Pamina hat Hunger

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Marcello 1997

Nora stand in der Mannheimer Küche und spülte das Frühstücksgeschirr. Plötzlich verzog sie das Gesicht und sog scharf die Luft ein. Die Colitis wütete unvermindert heftig in ihrem Darm. Dieser Schub war besonders schlimm. Nora hätte längst ihre Cortison-Dosis erhöhen müssen, aber sie zögerte, weil ihre Stimme davon so schnell heiser wurde. Sie machte sich eine Wärmflasche und legte sich aufs Sofa. Sie schloss die Augen. Die Hochzeit vor drei Monaten war wunderschön gewesen. Genau wie die Flitterwochen in England und der Einstieg in Coburg nach den Ferien. Was war los. Warum kam sie wieder nicht von der Toilette runter. Es war zwar bis jetzt kaum Blut dabei, auch die Nächte waren noch relativ ruhig, aber das würde sich schnell ändern, wenn Nora nicht umgehend die Dosis erhöhte. Sie erhob sich mühsam und schlich zur Toilette. In einer Stunde hatte sie einen Termin bei Frau Hartmann. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte Nora in den Spiegel über dem Waschbecken. Vielleicht konnte Frau Hartmann ihr helfen.

Frau Hartmann erkundigte sich zunächst nach der Hochzeit. Und Nora schwärmte mit roten Wangen vom reibungslosen Ablauf, wie gut es allen gefallen habe, und wie glücklich sie sei. Frau Hartmann schlug die Beine übereinander. “Und der Darm?” Noras Lächeln wurde starr. Sie biss sich auf die Unterlippe. “Ein kleiner Schub. Aber halb so wild bis jetzt!” Frau Hartmann runzelte die Stirn. Nora fuhr hastig fort: “Ist doch seltsam, gerade jetzt, wo alles so gut läuft!” Frau Hartmann legte ihren Schreibblock beiseite und lehnte sich nach vorne. “Frau Grossmann, wenn sie nicht endlich mal etwas Verbotenes tun, etwas, das man nicht darf, wird es Ihnen nie besser gehen!“ Nora war völlig vor den Kopf gestoßen, und blickte Frau Hartmann konsterniert an. Frau Hartmann seufzte. “Als Sie mir das erste Mal von der geplanten Hochzeit erzählten, habe ich innerlich die Luft angehalten. Vor mir saß nämlich ein kleines Mädchen, krampfhaft darum bemüht, eine riesige Feier im weißen Kleid zu planen, die alle Gäste zufrieden stellt.” Nora wollte etwas erwidern, aber Frau Hartmann fuhr fort: ”Frau Grossmann, Sie sind das Mädchen im weißen Tüllkleid, das Angst hat, in eine Pfütze zu springen, und sich schmutzig zu machen. Schaun’ Sie mal, dieser Klaus vom Theater.” Nora blickte erschrocken auf. Frau Hartmann unterdrückte ein Lächeln. ”Wie erschüttert Sie waren nach diesem Kuss. Dabei ist doch nichts passiert! Ich wünschte damals, es wäre etwas passiert. Dann hätten Sie gesehen, dass man mit ein paar Flecken prima leben kann. Sogar bequemer. Perfektsein ist anstrengend, und es gelingt sowieso nicht.” Sie wurde sehr ernst und sagte mit Nachdruck: “Ihr Darm ist die andere Nora. Die, die nicht perfekt sein will. Die, die leben möchte. Aber die kommt nicht zu Wort. Die kann nur durch die Entzündung zeigen, dass sie gehört werden will! Sie sollten wirklich mal in eine Pfütze springen, Nora. Das bedeutet, erwachsen werden. Erkennen, dass perfekt sein nicht nötig ist. Tun sie‘s! Für sich und für Ihre Ehe!”

Nora verließ die Praxis und fuhr mit der Straßenbahn in die Stadt. Sie war wütend auf Frau Hartmann, weil sie das Gefühl, es allen recht zu machen, eigentlich beruhigend fand. Keine Pfützen. Außer Klaus. Nora spürte die Tränen aufsteigen. Sie ging die Kaiserstraße entlang, hatte aber keinen Blick für die Auslagen der Geschäfte. Plötzlich blieb sie stehen. Mark hatte vor keiner Pfütze halt gemacht in seinem Leben. Im Gegenteil, mit Genuss sprang er hinein, jedes Mal. Nora wurde blass, als sie an Jule in Kapstadt dachte. Oder an Marion, die Bildhauerin. Nora betrat die nächste Parfümerie und kaufte eine sündhaft teure Bodylotion. So etwas hatte sie sich bis jetzt immer untersagt. Das war verboten. Aber damit war es nicht getan, das war ihr klar. In die Pfütze springen. Schmutzig werden. Ein sündhafter Mensch, durchschnittlich. Wie Robert in Eutin. Wollte sie das überhaupt.

Als Nora zwei Tage später packte, um nach Coburg zurück zu fahren, klingelte das Telefon. Sie war so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie es zunächst gar nicht hörte. Das Gespräch mit Frau Hartmann hatte sie sehr bewegt, aber sie hatte Mark nichts davon erzählen wollen. Vieles war so unverständlich. Warum sollte es ihr besser gehen, wenn sie log. Das Telefon klingelte wieder. Ungeduldig nahm Nora das Gespräch an. Theateragentur Kühne in Mannheim. Herr Kühne erzählte von zwei Haydn-Opern, die im süditalienischen Salerno geprobt und aufgeführt werden sollten, “Der Apotheker” und eine gekürzte Fassung von “Die Welt auf dem Mond”. Drei Wochen insgesamt, mit zwei Vorstellungen am Ende, und man habe ausschließlich deutschsprachige Sänger besetzt. “Die Proben laufen seit ein paar Tagen”, erzählte er, “Aber die Sopranistin, die die große Partie im “Apotheker” singen soll, kommt aus einem anderen Vertrag nicht raus. Frau Grossmann, hätten Sie Zeit? Wir haben gehört, wie schnell Sie lernen!” Noras erster Impuls war, sofort abzulehnen: “Ich muss ja erst mit meinem Coburger Intendanten sprechen, ich glaube nicht, dass er ... ” Herr Kühne fiel ihr ins Wort. “Ja, grüßen Sie den alten Herrn, wir kennen uns schon lange. Und melden Sie sich umgehend.” Nora ließ den Hörer sinken. Ihr Herz klopfte laut und sie bekam einen ganz trockenen Mund. Trotzdem machte sie sofort einen Termin beim Intendanten für den nächsten Morgen. Dann fuhr sie in die Stadt, besorgte sich die Noten vom “Apotheker”, und checkte dann ihren Kalender. Zwei Vorstellungen im fraglichen Zeitraum, die könnte Marianne übernehmen. Nora war hin und her gerissen. Sie hatte immer befürchtet, dass ihr irgendwann ein Job außerhab von Mannheim oder Coburg angeboten werden könnte.

Am folgenden Tag hoffte Nora inständig, dass der Intendant sie mitsamt ihrem Ansinnen empört aus dem Büro weisen würde, doch weit gefehlt. Er kannte Kühne aus alten Schauspielzeiten, und unterschrieb Noras Urlaubsschein fröhlich plaudernd. Nora taumelte aus seinem Büro und starrte fassungslos auf den Schein in ihrer Hand. Dann fiel ihr ein, dass Mark noch gar nichts wusste. Panisch rannte sie zum Pförtner und meldete ein Telefonat an. Mark hatte Herbstferien und befand sich in Würzburg, wo er seit einem halben Jahr beim Großmeister des Kung-Fu-Ordens trainierte. Nora erwischte ihn in der Pause zwischen zwei Kursen. “Ist doch super”, rief er begeistert. ”Da kann ich ja vielleicht zur Premiere kommen!” Nora bettelte: ”Mark, kannst du nicht von Anfang an mitkommen? Das wäre doch so ... ” Mark lachte. “Quatsch, Nora. Die Ferien sind übermorgen zuenden, und ich hab’ doch gerade erst mit dem Referendariat angefangen!” Nora schluckte die Tränen hinuter. Mark verabschiedete sich gut gelaunt, und Nora legte auf.

Sie fühlte sich wie auf dem Weg zur Schlachtbank, als sie die Nummer der Agentur wählte. Kühne war zufrieden und gab alle Modalitäten an Nora weiter. “Buon viaggio!”, schloss er heiter und legte auf. Nora begab sich so schnell sie konnte in ihre Garderobe. Sie setzte sich auf den Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf. Das würde sie nie schaffen. Ganz allein. Und dann das Stück, wie sollte sie das so schnell drauf kriegen. Sie sprang auf, wischte sich das Gesicht ab, und rannte durchs Theater um Karen zu finden. Die setzte sich sofort ans Klavier und spielte. Die Musik war nicht kompliziert, und Noras Arien wunderschön. Nora fühlte sich wieder auf sicherem Grund, und lernte den Haydn in zwei Tagen.

Am Sonntag fuhr sie nach Mannheim. Mark war noch in Würzburg, und Nora war ganz allein. Sie heulte die ganze Nacht, und hielt sich Marks Schlafanzug vors Gesicht. Am Morgen packte sie mit geschwollenen Augen ihr Hochzeitsfoto und Marks Schlafanzug in ihren Koffer. Ihr Zug nach Frankfurt ging pünktlich, und das Flugticket war da, wo es sein sollte. Der Flug war unspektakulär, und Nora wurde etwas zuversichtlicher. Am Flughafen von Neapel wurde sie von einem sehr lustigen kleinen Italiener abgeholt, der ausschließlich italienisch sprach. Nora hatte ihre Italienisch-Prüfung zwar schon abgelegt, aber um den Schein zu bekommen hatte es gereicht, eine italienische Arie zu singen. Nora versuchte mit Händen und Füßen sich verständlich zu machen. Schließlich sang sie die ersten Takte der Musetta-Arie und Paolo stimmte begeistert ein. Als sie in Salerno ankamen, wurde es bereits dunkel. Paolo hielt mit laufendem Motor vor dem Hotel, brachte Noras Koffer hinein, und raste dann plaudernd und gestikulierend weiter durch die verwinkelten, kaum beleuchteten Gässchen der Altstadt. Nora rief ab und zu “si, si!”, und klammerte sich an ihrem Sitz fest.

Das Teatro Vittorio Emanuele lag auf einer kleinen Anhöhe unterhalb des Castello. Paolo parkte das Auto mit quietschenden Reifen direkt davor, und brachte Nora zur Probebühne. Die Probe wurde unterbrochen, und Regisseur Aldo, der Intendant des Teatro Vittorio, begrüßte Nora herzlich. Sein junger Assistent, der sehr gut deutsch sprach, stellte sich als Pavel vor, und am Klavier saß Pianist Marcello.

Die Probe ging weiter, und der attraktive Pavel zog Nora beiseite, um ihr einen kurzen Überblick über die bis jetzt geprobte Szenen zu geben. Nora konnte den Blick nicht von ihm wenden. “Warum ist denn dein Deutsch so gut?”, fragte sie schließlich neugierig. Pavel lachte: “Ich bin in Prag geboren. Dann ging ich zum Studium nach Luzern, arbeitete ein Jahr in Zürich, und lebe jetzt in Salerno, gut, was?” Er strahlte Nora an. Nora bekam weiche Knie. Schnell fragte sie nach den übrigen Kollegen. Da Regisseur Aldo die Probe gerade beendete, klatschte Pavel in die Hände und rief: “Ragazzi, alle mal zu mir, Nora möchte euch kennen lernen.” Der große Bariton Malte schüttelte Nora kräftig die Hand und sagte: “Komm, ich zeig’ dir gleich mal den Zuschauerraum!”. Er zog Nora an der Hand über den Gang zu einer der Logen, und Nora konnte in den Saal blicken. Ihr Gesicht begann zu glühen. Auf dieser Bühne würde sie stehen! In diesen roten Plüschsesseln würde das Publikum sitzen! Bis zum goldenen Kronleuchter hinauf würde sie ihre Stimme strahlen lassen! Glücklich plaudernd ging sie mit Malte zum Probenraum zurück. Die anderen warteten bereits, um gemeinsam ins Hotel zum Essen zu gehen. Auf dem Weg gesellte sich Tenor Hans zu Nora, und die beiden begannen ein angeregtes Gespräch. Hans war in beiden Opern besetzt, und Nora hatte tausend Fragen, die Hans geduldig beantwortete.

 

Beim Essen saß Nora zwischen Manuela, der Sopranistin im “Mond”, und Bassist Carlos. Dann kam der Koch und erklärte begeistert, was er für die Sänger gekocht hatte. Es war laut, es war lustig, und der Wein floss in Strömen. Nora sah sich um und genoss die Stimmung. Die anderen waren zwar schon ein richtiges Team, aber Nora war zuversichtlich, dass sie binnen weniger Tage dazugehören würde. Sie aß mit großem Appetit das köstliche Fleisch, und lachte Tränen über Carlos, der eine Parodie des Regisseurs zum Besten gab. Manuela war eine kapriziöse Diva, aber Nora ließ sich davon nicht beeindrucken. Schon in ihrem zweiten Satz hatte Manuela erklärt, dass sie zwar noch kein Engagement habe, aber natürlich auch nicht das erstbeste annehmen würde. Nora hatte ernst genickt und dann einen Blick von Hans aufgefangen, der die Augen verdrehte. Grinsend nahm Nora einen Schluck Wein und fühlte sich pudelwohl. Nach dem Essen bezog Nora ihr kleines Zimmer. Dann rief sie Mark an und schwärmte begeistert von ihrem ersten Tag.

Das Frühstück am nächsten Morgen bestand aus Cappuccino und abgepacktem Kuchen. Nora traf ihre Kollegen in der ungeheizten, zugigen Bar, wo sich außer ihnen sonst niemand aufhielt. Die Sänger saßen, dick eingepackt in Schals und warme Pullis, an wackligen Tischchen, und packten die klebrigen Gebäckstücke aus. Manuela erschien nicht zum Frühstück. Carlos erzählte grinsend, dass sie sich ihren Kaffee immer aufs Zimmer bringen lasse. Dann ging die Truppe ins Theater, und Nora hatte ihre erste szenische Probe. Sie war nervös, merkte aber schnell, dass sie gut zurecht kam. Sie war perfekt vorbereitet, und die Inszenierung war nicht kompliziert. Die ersten Tage vergingen wie im Flug und Nora war glücklich.

Zwischen den Proben verbrachte sie viel Zeit mit Hans. Mittags gingen sie gemeinsam zum Essen, und abends auf ein Bier in eine der vielen Bars. Hans hatte gerade seine Jugendliebe Angie geheiratet, und lebte mit ihr in Hamburg. Er strahlte eine große innere Zufriedenheit aus, und Nora mochte ihn sehr gern. Ab und zu gesellte sich auch Pavel zu ihnen. Sie machten Spaziergänge zum Castello, bummelten durch Salerno, oder saßen stundenlang im Renzo. Das Renzo war keine typische italienische Bar, in der man seinen Espresso an der Theke trinkt, sondern ein gemütiches Café, üppig ausgestattet mit Sofas und Plüschsesseln. Das Renzo lag auf dem Weg zwischen Hotel und Theater und wurde der Stammplatz der Sänger. Als Nora während der ersten Probenwoche eines nachmittags allein im Renzo saß, stellte Elio, der Sohn des Besitzers, ihr lächelnd einen Grappa hin. Fragend blickte Nora auf, aber Elio grinste nur, zuckte die Achseln und deutete mit dem Kinn zu einem Tisch am Fenster. Dort saß ein älterer Herr und nickte Nora freundlich zu. Irritiert lächelte Nora zurück, trank hastig einen Schluck und verließ mit rotem Kopf das Café. Am nächsten Tag war sie mit Hans im Renzo, als plötzlich zwei Männer von der Straße hereinkamen, und Nora Blumen auf den Tisch legten. Sie grüßten, und verließen das Café wieder. Nora blickte ihnen fassungslos nach, Hans trank grinsend seinen Tee. Nora war verunsichert, weil sie diese Aufmerksamkeiten nicht einorden konnte.

Wenn sie ins Theater ging, unterbrachen die Männer am Straßenrand ihr Gespräch und starrten sie an. Die Bühnentechniker überschlugen sich förmlich, wenn es darum ging, Nora vor der ersten Szene auf ihren Bühnen-Hochsitz zu helfen. Eines Morgens stand auf der Lehne ihres Hochsitzes: “Nora, sei bonazzzza!“. Die Techniker standen grinsend auf der Seitenbühne und beobachteten Noras Reaktion. Sie biss sich auf die Lippen und rannte mit hochrotem Kopf zu Pavel. “Das kann man nicht wörtlich übersetzen”, sagte Pavel und lachte. Er überlegte kurz. “Aber Sophia Loren, die ist bonazza!” Nora schüttelte den Kopf und lachte. “Also, ich weiß wirklich nicht, was los ist. Ich werde hier tatsächlich behandelt wie ein berühmter Filmstar!” Pavel zuckte die Achseln und meinte lakonisch: „Na ja, du bist eben sehr schön!“ Dann lächelte er und verließ die Bühne. Nora starrte ihm nach und begab sich in den abgedunkelten Zuschauerraum. Pavel fand sie schön. Noras Herz raste. Seit einer Woche war sie in Italien, und irgendetwas geschah mit ihr. Nora schloss die Augen. Pavel sah sehr gut aus. Er war jünger als die Sänger, und spielte mit dieser Jungenhaftigkeit. Aber dann war er auch der Mann, der ganz dicht bei Nora stand, wenn er ihr etwas erklärte, und dabei ihren Arm berührte. Nora öffnete die Augen. Die Probe hatte noch nicht begonnen. Pavel stand mit dem Beleuchter auf der Bühne und deutete zu den Scheinwerfern. Nora verschlang Pavel mit den Augen und ertappte sich bei dem Gedanken, mit ihm Sex zu haben. Sie fuhr aus dem Sitz auf. Sie liebte ihn doch nicht. Trotzdem sehnte sie sich nach seinem Körper. Und nach seiner weichen Stimme mit dem bezaubernden Akzent. Nora biss sich auf die Unterlippe und schüttelte unwirsch den Kopf. “Vermutlich steht er gar nicht auf Frauen”, dachte sie. Die Probe begann, und Nora ging nach vorne zur Bühne. Bestürzt nahm sie wahr, wie feucht sie geworden war.

Nora blühte auf. Die Bewunderung, die ihr von allen Seiten entgegengebracht wurde, zeichnete sie aus, und sie fühlte sich beschwingt wie nie zuvor. Sie verbrachte Stunden in den Übungsräumen des Theaters, übte die Konzert-Stücke, die im Winter anstanden, und bereitete sich auf die nächste Premiere in Coburg vor, Künneckes “Vetter aus Dingsda”. Wenn sie eine Pause brauchte bummelte sie durch Salerno, oder wanderte zum Castello. Nora fühlte sich so leicht, sie hätte den ganzen Tag schreien können vor Glück. Erst nach einer Woche rief sie mit schlechtem Gewissen Mark wieder an. Er war aber nicht zuhause. Erleichtert hinterließ sie ihm eine Nachricht.

Die zweite Probenwoche begann. Nora kämpfte gerade mit einer schweren Koloratur, als es an der Tür des Übezimmers klopfte. Pianist Marcello trat ein und reichte Nora einen Becher Kaffee. “Ich war nebenan und hörte dich singen”, sagte er in perfektem Englisch. “Danke”, sagte Nora perplex und nahm die Tasse. Marcello schaute in ihre Noten “Ah, Messias, tolles Stück”, sagte er. Er stellte seine Tasse ab und wollte sich gerade ans Klavier setzen, als seine Frau Alessandra den Kopf zur Türe hereinsteckte. Sie sagte etwas auf italienisch, was Nora nicht verstand und Marcello verabschiedete sich hastig von Nora. Nora setzte sich auf den Klavierhocker und blies nachdenklich in ihren Kaffee.

Marcello war ein komischer Typ. Gut aussehend aber arrogant. Lachte nie, grüßte kaum. Er war Assistent von Placido Domingo in San Francisco, das hatte Carlos ihr erzählt. Beeindruckt hatte Nora gedacht: “Was der wohl von uns Sängern hält?” Aber Marcello sagte nie etwas. Wenn er nicht spielen musste, saß er gelangweilt am Klavier und las. Alessandra, kurzhaarig und pummelig, arbeitete am Theater als Requisiteurin und tauchte sogar bei den musikalischen Proben ständig auf. „Wahrscheinlich kontrolliert sie ihn“, dachte Nora, stellte ihren Kaffee ab und streckte sich. „Würde ich auch, wenn ich so einen hübschen Mann hätte ... “ Ihre Gedanken wanderten zu Mark und sie stellte beklommen fest, dass sie kaum an ihn dachte. Natürlich musste sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren und die vielen neuen Eindrücke verarbeiten, aber das allein war es nicht. Nora klappte die Noten zu und trank einen Schluck Kaffee. Sie vermisste ihn einfach nicht. Sie genoss ihre Freiheit, und sie liebte es, bewundert zu werden. Kam Mark wie ursprünglich geplant nach Salerno, käme es zur Katastrophe. Unruhig begann Nora, im Raum auf und ab zu gehen. Um keinen Preis der Welt wollte sie jetzt ihren Mann bei sich haben. Sie war frei und glücklich wie nie zuvor. Und sie brauchte Mark nicht.

Als die Sänger am Abend ins Hotel zum Essen kamen, war auch Tilmann zur Stelle, der Bariton im “Mond”, der noch eine Premiere in Bonn gehabt hatte. Die Truppe war damit komplett. Carlos hatte die erste Anprobe gehabt, und parodierte unter dem brüllenden Gelächter seiner Kollegen den schwulen Kostümbildner. Als Nora sagte: „Die Hose hebt sich ja noch im Schritt“, und Tilmann spontan antwortete: „Im Knie, gnädige Frau, im Knie!“, war die Verbindung Nora-Tilmann verschweißt und besiegelt. Sie bombardierten sich mit Loriot-Sprüchen, und lachten, bis sie fast vom Stuhl fielen. Tilmann, Nora und Hans verbrachten ab diesem Abend jede freie Minute miteinander. Nora konnte ihr Glück kaum fassen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie eigene Freunde. Sie hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein. An einem Ort, nach dem sie immer gesucht hatte. Die drei wurden unzertrennlich.

Dann entbrannte zwischen Nora und Tilmann ein witziger Wettstreit um Pavels Gunst. Tilmann hatte Pavel bei seiner ersten Probe gesehen, und ihm waren fast die Augen aus dem Kopf gekullert. Grinsend hatte Nora die beiden bekannt gemacht. Dann zog sie Tilmann zur Seite und flüsterte: “Ich find’ den auch umwerfend, aber sagmal, mag er eher Männlein oder Weiblein?” Tilmann grinste und sagte: “Nicht ganz eindeutig, krieg’ ich aber raus!” Pavel genoss das Begehren der beiden, und spielte sein Spiel. Er machte Andeutungen, und zog sie wieder zurück, gab das Kind, gab den Mann, er beherrschte alle Posen. Aber eines Abends beim Bier sagte er plötzlich: „War ganz schön hart für meine Eltern, als sie es erfuhren.“ Nora, Hans und Tilmann sahen ihn an. “Was?“, fragten sie, fast aus einem Munde. „Na, dass ich schwul bin!“, sagte Pavel und gähnte. Nora verschluckte sich und blickte hustend zu Tilmann, der ein Grinsen nicht unterdrücken konnte, und sich dann zur Toilette entschuldigte. Nora gab vor, noch Bier bestellen zu wollen, und ging Richtung Theke, um Tilmann abzufangen. “Schwere Geburt“, sagte der und lachte. “Hätte ich gar nicht mehr vermutet!“ „O.K.“, meinte Nora gutgelaunt, “Lass’ es krachen, aber zerstör‘ nicht unsere Clique!“

Tilmann verliebte sich Hals über Kopf in Pavel, aber der ließ ihn zappeln. Nora hatte ihre Niederlage mit Humor weggesteckt, und bastelte jetzt mit Tilmann gemeinsam an einer Eroberungs-Strategie. Stundenlang saßen die beiden im Renzo und schwärmten von Pavel. Mittlerweile war es richtig kalt geworden. Der Direktor des Hotels hatte sich geweigert, die Heizung vor November anzuwerfen, aber als die Sänger schließlich drohten, den Intendanten des Theaters einzuschalten, gab er sich geschlagen. Die morgendliche Frühstücks-Bar allerdings hatte keinen Heizkörper. Nora hatte sich längst daran gewöhnt, und kam nur noch mit dickem Schal und warmen Socken zum Frühstück.

Eines Morgens war es besonders eisig, und Nora bestellte sich statt des üblichen Cappuccino einen heißen Tee. Fröstelnd setzte sie sich neben Hans. Carlos und Malte hatten inzwischen die Nase voll von Italien und meckerten in einer Tour, als Tilmann und Pavel die Bar betraten. Tilmann fing Noras Blick auf, blinzelte kurz, und setzte sich. Pavel schmetterte: „Guten Morgen!“ und nahm sich einen Kuchen. Carlos fragte missmutig: “Was machst du denn hier?” Pavel grinste, biss genüsslich in seinen Kuchen und meinte: “Ach, ich gehe in der Nähe eures Hotels immer joggen, und hatte heute spontan Lust, euch beim Frühstück zu besuchen.” Er leckte sich die Finger ab. Hans grinste und schaute auf seinen Teller, Tilmann grinste nervös. Dann fragte Malte argwöhnisch: “Wo sind denn deine Sportklamotten?“ Tilmann wurde blass, aber Pavel parierte geschmeidig: „Im Auto, hier um’s Eck. Ich will nach der Probe zum Waschsalon fahren.” Er gähnte und fragte dann: ”Sagmal, Tilmann, kann ich bei dir oder Hans schnell duschen?” Tilmann stotterte, aber Hans rettete die Situation, indem er Pavel seinen Schlüssel reichte. “Klar, 104, erster Stock!” Pavel rief: “Bis später!” und verließ die Bar. Nora und Hans platzten vor Neugier, mussten sich aber gedulden, bis Carlos und Malte zur Probe aufbrachen.

Als die beiden endlich grummelnd die Bar verlassen hatten, begannen Nora und Hans, gleichzeitig auf Tilmann einzureden. Tilmann lächelte, blieb aber vage. “Das war ganz spontan gestern, nach meiner Einzelprobe, erst ein Bier im Renzo, dann wollte Pavel mich zum Hotel begleiten.” Er wurde rot. Nora schaute ihn mit großen Augen an. “Wie seid ihr denn ins Hotel gekommen?” Tilmann lachte. “Ganz einfach, der Portier war nicht auf seinem Platz!” Hans fragte ernst: ”Und wie geht das jetzt weiter mit euch?” Tilmann zuckte die Schultern und schluckte. “Gar nicht, vermutlich. Pavel hat in Zürich einen Freund. Das war jetzt nur mal so, zur Entspannung.” Er brach ab. Nora sah zu Hans, aber der zog nur eine Braue hoch.

 

Nach der Vormittagsprobe saßen die Freunde im Renzo. Elio kam an den Tisch und nahm ihre Bestellung auf. Er machte Nora ein Kompliment über ihre Haare, das sie lachend abtat, und verschwand dann Richtung Küche. Tilmann sagte grinsend: „Du, ich glaube, der ist echt verknallt in dich!” „Ach Quatsch, so sind die hier doch alle“ wehrte Nora ab. „Nein, Elio findet dich schon toll“, sagte Hans. „Er hat gestern so etwas angedeutet.“ Tilmann prostete Nora zu. “Na also, Glückwunsch!”, sagte er lachend. Nora war sprachlos. Elio Renzo. Warum eigentlich nicht. Die Sache mit Pavel hatte sich für sie erledigt, Elio sah gut aus, und ein kleiner Flirt würde ihr großen Spaß machen. Am nächsten Abend gingen Nora und Hans nach der Probe auf ein Bier ins Renzo. Als es fürchterlich zu regnen begann, brachte Elio die beiden schließlich mit seinem Auto zum Hotel. Hans war schon an der Rezepition um die Zimmerschlüssel zu holen, als Elio plötzlich einen riesigen Strauß roter Rosen aus seinem Kofferraum holte. Er legte die Blumen in Noras Arme und sagte: „Vieni con me!“ Nora starrte erst die Rosen an, dann Elio, und brachte kein Wort heraus. Schließlich schüttelte sie den Kopf, deutete hilflos auf ihren Ehering und flüchtete ins Hotel.

In ihrem Zimmer warf sich aufs Bett und brach in Tränen aus. Was war passiert. Eigentlich interessierte Elio sie doch gar nicht. Warum hatte sie dann das quälende Gefühl, etwas Entscheidendes zu verpassen? Nora versuchte nachzudenken. Seit sie in Salerno war, gärte etwas in ihr, drängte nach draußen. Die Sehnsucht nach Freiheit, Hunger nach Leben. Nora setzte sich auf. Das war es. Genau davon hatte Frau Hartmann doch gesprochen. Aber was sollte sie jetzt machen. Der Gedanke, mit Elio zu schlafen verursachte ihr Übelkeit, aber vielleicht musste sie es tun. Ratlos stand sie auf, wusch sich die Hände und legte die Rosen ins Waschbecken.

Es klopfte. Nora atmete tief durch und öffnete. Pavel, Tilmann und Hans standen mit besorgten Gesichtern vor der Tür. Nora bat sie wortlos herein und erzählte was vorgefallen war. Erschöpft sagte sie: “Mist, ich hoffe, Elio nimmt es nicht so schwer ... ” Sie begann zu weinen. Tilmann setzte sich zu ihr aufs Bett und nahm sie in die Arme. Pavel sagte beruhigend: “Du, ich kenne den seit einem Jahr, ich bin sicher, dass er klar kommt!” Hans schaltete sich ein: ”Also, ehrlich gesagt, Nora, als du gestern abend im Renzo zur Toilette gegangen bist, hat Elio mich gefragt, ob er’s bei dir mal versuchen könne, einfach so, aus Spaß!” Hans lächelte. “Er ist sogar verlobt!” Am nächsten Tag ging Nora mit klopfendem Herzen ins Renzo. Elio begrüßte sie lächelnd, und brachte ihr dann ihren Cappuccino, als wäre nichts passiert.

Die dritte Woche begann. Nora und ihre Freunde bewegten sich inzwischen mit schlafwandlerischer Sicherheit durch Salerno und lernten die Sprache nebenbei. Einkaufen im Supermarkt oder Bus fahren ging inzwischen wunderbar leicht, und Nora genoss das Gefühl, allein zurecht zu kommen. Der Dirigent reiste an.

Maestro Manzoni hatte nach dem Krieg in Europa Karriere gemacht, und lebte nur noch vom Ruhm der vergangenen Jahre. Er ging an Krücken, hörte schlecht, und schaffte es nicht mehr, seine eigenen Tempi zu halten. Schon bei der ersten Klavierprobe wurde klar, dass es mit ihm am Pult sehr schwer werden würde. Nora kam dennoch gut zurecht. Sie hatte bei ihren Konzerten soviele Dirigenten erlebt, dass sie Manzonis Unsicherheiten vorausahnte und abfing. Die Sänger waren nach der ersten Probe mit Manzoni ziemlich frustriert und machten sich auf den Weg zu Renzo. Nora merkte, dass sie im Proberaum ihre Noten vergessen hatte und flitzte zurück zum Theater.

Marcello klappte gerade den Flügel zu, als Nora den Raum betrat. “Hey“, sagte er. “Deine Arie war gut!“ Nora wusste gar nicht, wie sie reagieren sollte. Seit dem Nachmittag, als Marcello ihr Kaffee gebrachte hatte, hatte sie mit ihm kein Wort mehr gewechselt. „Danke“, sagte sie lahm und ärgerte sich über ihre Befangenheit. Mit rotem Kopf schnappte sie ihre Noten. “Bis morgen!”, rief sie über die Schulter. Marcello grinste. “Ja, toi toi für die nächste Probe mit Manzoni!” Nora drehte sich verblüfft um und sagte: “Also, dieser Manzoni ist ja wohl eine Katastrophe!“ Marcello lachte leise und schloß die Tür. “Nicht so laut, der ist hier immer noch ein großes Tier. Gegen den darf absolut nichts gesagt werden!” Er zuckte die Achseln. Nora setzte sich auf den Klavierhocker. „Ich fand es aber fast unmöglich, sein Gefuchtel zu kapieren”, sagte sie. “Wie soll das mit Orchester gehen?“ Marcello lachte nur kurz und zog eine Augenbraue hoch. „Warum machst du dir Gedanken? Du bist so professionell, das fängst du locker ab. Um einige deiner Kollegen mache ich mir Sorgen, aber für dich wird das kein Problem sein. Eine ähnlich musikalische Sängerin habe ich nie getroffen. Und ich treffe viele!“ Er nahm seine Tasche und ging zur Tür. Nora starrte ihm mit offenem Mund nach. Marcello drehte sich um und sagte: „Richte den anderen bitte aus, dass ich morgen noch eine Extra-Probe mit euch machen soll.” “Warum?”, fragte Nora. Marcello öffnete die Tür und grinste. “Tja, er hört besser, als ihr denkt, und war mit deinen Kollegen ziemlich unzufrieden.” Und nach einer kurzen Pause sagte er: “Du musst auch kommen, wegen der Ensembles, tut mir leid!“ Nora wurde sich plötzlich der Hitze im Raum bewusst. „Ich komme gern“, sagte sie heiser. Marcello lächelte, musterte sie einmal von oben bis unten und verließ den Raum.

Nora schlug das Herz bis zum Hals, ihr Gesicht glühte. Dann packte sie ihre Noten, rannte durch die Gassen und tanzte strahlend ins Renzo. “Wo warst du denn so lange?”, fragte Malte mürrisch. “Wir diskutieren gerade über die Probe”, erklärte Hans. Nora nickte, setzte sich zwischen Tilmann und Hans und bestellte bei Elio ein Bier. Dann erzählte sie den Kollegen von der Zusatzprobe am folgenden Morgen. Carlos schlug ärgerlich auf den Tisch, Manuela beschwerte sich über die Unverschämtheit, unter einem solchen Dirigenten singen zu müssen, Hans versuchte, die Wogen zu glätten. Nora war mit ihren Gedanken ganz woanders. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Marcello irgendwelche Absichten hatte. Er mochte ihre Stimme, weiter nichts. Und schließlich war ja auch dauernd seine Frau in der Nähe. Nora ertappte sich bei der Überlegung, was sie für die Probe am kommenden Tag anziehen würde. Sie seufzte und bestellte noch ein Bier. Tilmann stieß sie an. „Sagmal, hörst du mir überhaupt zu?“ Nora fuhr zusammen: „Sorry, aber ich hatte eben so ein gutes Gespräch mit Marcello.“ Dann wurde sie rot. Tilmann lachte. “Pass‘ bloß auf, dass seine Frau dir nicht die Augen auskratzt! Der Bursche ist ungeheuer attraktiv!“ Er gähnte, zahlte sein Bier und verließ mit Pavel das Renzo.

Bei der Probe am nächsten Tag behandelte Marcello Nora genauso wie alle anderen, und Nora registrierte besogt ihre Enttäuschung. Die Probe war gut. Marcello hatte ein Gespür für Sänger, er atmete mit und korrigierte kompetent. Am Schluss der Probe verließen die Sänger plaudernd den Raum, bis auf Nora, die bewusst beim Wegpacken ihrer Noten trödelte. Marcello schloss die Tür und trat neben sie. Noras Atem beschleunigte sich. “Sollen wir deine Arie nochmal durchgehen?”, fragte er. “Ein paar Stellen sind mir noch aufgefallen.” Nora nickte und packte ihre Noten wieder aus. Ihre Hände zitterten. Dann spielte er die ersten Takte und Nora sang. Er war gut. Die richtige Mischung aus Nachdruck, wenn es um Präzision ging, und Begeisterung für Musik und Stimme. Das deutsche Repertoire liege ihm besonders am Herzen, erzählte er Nora. Er schwärmte von Schumann und Brahms, kannte sämtliche Strauss-Lieder und kaum gespielte Schubert-Opern. Auch mit deutscher Literatur kannte er sich aus. Nora war verblüfft. Marcello war plötzlich ganz anders. Nora konnte den Blick nicht von ihm wenden, so fasziniert war sie. Dann stand plötzlich Alessandra in der Tür und deutete auf ihre Uhr. Marcello nahm seinen Klavierauszug, sagte unverbindlich „Brava!“ und verliess mit Alessandra den Raum.

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