Mundwinkel in je einer dünnen, gezwirbelten Spitze endet. Ihm selbst sprießt nur weicher Flaum.

Ohne auf Schnee und Kälte zu achten, läuft er die Morgenabendstraße entlang. Der Seifensiedemeister steht unter seiner Ladentür inmitten einer Wolke übel riechenden Laugendampfs und blickt den Passanten hinterher, die in die Wirtshäuser drängen, um das Ereignis des Tages zu begießen. Das Gesicht des Kaufmanns drückt Verständnislosigkeit aus, ja, fast so etwas wie Herzweh, als hätte er die junge Frau, die hingerichtet worden ist, gekannt. Vielleicht ist es ja so, vielleicht hat seine Beschützerin für den Seifenmacher gearbeitet, die Siederei geputzt, die Ware ausgeliefert. Er weiß es nicht.

Er weiß überhaupt so vieles nicht.

Bei einem Wetter wie heute braucht er nicht die Straßen zu kehren, er kann in dem kleinen Krug nahe dem Morgentor einen Schoppen trinken oder zwei. Es ist billig dort und der Wirt umgänglich, vielleicht weil er dem Mann hin und wieder hilft, Hof, Stall und Küche auszumisten, und mit jedem Geldstück, das dieser ihm gibt, zufrieden ist. Er tut stets so, als merke er nie, dass die meisten Gäste nichts mit ihm zu tun haben möchten, ja, dass sie geradewegs durch ihn hindurchschauen, wenn er zur Tür hereinkommt. Es ist so, es war schon immer so, und er bildet sich ein, dass es ihn nicht stört. Gestört hat ihn nur, als eines Tages der Tisch, an dem er für gewöhnlich saß, ein anderer war. Der neue ist kleiner als der vorherige. Es stehen auch nicht mehr vier Stühle daran, sondern nur noch einer. Hätte er sich beklagen sollen? Wie denn? Der Wirt ist gekommen, hat ihm versöhnlich einen Teller Suppe mit einem großen Brocken Fleisch darin hingestellt, für ganz umsonst, und mit hilflosen Gesten und schmalem Lippengekräusel zu erklären versucht, warum er den Tisch ausgewechselt hat. Begriffen hat er es nicht, hat die Kränkung geschluckt. Die Besuche in der Schenke wollte er sich nicht vermiesen lassen. Denn wenigstens die Weibsleute dort schauen ihn an. Zwei gefallen ihm.

Sie schauen oft zu ihm, necken ihn mit kleinen Gesten. Inzwischen weiß er, was sie wollen. Was sie von den Männern wollen. Mit der mit der kleinen Narbe auf der Wange ist er einmal mitgegangen, ins Stockwerk obendrüber. Er musste endlich wissen, was dort passiert. Und das Narbenmädchen hatte ihn neugierig gemacht. Alles an ihr war verlockend, ihre Augen von einer Farbe wie Wind und Regen, das duftende Haar, der runde Körper. Die Haut unter seinen Händen war sanft, aber mehr als tasten durfte er nicht. Und alles behielt sie an, Hemd und Rock, und durch die Stofffülle musste er sich erst hindurcharbeiten. Ein bisschen fühlte er sich betrogen. Er hätte sie gern ohne Kleider gesehen. Er wird es sich gut überlegen, bevor er das wenige Geld, das er hat, ein zweites Mal für so etwas ausgibt.

Heute ist sie nicht da, nur eine ältliche Matrone, die verdrießlich zu ihm herüberschielt. Das Weib erinnert ihn an die Mutter seiner Beschützerin.

Die jetzt nicht mehr ist.

Er hat die Freundin schon verloren gehabt, als sie noch lebte. Er kann sich nicht entsinnen, wann es passiert ist, dass sie sich veränderte. Als es ihm auffiel, war es zu spät. Nur wusste er das zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Sie war auf keinen mehr zugegangen, ließ niemanden mehr an sich heran, auch ihn nicht, sie hatte sich in einen unsichtbaren Kokon verkrochen und aufgehört zu lachen. Und was hatten sie doch miteinander gelacht, sie und er, als sie noch Kinder waren. Gespielt, gestritten und gelacht, und dann hatte sie ihm nachts die leuchtenden Punkte am Himmel gezeigt.

Es war eine warme Nacht gewesen, nur dass die Dunkelheit ihn ängstigte, die Dunkelheit, die alles verschluckt, Dinge, Häuser, Tiere, Gesichter, Gesten, jede Bewegung. Aber sie zerrte ihn mit, obwohl er nicht mitwollte und ihm Blut aus der Nase lief. Immer lief ihm Blut aus der Nase, wenn er Angst hatte. Und Angst hatte er oft. Weil er nicht begriff, was die Leute von ihm wollten oder mit ihm vorhatten.

Hat sie damals das Blut nicht gesehen, oder ist es ihr egal gewesen? Sie hat ihn einfach an der Hand gepackt und hinter sich hergezerrt, komm, schnell, und ohne dass er sich widersetzen konnte, rannte sie mit ihm durch die Gärten hinunter zum Steineschiffkanal bis zu der Stelle, wo die Stadt aufhört und jenseits des Wasserlaufs die Felder anfangen. Guck, zeigte sie mit dem ausgestreckten Finger nach oben, guck. Und hoch über ihnen glimmerten und gleißten die hellen Punkte, ein riesiges Funkengestöber, und dann schoss eines der Lichter über den Himmel und noch eines, und beide zogen eine dünne Linie, einen Schweif hinter sich her, und seine Beschützerin kniff ihm in den Arm vor Aufregung, und er hüpfte und sprang, bis sie sich lachend, aber auch irgendwie angeekelt, vielleicht von seinem wilden Gehopse, zuerst ihre Ohren zuhielt und ihm gleich darauf seinen Mund, er wusste nicht, warum. Als wenn da etwas Hässliches herauspurzelte. Er war beleidigt.

Doch dann hockten sie nebeneinander und zählten, wie viele Pünktchen durch die Nacht flogen, und mit einem Stock malte sie »5« in den Sand, dann »8«, dann »12«, mehr als er Finger an den Händen hat.

Sie war älter als er, vielleicht vier oder fünf Sommer. Er bewunderte sie, denn sie war stark. Eines Tages würde er so stark sein wie sie.

Und jetzt ist sie nicht mehr.

Er kann es nicht glauben. Er will es nicht glauben, auch wenn er sie heute nicht mehr braucht. Er ist kein Kind mehr, er blutet nicht mehr aus der Nase, er hat gelernt, mit dem Leben zurechtzukommen. Auf seine Art. Und der Fettwanst ist irgendwann gestorben, er weiß nicht, woran. Aber es interessiert ihn auch nicht.

Nur die Nächte sind ihm noch immer unangenehm. Wenn Bewegungen kaum zu sehen sind und die dunklen Schatten die Gesichter der Menschen schlucken.

2

Madeleine kannte die Frau nicht, die am Vormittag hingerichtet worden war, nein, keine Frau, ein junges Mädchen noch. Kaum älter als sie selbst. Das vor allem hatte sie erschreckt.

»’ne Kindsmörderin! Des müsse mer uns angugge gehe«, hatte die Oberhäusserin ihr entgegengerufen, als sie am frühen Morgen mit ihren Nüssen und dem Honig auf dem Carlsruher Markt eintraf, und ihr erster Gedanke war: Bestimmt eine Putano, eine Hure, eine, die ihren Bankert in der Alb ertränkt hat.

Oder eine, die das Neugeborene gehimmelt hatte, weil sie nicht wusste, wie sie es neben zehn anderen Bamsen auch noch ernähren sollte. »Man tut den Kleinen nicht unbedingt was Gutes, wenn man sie am Leben lässt«, hatte Madeleine einmal die Nonno zur Maïre sagen hören. Großmutter und Mutter ahnten nicht, dass sie hinter der Tür stand und lauschte. Und während die Nonno von Frauenkräutern faselte, von den geheimnisvollen petites grâces pour les femmes, Eisenkraut, Liebstöckel, den Früchten des Sadebaums, dachte sie an das Weib vom Grünwettersbacher Schweinehirten. Deren zwei Zuletztgeborene, hieß es, seien gestorben, kaum dass sie auf der Welt waren, alle beide, was für ein Zufall. Mädchen sollen es gewesen sein, Winzlinge. »Ja, die Engele sin bei Gott«, hatte die Frau geseufzt, als Madeleine ihr beim Wasserschöpfen am Fallbrunnen begegnet war und ihr Beileid aussprach. »Die Engele sin bei Gott, und dort obbe geht’s ene besser wie ihren armen Schwestern und Brüdern hier unten.«

Aber vielleicht tat sie dem Weib auch unrecht.

Eigentlich hatte Madeleine nicht mit der Oberhäusserin und den anderen Händlerinnen zur Hinrichtung gehen wollen. Nach dem Markt wollte sie nur noch schnell zum Tulpenwirt und von dort sofort zurück nach Palmbach. Die Strecke bis ins Dorf zog sich, sie kam ihr jetzt im Winter sogar noch länger vor als sonst, und der Weg durch den Wald nach oben auf die Höhe machte ihr Angst. Die Wärter am württembergischen Zoll würden dumme Fragen stellen, und die Maïre hätte schon gar kein Verständnis, wenn sie erst nach Einbruch der Dunkelheit heimkäme.

Eine Hinrichtung in Carlsruhe? Davon wissen wir nichts, das geht uns nichts an, das ist keine Entschuldigung.

Sie lebten in Palmbach hinter Gottes Angesicht. Bis dort Nachrichten ankamen, wurde man alt und grau.

»Geh komm, Madlän, des Schpektakel wirsch’de dir doch net entgehe lasse.«

Sie hatte ja recht, die Oberhäusserin. Es reizte Madeleine schon. Sie war noch nie bei einer Hinrichtung gewesen, eine solche Gelegenheit bot sich nicht alle Tage. Sie hatte nachgegeben.

Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein, strömte vors Mühlburger Thor, wo eigens für diesen Tag das Schafott aufgebaut worden war.

»Der Henker«, sagte die Oberhäusserin, als sie zum Richtplatz kamen. Sie zeigte auf einen Mann, der mit betont gelangweiltem Gesicht an der Treppe des Gerüsts lehnte und auf das Eintreffen der Malefikantin wartete. Neben ihm ein Militär, das Gewehr in der Linken. Den blauen Waffenrock schmückte eine rot abgesetzte Knopfleiste mit silbrigen Litzen. Über strahlend weißen Beinkleidern trug er ebenso strahlend weiße Gamaschen und um den Bauch eine breite Schärpe, an der Seite baumelte ein Säbel. Auf dem Kopf saß ein hoher, nach oben spitz zulaufender Hut. Major, Oberst, General? Madeleine kannte sich nicht aus mit der Rangordnung im Heer des badischen Markgrafen. Aber der Raubvogelblick des Mannes und die dünnen, fest zusammengepressten Lippen verrieten, dass er es gewohnt war, Befehle zu erteilen, denen man sich besser nicht widersetzte. Hinter dem Kommandanten hatte ein halbes Regiment Soldaten Aufstellung genommen, um notfalls sofort für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Von der Ferne wurde Gesang laut. Mit frommen Liedern begleiteten Frauen die Kindsmörderin auf ihrem schweren Weg. Als der Zug näher kam, fielen Zuschauer in die Melodie mit ein, eine Alte bekreuzigte sich. An der Seite der Delinquentin, die von zwei Knechten in einer grob gezimmerten Chaise getragen wurde, schritt der Pfarrer. Hofräte und Vertreter des städtischen Oberamts folgten.

»Da guck dir des an, wird die feine Dirn doch tatsächlich getrage wie e Fürschtin. Das Madämle könnt sich ja die Füß dreckig mache«, erregte sich die Oberhäusserin, als die Gruppe an ihnen vorbeikam. »Mich trägt keiner über die Straß.«

»Wenn du fünf Woche lang bei trocke Brot un Wassa im Loch hocke tusch und weisch, dass du de Abend nimmer erlebsch, könnscht au nimma laufe«, schimpfte die Meierin vom Butterstand, »hasch du denn gar kei bissle Mitg’fühl?«

»Pff«, war die ganze Antwort der Oberhäusserin.

Die zum Tod Verurteilte schaute nicht nach rechts und nicht nach links. Zusammengesunken kauerte sie in dem Tragstuhl, der bei jedem Schritt der Männer hin und her schwankte. Ihr Kopf war von einer großen weißen Haube bedeckt, das weiße Totenkleid mit den schwarzen Bändern umhüllte den Körper, in einer Hand hielt sie ein gefaltetes weißes Tuch, in der anderen eine Citrone.

»Warum die Citrone?«, wollte Madeleine von der Buttermeierin wissen.

»Um Kraft zu habbe fürs ewige Lebe«, flüsterte diese.

Am Fuß des Schafotts angekommen, half der Geistliche der jungen Frau hoch, führte sie, weil ihr die Hände vor dem Körper gefesselt waren, die Treppe hinauf und sprach ein letztes Gebet mit ihr. Dann übernahm der Scharfrichter. Er brachte sie zu dem in der Mitte des Podests stehenden Stuhl, hieß sie sich setzen, band sie daran fest, nahm ihr die Kapuze ab, und als ob ihr plötzlich bewusst wurde, dass jetzt nichts mehr zu ändern, ihr Schicksal endgültig besiegelt war, hob die Frau unvermittelt den kahl geschorenen Kopf und schaute in den Himmel, an dem sich dicke Wolken zusammenballten. Die Gesichter der Menschen unter ihr, die gekommen waren, sie sterben zu sehen, mied sie.

Das ist keine Putano, zamé, niemals!, schoss es Madeleine durch den Kopf. Nie im Leben sieht so eine Hure aus.

Zwanzig, höchstens zweiundzwanzig mochte das junge Mädchen dort oben sein. Und schön war sie, wenn man so etwas von jemandem behaupten konnte, der leichenblass war und dem die Angst im Gesicht geschrieben stand.

»Wer ist sie?«

»Catharina Würbsin. Aus der Durlacher Thorgass im Dörfle«, antwortete die Buttermeierin leise. »Wenn du Carlsruh in Richtung Süden durchs Rüppurrer Thor verläscht, kommsch du an dem Haus vorbei, wo se g’lebt hat. Ich wohn net weit von dort, in der gleiche Straß, nur am annere End, zum Durlacher Thor hin.«

Die Buttermeierin unterbrach sich kurz, beobachtete, wie oben auf dem Schafott der Pfarrer beiseitetrat, und während ein Gehülfe des Scharfrichters der Verurteilten die Augen verband und den Hals freilegte, behutsam fast, erzählte sie weiter:

»Die Catharina war Tagelöhnerin auf dem Gottesauer Gut wie ihr Vater. Die Mutter hat mit Einquartierung von Soldate e bissle Geld verdient, und einer der Kerle hat dem Mädle dann des erschte Kind g’macht. Siebzehnsiebzig war des, des Kleine isch aber bald g’storbe. Und dann hat sie vom gleiche Soldat noch mal eins bekomme. Ja. Und des hat se erschlage. Gleich nach der Geburt. Morgens um acht. Im Rübkeller. Vor zwei Monate isch des g’wese, am 16. November, ich weiß es so genau, weil an dem Tag drei Jahr vorher mein seliger Herr Meier g’storbe isch. Hasch du denn nix davon mitgekriegt? Die ganze Stadt hat doch davon g’redet.«

»Im Rübkeller?«

»Im Rübkeller. Die Catharina hat dem Würmle mit einerer Rüb ’s Köpfle eing’schlage.«

Der Scharfrichter hob das Schwert.

»War sie denn mit dem Soldaten verheiratet?«, fragte Madeleine, während sie gebannt das Geschehen auf dem Gerüst verfolgte. Dennoch bemerkte sie den verwunderten Blick, den die Buttermeierin ihr von der Seite zuwarf.

»In deinem Alter, Madeleine, solltest du das wissen: Junge Soldatenkerle dürfen nicht heiraten.«

Es war so weit. Der Scharfrichter holte aus und trennte mit einem einzigen Hieb den Kopf vom Rumpf.

Die Oberhäusserin grunzte zufrieden. »Na, des isch’s dann wohl g’wese, ich geh, mir isch kalt vom Rumschtehe.«

Stark hatte Madeleine sein wollen. Aber als der Schädel fiel, hatte sie unwillkürlich die Augen zusammengekniffen. So schnell ging das also. Sie zitterte am ganzen Leib. Wie Espenlaub, sagten die Deutschen. Aber Madeleine konnte nicht darüber lachen wie sonst, wenn sie eine schöne Redewendung oder einen Dialektausdruck aufschnappte und das Gehörte dann stundenlang wiederholte, bis sie sicher war, dass sie es nicht mehr vergessen würde. Zittern wie Espenlaub. Nachts sind alle Katzen grau. Numme net huddle.

Die Oberhäusserin war gegangen, und die Buttermeierin hatte Bekannte getroffen und sich ebenfalls verabschiedet. Die anderen Marktweiber kannte Madeleine kaum, und sie war froh, allein zu sein. Was sie eben gesehen hatte, machte ihr zu schaffen. Und auch, was die Buttermeierin gesagt hatte: dass Soldaten nicht heiraten dürfen.

Galt dieses Gesetz auch für nicht badische Untertanen?

Sie wussten wirklich nichts in Palmbach.

Seit Jahrzehnten lebten sie jetzt dort oben auf der Höh, bereits in der zweiten und dritten Generation. Selbst die Maïre war schon in Palmbach geboren, aber ihre Leute taten, als ginge sie alles, was in den Dörfern und Städten ringsherum geschah, nichts an. Es gab Tage, an denen Madeleine das Gejammer der Alten nicht mehr hören konnte. Die Nonno trauerte den Tälern des Piemont nach, als wäre sie erst gestern und nicht schon vor siebzig Jahren ausgewandert. Man sollte meinen, dass sich die Waldenser doch langsam daran gewöhnt haben dürften, dass sie jetzt eine neue Heimat und neue Nachbarn hatten. Doch sie weigerten sich noch immer, Deutsch zu sprechen, hielten stur an der eigenen Sprache, an ihrem Patouà fest.

»Das musst du verstehen, méou baboch«, verteidigte sich die Nonno.

»Ja«, sagte sie gehorsam, »ich verstehe.« Auch wenn sie nicht verstand.

Aber sie wusste, dass für die Alten die Heimat der Vorfahren, die Patrìo, das Paradies auf Erden gewesen war. Doch wenn die Nonno von den Schluchten und schroffen Alpengipfeln erzählte, die im Winter abweisend und unpassierbar seien, schauderte es Madeleine. Nein, ihre Patrìo war das nicht. Ihre Heimat war hier, war Palmbach, von wo der Blick über sanfte Höhen ging bis hinüber zu den blaugrünen Hängen des Schwarzwalds und man selbst bei Schnee noch durchkam. Meistens wenigstens.

Manchmal würde sie der Nonno gern Widerworte geben. Lux lucet in tenebris, das Licht leuchtet in der Dunkelheit, würde sie gern zu der alten Frau sagen. Hatte denn der jahrhundertealte Wahlspruch der Waldenser ihnen nicht den Weg aus La Balme nach Palmbach gezeigt? Warum also klagen? Das Licht leuchtet überall, an allen Orten dieser Welt.

Etwas Nasses streifte ihr Gesicht. Schnee. Schnee des Schwarzwalds, Schnee des Piemont, Schnee wie der, von dem die Nonno faselte. Hysterisch lachte Madeleine auf. Das Lachen schüttelte ihren Körper, bis sie jede Rippe einzeln spürte. Warum nur hatte sie sich überreden lassen und war mit den Frauen hierhergekommen? Wegen einer Hinrichtung! Das junge Mädchen mit dem kahlen Schädel. Das Schwert des Scharfrichters. Der Kopf, der fiel. Es war grausam. Und Soldaten durften nicht heiraten.

Das hatte sie nicht gewusst. Wer in Palmbach wohnte, war Außenseiter, für immer und ewig. Sie brauchte nur den Mund aufzumachen, und jeder konnte hören, dass sie nicht von hier war, ihr Deutsch, wie sie fand, miserabel. Ungerührt fiel in dichten Flocken der Schnee.

Madeleine schaute um sich, keiner achtete auf sie. Der schmerzhafte Druck, der ihre Brust wie mit Eisenbändern umklammerte, löste sich nur langsam.

Als sei ihr Körper eine Maschine, schulterte sie endlich die Kiepe und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Nichts hatte sie verkauft, keine einzige Nuss, keinen Tropfen Honig, hoffentlich nahm ihr der Tulpenwirt noch etwas ab. Bestimmt wartete er längst auf sie, war womöglich verärgert, dass sie so spät kam. Wenigstens drückten die Wachtposten am Mühlburger Thor sämtliche Augen zu und winkten sie ohne Kontrolle durch. Langsam beruhigte sich ihr Herz.

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