Pamina hat Hunger

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Die Orchesterproben waren abgeschlossen, und die Verständigung zwischen Manzoni am Pult und den Sängern auf der Bühne hatte besser funktioniert als erwartet. Am Hauptprobenabend saß Nora in der Maske. Ihre Oper, der “Apotheker”, wurde im ersten Teil gespielt. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Es waren noch fünf Tage bis zur Premiere, und Nora verdrängte alle Gedanken an Mark und Mannheim. Niemals zuvor hatte sie sich so gut gefühlt wie hier in Salerno. Wie sollte sie nach dieser Erfahrung in ihren Alltag zurückfinden? Ohne ihre neuen Freunde, ohne die schwebende Leichtigkeit dieser Wochen. Und ohne Marcello auf der Seitenbühne. Nora schluckte die Tränen hinunter. Sie wollte nicht zurück nach Deutschland. Noch fünf Tage.

Schweren Herzens ging Nora zur Bühne. Der “Apotheker” lief ohne größere Pannen durch. Nora schminkte sich schnell ab und begab sich in den Zuschaurerraum. In der letzten Reihe saß Marcello. Er fixierte Nora und deutete dann auf den Sessel neben sich. Noras Puls beschleunigte sich. Als sie sich neben ihn setzte sagte er: “Du warst gut!”, und sah ihr in die Augen. Das Licht ging aus, und die Ouvertüre zum “Mond” begann. Nora schloss die Augen. Nichts existierte mehr. Nur die Musik. Und Marcellos Arm neben ihrem. Dann begann der erste Akt mit Tilmanns großer Arie, und Nora öffnete die Augen. Drei Chorherren kamen in den Zuschauerraum, winkten, und warfen Nora Kusshände zu. Einer von ihnen ging sogar auf die Knie. Nora lachte und winkte zurück. Marcello verzog keine Miene, und Nora konzentrierte sich wieder auf Tilmann. Plötzlich sagte Marcello: “Du hast ja allen hier ganz schön den Kopf verdreht!“ Nora antwortete ohne nachzudenken: “Aber deinen nicht, oder?“ Er blickte sie an, und sie konnte trotz der Dunkelheit das Glitzern in seinen Augen sehen. „Weißt du, Nora, ich bin nicht so dumm wie die anderen“, sagte er und wandte sich wieder dem Geschehen auf der Bühne zu. Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, war plötzlich geladen mit winzigen elektrischen Teilchen, und Noras Atem ging schneller.

Dann ging auf einmal das Licht an, Aldo kletterte laut schimpfend vom Zuschauerraum auf die Bühne, und die Probe wurde für 10 Minuten unterbrochen. Marcello vertiefte sich in seine Partitur. Nora biss sich auf die Lippen und überlegte fieberhaft, was sie sagen sollte. Dann kam Alessandra in den Zuschauerraum, und blickte sich suchend um. Als sie Marcello neben Nora sitzen sah, bekam sie schmale Augen und steuerte zielstrebig auf die beiden zu. „Na, verbesserst du mal wieder dein Deutsch!?“, fragte sie und schlug die Arme übereinander. Nora errötete und blickte zu Boden, Marcello sagte gar nichts. Da kam Aldo wieder in den Zuschauerraum, klatschte in die Hände, und das Licht ging wieder aus. Alessandra fluchte leise und verließ den Zuschauerraum. Nora und Marcello sahen sich an, und Noras Herz begann unkontrolliert zu schlagen. Marcello neigte sich zu Nora und flüsterte ganz dicht an ihrem Ohr: “Ich will allein mit dir sein!” Nora konnte nur nicken. Er zischte: „Geh’ links raus und warte vor der Treppe, ich komme gleich nach, aber aus der anderen Richtung.“ Nora nickte wieder und erhob sich. Ihre Beine drohten nachzugeben, und ihr Herz raste. Ungesehen schlüpfte sie aus dem Zuschauerraum.

Marcello kam kurz nach ihr ins Foyer. Er zog Nora hinter einen Vorhang und küsste sie hart und leidenschaftlich. Noras Körper reagierte ohne ihr Zutun. Sie presste sich an ihn und schob ihre Zunge in seinen Mund. Ihre Hände krallten sich in seinen Hintern. Marcello keuchte. Dann zog er Nora in eine Loge, wo sie hungrig übereinander herfielen. Nora wollte nicht mehr denken. Jetzt hatte sie Marcello da, wo sie ihn haben wollte. Und es war verboten. Sie tat also genau das, was Frau Hartmann ihr aufgetragen hatte. Nora fühlte überhaupt keine Reue. Sie wollte diesen Mann zwischen ihren Beinen, jetzt sofort. Als es vorbei war lag Nora schwer atmend in Marcellos Armen und versuchte, ein schlechtes Gewissen zu haben. Aber es gelang ihr nicht. Mark war so weit weg. Ihr altes Leben hatte nichts mehr mit ihr zu tun. Es würde nie mehr so sein wie es war. Sie hatte sich dafür entschieden, etwas Verbotenes zu tun. War sie jetzt erwachsen, weil sie mit einem anderen Mann geschlafen hatte? Sie öffnete die Augen und beugte sich über Marcello. Sie küssten sich leidenschaftlich und Nora fühlte sich unverwundbar. Sie war jetzt endlich eine Frau. Verrucht und unwiderstehlich. Marcello liebkoste ihre Brüste. „Morgen früh muss ich das Quartett mit euch machen, das hat vorhin nicht so gut geklappt. Und morgen abend ist Generalprobe“, seine Zunge kreiste um ihre Brustwarzen und Nora stöhnte. “Kommst du nach deinem “Apotheker” wieder in diese Loge?“ Nora schlang die Beine um ihn. „Morgen abend erst!”, sagte sie lachend und setzte sich auf ihn. “Wie soll ich das aushalten?“ „Sei bonazza!“, sagte er und zog sie an sich.

Als das Licht anging, suchten sie hastig ihre Klamotten zusammen, und gingen getrennt zurück. Nora konnte es kaum erwarten, Tilmann, Hans und Pavel alles zu erzählen. Als die drei nach draußen kamen, wartete eine zerzauste, strahlende Nora mit roten Flecken auf den Wangen im Foyer. Hans grinste nur, aber Tilmann und Pavel wollten alles ganz genau wissen und nahmen Nora in ihre Mitte. Bei Prosecco, den Nora im Renzo euphorisch spendierte, erzählte sie ihren Freunden stolz von ihrer Eroberung. Aber als sie zwei Stunden später allein in ihrem dunklen Hotelzimmer saß, und die Straßenlaterne vor ihrem Fenster unbarmherzig das Hochzeitsbild auf ihrem Nachttisch anstrahlte, bröckelten Triumph und Lust von ihr ab wie alter Putz. Sie hatte Mark betrogen. Zum ersten Mal. Drei Monate nach ihrer Eheschließung. Nora schlug die Hände vors Gesicht.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, war von Reue und Schmerz nicht viel übrig. Noch drei Tage. Und Frau Hartmann hatte es erlaubt. Nora drehte ihr Hochzeitsbild zur Wand und sprang unter die Dusche. Dann rannte sie ins Theater um sich einzusingen. Die Stimme war sofort da. Nora fühlte das Leben in ihrem Körper pulsieren wie nie zuvor. Es war, als hätte ihr Körper nun eine übergeordnete Rolle bekommen. Der Körper gab vor, was er wollte, und ihr Kopf hatte keinen Einfluss mehr darauf. Kurz vor der Probe steckte Marcello den Kopf zur Türe hinein. Nora zog ihn ins Zimmer, schloss schnell die Tür und küsste ihn. Marcello löste sich schließlich schwer atmend, räusperte sich und meinte grinsend: ”In dem Zustand kann ich doch keine Probe abhalten!” Dann berührte er kurz Noras Wange und sie verließen gemeinsam den Raum. Die Probe begann. Nora war fasziniert von Marcellos Musikalität und Intelligenz. Er wusste ganz genau, warum das Quartett auf der Bühne nicht geklappt hatte. Er ließ die Sänger die gleichen Bewegungen machen wie auf der Bühne und zeigte ihnen, wie sie den Rhythmus der Musik in die Bewegung integrieren konnten. Nora sang um ihr Leben, und verschlang Marcello mit den Augen. Nach der Probe ging Marcello an Nora vorbei Richtung Ausgang. Er berührte kurz ihren Arm und flüsterte: „Du bist so unglaublich gut!“ Nora glühte vor Stolz. Bei der Generalprobe am Abend sang Nora nur für Marcello. Danach schminkte sie sich flüchtig ab und schlich ungesehen zur Loge. Marcello wartete schon.

Der nächste Tag, der Tag vor der Premiere, war frei für die Musiker und Sänger. Aldo hatte nachmittags aber noch eine technische Probe angesetzt, für die er Alessandra als Requisiteurin brauchte. Um kurz vor vier klopfte Marcello an Noras Tür. Sie öffnete ihm nackt. Nach zwanzig Minuten klopfte der Portier, und ließ einen Schwall italienischer Schimpfworte vom Stapel, bevor er die Tür wieder zuknallte. Nora erschrak und zog die Decke bis ans Kinn. Marcello setzte sich auf und seufzte. “Keine Männerbesuche!”, sagte er, und ging ins Bad. Nora sah ihm verständnislos nach. “Was?”, fragte sie. “Ja”, rief er und drehte die Dusche auf. “Das ist Italien! Ich hab’ dem vorhin gesagt, dass ich dir nur kurz den geänderten Probenplan geben will, nur deshalb hat er mich überhaupt zu dir gelassen!” Marcello und Nora verließen das Hotel und machten sich auf den Weg zum Corso Garibaldi. Es war ein wunderbarer Nachmittag. Sie bummelten, guckten Schaufenster, und tranken einen caffè nach dem anderen. Marcello erzählte vom Tod seines Vaters. Und dass er den kompletten Hesse gelesen habe. Nora hing an seinen Lippen und wünschte sich, die Zeit festhalten zu können. Sie wollte nie mehr fort aus Salerno, nie wieder weg von Marcello. Sie war verliebt und sehnte sich danach, einfach mit ihm wegzulaufen, woanders neu anzufangen. Wie es um Marcellos Gefühle bestellt war, wusste sie nicht. Wie sollte sie diese Begegnung einordnen. Gab es für sie und Marcello überhaupt eine Zukunft. Mit aller Gewalt schob Nora die Gedanken weg und nahm Marcellos Hand. Der Augenblick zählte, nicht die Zukunft. Mit allen Sinnen würde sie diese letzten Stunden mit ihm genießen. Marcellos Handy klingelte, Alessandra. Ihre Probe sei zuende, wo Marcello stecke. Marcello murmelte zwei Sätze, klappte sein Handy zu und stand auf. Bedauernd zuckte er die Schultern. Dann berührte er kurz Noras Gesicht und verließ die Bar Richtung Theater.

Nora sah ihm fassungslos nach. Dann kamen die Tränen. Noch nie hatte sie sich so verzweifelt nach jemandem gesehnt, wie nach diesem Mann. Weinend rannte sie zum Hotel. Hans und Tilmann saßen in der kalten Bar und tranken Tee. Schluchzend ließ Nora sich auf einen Stuhl fallen und vergrub den Kopf in den Armen. Hilflos versuchten die beiden Freunde, sie zu beruhigen. Nach einigen Minuten wurde Noras Schuchzen schwächer, und sie hob den Kopf. Dann holte sich auch einen Tee und fragte nach Pavel. Hans blickte zu Boden und Tilmann schüttelte den Kopf. “Ich weiß nicht, was los ist”, begann er traurig. ”Wir haben tollen Sex, wirklich. Aber er sagt nichts über seine Gefühle, oder ob es weitergeht mit uns ... “ Nora schnaubte. “Willkommen im Club!” Dann putzte sie sich die Nase, versuchte zu lächeln und sagte: “Wisst ihr was? Warum essen wir nicht nett im Renzo und konzentrieren uns mal wieder gemeinsam auf unsere große Premiere morgen?” Erleichtert hob Hans den Kopf. Tilmann grinste und sagte: “Ja, aber bitte ohne Pavel und Marcello!”

 

Nora hatte Premierentage immer genossen; das Magenkribbeln beim Aufwachen, die Spannung im Körper und den sofortigen Adrenalinausstoß. Aber Nora konnte nur an Marcello denken. Ruhelos ging sie in ihrem Zimmer auf und ab. Dann beschloss sie, einen Spaziergang zu machen. Schnell zog sie sich an und verließ das Hotel, nachdem sie an der Rezeption eine Nachricht für ihn hinterlassen hatte. Ziellos lief sie den Corso Garibaldi entlang, und landete schließlich in einer Bar. Sie bestellte einen Cappuccino und versuchte, die dunklen Wolken in ihrem Gemüt zu vertreiben. Übermorgen saß sie im Flieger nach Hause. Gestern abend hatte Mark ein Fax geschickt, mit Glückwünschen für die Premiere. In den vergangenen Wochen hatte Nora kaum noch mit Mark telefoniert. Er hatte es zwar ab und an im Hotel versucht, Nora aber nie erreicht.

Nora rührte nachdenklich ihre Milch in den Kaffee und seufzte. Wie oft hätte sie ihn anrufen können, und hatte es aus fadenscheiningen Gründen, zuviele Proben, schlechte Verbindung, nicht getan. Nora schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und bestellte ein Cornetto. Mit aufgestütztem Kinn sah sie dem bunten Treiben vor dem Fenster zu. Für die Italiener war das ein ganz normaler Arbeitstag. Nora schloss die Augen und malte sich zum hundertsten Mal aus wie es wäre, hierzubleiben. Aldo hatte nach einer Probe angedeutet, dass in der kommenden Spielzeit eine „Cosi“ geplant sei, mit Marcello am Pult, und ob Nora die Fiordiligi schon gesungen habe. Nora wagte nicht zu hoffen, dass daraus etwas werden könnte. Wieder herkommen. Zu Marcello. Aber es ging ja nicht nur um ihn. Nora blinzelte eine Träne weg. Wie sollte sie es ohne Tilmann und Hans aushalten. Zum ersten Mal Freunde, eigene Freunde. Nora war in Coburg glücklich. Sie liebte ihr Theater und ihre Kollegen. Aber jetzt, in diesem Moment, fühlte sie gar nichts. Und Mark. Die Ausweglosigkeit ihrer Situation sprang Nora an wie ein wildes Tier.

Da betrat Marcello die Bar. Er musterte alle Anwesenden, dann kam er auf Nora zu und küsste sie. Nora spürte, wie in seiner Umarmung ihre Anspannung nachließ. Marcello schob sie von sich und fragte mit gerunzelten Brauen: “Was ist los?“ Nora sagte leise: “Ich versuche mir vorzustellen, wie es übermorgen um die Zeit sein wird.“ „Bei deinem Mann?“ „Ja, bei meinem Mann.“ Es klang trotzig, Marcello sah zu Boden. Nora schmiegte sich an ihn. “Komm“, sagte sie „Ich will dich!“ Aber Marcello schüttelte den Kopf. “Ich habe nur eine Stunde Zeit. Alessandra ahnt etwas.” Nora schluckte ihre Enttäuschnung hinunter, legte die Hand an seine Wange und sagte: “Dann lass uns hier bleiben und einfach zusammen sein, ja?” Sie redeten wenig. Küssten sich immer wieder und hielten sich an den Händen. Die Zeit flog, und Marcello begann, auf die Uhr zu sehen. Er nahm Nora fest in die Arme, und wünschte ihr viel Glück für die Premiere.

Mit schwerem Herzen ging Nora zurück zum Hotel. In ihrem Zimmer stellte sie überrascht fest, dass sie bis zu Marcellos Glückwünschen eben nicht an ihre Premiere gedacht hatte. Und plötzlich freute sie sich unbändig auf den Abend und auf die Musik. Hastig packte sie ihre Vorstellungstasche mit Obst, den Noten, Wasser, einem Päckchen Salbeibonbons und einem Paar Ersatzsocken. Es war noch viel zu früh um ins Theater zu gehen, aber sie hielt es allein im Hotelzimmer nicht aus. Und vielleicht war Marcello ja auch schon da. Im Theater liefen die Vorbereitungen bereits auf Hochtouren. Nora betrat den Zuschauerraum und vergaß einen Moment ihre Sorgen. Es wurde eingeleuchtet, und die Bühne erstrahlte in tausend Farben. Der Staub der Plüschsessel tanzte im Licht der Scheinwerfer. Die Techniker flitzen auf der Bühne hin und her, und riefen Nora nette Anzüglichkeiten zu, die sie inzwischen auch parieren konnte. Alessandra kontrollierte den Requisitentisch, Marcello war nirgends zu sehen. Nora betrat ihre Garderobe, und setzte sich auf den Stuhl vor dem großen Spiegel. Sie kam zur Ruhe. Egal, welche Stürme in ihr tobten, egal, was mit ihr und Marcello passierte, sie hatte jetzt Premiere. Zum Singen war sie hergekommen, das war ihre Aufgabe. Nora zog ihr Kostüm an.

Der Abend war ein großer Erfolg und Nora sang gut. Der Saal war ausverkauft, und die Italiener bedachten die jungen Sänger mit freundlichem, langanhaltendem Applaus. Die Stimmung hinter der Bühne wurde euphorisch. Tilmann kam mit aufgelöster Perücke und einer Magnum-Flasche Sekt in Noras Garderobe. Nora rief durch den Gang: „Anstoßen, Beviamo!“, und alle drängten sich lachend in Noras Garderobe. Marcello gratulierte Nora wie den anderen und zog sich dann zurück. Er schaute sie ab und zu vom anderen Ende des Raumes an, doch bevor ihre Blicke sich festsaugen konnten, wandte er den Kopf ab.

Die Premierenfeier fand bei Renzo statt, und weil es viel zu eng war, gab es ein lustiges, lautes Gedrängel um die verfügbaren Plätze. Tilmann zog Nora lachend auf den leeren Stuhl zwischen sich und Marcello. Nora wollte lauthals protestieren, aber dann sah sie Alessandra direkt gegenüber sitzen, entspannt zurückgelehnt, mit überschlagenen Armen, siegessicher. Kraftlos sank Nora auf den freien Stuhl. Aldo schlug mit der Gabel an sein Glas und sprach einige Worte. Dann kam das Essen und die Stimmung wurde ausgelassen. Nora blickte ohne Appetit auf ihren Teller. Marcello sah sie nicht an und sprach nur das Nötigste. Alessandra schleckte genüsslich die Sahne von ihren Erdbeeren und sah Nora immer wieder zufrieden lächelnd an. Und Nora war klar, dass Alessandra Bescheid wusste, und Marcello vermutlich die Hölle heiß gemacht hatte. Das perfekte italienische Klischee. Die Matriarchin mit dem Nudelholz. Die er nie verlassen würde, weil er zu schwach war. Nora wurde schwarz vor Augen. Hastig nahm sie einen großen Schluck Wein.

Die Feier löste sich früh auf, denn am nächsten Abend stand die zweite und letzte Vorstellung an. Nora fand keine Möglichkeit, sich von Marcello zu verabschieden, und fuhr mit Tilmann, Hans und Pavel ins Hotel. Während Tilmann den Portier ablenkte, robbte Pavel auf dem Boden an der Rezepition vorbei. Vor den Zimmern brach Nora in Tränen aus. Pavel zog eine Flasche Rotwein aus seinem Rucksack, nahm Nora ihren Zimmerschlüssel aus der Hand und kommandierte Tilmann und Hans in Noras Zimmer. Sie setzten sich mit ihr aufs Bett, gaben ihr Wein aus dem Zahnputzglas, und nahmen sie abwechselnd in die Arme. Nora klagte sich an. Sie klagte Marcello an und gestand ihre Angst. Angst vor der Heimkehr, vor Mark, und die Angst, ihre Freunde zu sehr zu vermissen. Tilmann versuchte Nora zuzureden. “Du musst erst mal rausfinden, was mit dir und deinem Mann los ist. Und wenn Marcello wirklich der Mann für dich ist, wird er es bleiben. Aber kümmer’ dich mal um dich und deine Ehe. Fliehen wäre jetzt keine gute Lösung!” Nora schniefte und nickte. Hans sagte: ”Naja, und was uns angeht: ich werde euch jeden Tag anrufen, da könnt ihr ganz sicher sein!” Tilmann lachte. “Jawohl! Und spielt ihr in Coburg jetzt nicht „Vetter aus Dingsda?“ Nora wischte die Tränen ab, lächelte zaghaft und nickte. “Super, das schau’ ich mir bald an!“ sagte Tilmann. Die vier umarmten sich lange und trennten sich dann für die Nacht.

Der letzte Tag brach an. Nora erwachte erst gegen Mittag. Sie beschloss, das Hotel nicht zu verlassen, falls Marcello vorbeikam. Die Stunden verrannen, aber Marcello kam nicht. Nora saß auf ihrem Bett und versuchte zu lesen, aber sie verstand kein Wort von dem, was sie las. Gegen fünfzehn Uhr wurde sie so unruhig, dass sie ihre Tasche für den Abend packte. Wieso meldete er sich nicht. Sie nahm den Hörer ab. Die Leitung funktionierte. Sie rief die Rezeption an, keine Nachricht. Noras Magen hob sich, und die Tränen sprangen aus ihren Augen. Sie warf sich aufs Bett und schluchzte. Als sie sich leer geweint hatte, blieb sie noch lange mit dem Gesicht im Kissen liegen. Tilmann hatte recht. Sie musste woanders ansetzen. Marcello hatte nur eine Entwicklung in Gang gebracht, mit der sie irgendwie umgehen musste. Sie konnte ihm keine Vorwürfe machen, aber sie war so verliebt! Nora erschrak und setzte sich auf. Sie würde nicht mehr mit ihm schlafen können. Morgen war sie weg. Eisige Kälte kroch in ihre Glieder. Aber dann stand sie auf. Obwohl es sie unmenschliche Kraft kostete, trug sie frische Wimperntusche auf und sagte zu ihrem Spiegelbild: „Sono Cantante! Ich bin Sängerin!” Tapfer lächelte sie sich zu und machte sich auf den Weg ins Theater.

Alessandra stand mit ihrem Kollegen Luigi am Requisitentisch und plauderte. Marcello saß daneben und las Zeitung. Nora ging an ihnen vorbei und grüßte. An der Tür zu den Garderoben drehte sie sich um und sah Marcello mit hochgezogenen Augenbrauen an. Marcello schüttelte bedauernd den Kopf, zog die Schultern hoch, und deutete mit dem Kinn Richtung Alessandra. Nora ging in ihre Garderobe, setzte sich an ihren Schminktisch und legte weinend den Kopf in die Arme. Marcello kam herein, blickte verstohlen über die Schulter und flüsterte: ”Ich hab’ nur eine Minute, die beiden sind im Fundus.” Dann sah er, dass Nora weinte. “Was ist denn los?”, fragte er erschrocken und zog sich einen Stuhl heran. Nora schluchzte: ”Was los ist? Wie soll ich denn morgen zurückfahren, ohne dich?” Marcello zuckte hilflos die Schultern, blickte nervös zur Tür, und wartete schließlich, bis Nora sich beruhigt hatte. Traurig sagte sie: ”Ich möchte hierbleiben, in Italien, mit dir!” Mit brennenden Augen sah sie ihn an. Eine Tür schlug zu. Marcello zuckte zusammen und sprang auf. “Hier”, sagte er hastig, und gab Nora einen kleinen Zettel mit einer Telefonnummer. „Ruf mich an, wann immer du willst”, sagte er leise. “Das ist die Nummer der Oper, hinterlasse eine Nachricht, die geben mir dann Bescheid!“ Dann notierte er Noras Coburger Nummer, drückte ihren Arm und verabschiedete sich, denn sein Flug nach San Francisco ging noch am selben Abend. Er berührte Noras Gesicht ganz zart und ging. Nora weinte minutenlang. Und dann fiel ihr Blick auf den Zettel. Er wollte den Kontakt halten. Es war nicht vorbei. Sie würden sich wiedersehen. Es war nicht vorbei.

Nach der Vorstellung begaben die Sänger sich zu Renzo, um Abschied zu feiern. Es waren die letzten Stunden in Salerno, aber Nora wusste, dass sie wiederkommen würde. Sie wollte schnell italienisch lernen und dann alle italienischen Theater und Agenturen kontaktieren. Immer wieder blickte sie zur Tür, aber Marcello kam nicht. Dann griff sie in ihre Tasche, versicherte sich des Zettels mit seiner Nummer, und hatte plötzlich keine Lust mehr zu feiern. Sie verabschiedete sich von Aldo und Manzoni, die ihr noch einmal ihre Hochachtung aussprachen. Unter Tränen fiel sie Pavel und Elio um den Hals, und ging dann mit Hans und Tilmann zum Hotel. Tilmann hatte geweint, aber Nora sprach ihn nicht darauf an. Vor den Zimmern umarmten sie sich zu dritt, wortlos. Am nächsten Morgen fuhren die drei zusammen zum Flughafen. Adressen und Telefonnummern waren längst ausgetauscht, es gab nichts mehr zu sagen. Tilmann flog nach Köln, Hans nach Hamburg, Nora nach Stuttgart. Sie ging durchs Gate und drehte sich nicht mehr um. Ihr Herz war schwer, und sie konnte vor Tränen nichts sehen.

Nora schob den Wagen Richtung Ausgang und sah Mark sofort. Er winkte mit einem großen Blumenstrauß. Nora zwang sich zu lächeln, Panik stieg in ihr auf. Sie fiel Mark um den Hals und versuchte verzweifelt, sich nichts anmerken zu lassen. Sie hakte sich bei ihm ein, plapperte munter, und legte im Auto den Kopf an seine Schulter. Mark antwortete auf Noras Fragen zunehmend einsilbig, und Nora wusste, dass sie sich umsonst bemühte. Im Treppenhaus kämpfte Mark mit Noras Koffer, und Nora betrat die Wohnung allein. Sie machte kein Licht, und der vertraute Geruch trieb ihr die Tränen in die Augen. Vor drei Wochen hatte sie weinend genau hier gestanden, weil sie sich nicht vorstellen konnte, ohne Mark in die Fremde zu ziehen. Und jetzt? Sie hatte ihren Mann betrogen, drei Monate nach der Hochzeit. Ihre Welt lag in Trümmern, und sie war ganz allein. Kein Tilmann, kein Hans. Und kein Marcello.

Mark stellte mit einem Stöhnen den Koffer ab und machte das Licht an. Gequält schloss Nora die Augen. Mark nahm zwei Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich aufs Sofa und sagte: “Ich würde jetzt gern wissen, was los ist, Nora.” Nora erschrak und überlegte fieberhaft. Es wäre leicht, ihm einfach alles zu sagen. Zu beichten, heulend zusammenzubrechen. Aber wenn sie Mark jetzt tatsächlich alles erzählte, dann müsste sie ihm versprechen, den Kontakt zu Marcello abzubrechen. Das konnte sie nicht. Und wenn das bedeutete, jetzt lügen zu müssen, dann würde sie es tun. Nora setzte sich neben Mark aufs Sofa.

 

”Weißt du Mark”, begann sie leise, “Es war gar nicht so einfach hier wegzufahren, ohne dich.” Nora erzählte von der Herausforderung, das Stück in so kurzer Zeit zu lernen. Von der Erfahrung, sich in einem fremden Land, in einer fremden Sprache zurecht finden zu müssen. Und sie erzählte von Salerno. Von der Freiheit, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben gefühlt hatte. Von der Erkenntnis, dass sie es auch alleine schaffen könnte. Nora gewann an Sicherheit. Was sie sagte, stimmte. Sie wurde in Salerno geschätzt und bewundert für das, was sie konnte. Nach einem kurzen Zögern erzählte Nora von Elio. Und von der Abfuhr, die sie ihm erteilt hatte. Mark begann zu grinsen. Aber Nora blieb ernst, denn sie kapierte in dem Moment, dass eben die Bewunderung, die ihr von allen Seiten zuteil geworden war, und das Gefühl, endlich selbständig zu sein, Marcello den Boden bereitet hatte. Mark schaute an ihr vorbei als er fragte: “Aber ein ganz bestimmter Typ hat dich doch sicher auch bewundert, oder?“ Jetzt war der Moment da, und Nora hatte die Fäden in der Hand. Wieder das Mädchen sein, das schuldig geworden war und um Absolution bittet. Oder schweigen und aussitzen. Akzeptieren, dass sie bei vollem Bewusstsein den Ball angeschnitten, und ihm eine völlig unerwartete Richtung gegeben hatte. Sie musste nicht lange überlegen und sagte mit einer wegwerfenden Handbewegung: “Ja, klar, da war dieser Pianist, Marcello.” Seinen Namen auszusprechen tat Nora gut. “Der hat auch heftig geflirtet, aber keine Sorge, seine Frau war immer in der Nähe! Außerdem bin ich mir gar nicht so sicher, ob der nicht eher auf Jungs steht!“ Mark sah sie mit gerunzelter Stirn an, aber Nora spürte, dass er ihr glauben wollte. „Du bist total verändert, Nora“, sagte er leise. Sie versuchte zu lachen: „Ach Quatsch, das war nur alles ein bisschen viel, ich bin durcheinander von den ganzen Eindrücken!”

Als sie im Bett lagen, wollte Mark mit ihr schlafen, aber Nora konnte nicht. Sie spürte Marcello, spürte sein Hände und seine Lippen. Sie versuchte mitzumachen, aber sie bewegte sich mechanisch und wurde nicht feucht. Mark sagte kein Wort danach. Er nahm sein Bettzeug und ging ins Wohnzimmer. Nora sah ihre Lage zu klar, um sich in einen Weinkrampf zu flüchten. Sie wusste, dass es kein Zurück gab. Dass sie in der Loge des Theaters eine Entscheidung gefällt hatte, deren Konsequenzen sie jetzt tragen musste.

Als sie am nächsten Morgen ins Wohnzimmer kam, war Mark längst in der Schule. Er hatte den Frühstückstisch gedeckt, ein Zettel lehnte an der Kaffeetasse. Nora schenkte sich Kaffee ein und nahm den Zettel. „Mittagessen beim Vietnamesen um eins?” Nachdenklich rührte Nora Milch in ihren Kaffee. Dann sprang sie auf, ging zum Telefon und wählte Frau Hartmanns Nummer. Frau Hartmann hatte ihre Mittagspause geopfert, und hörte sich Noras Geschichte mit wachsendem Interesse an. Dann räusperte sie sich. “Wissen Sie, Nora, als sie mir damals von ihrer bevorstehenden Hochzeit erzählt hatten, hielt ich die Entscheidung für falsch.“ Nora riss die Augen auf. Frau Hartmann fuhr fort: ”Doch dann wurde mir klar, dass diese Hochzeit, genau zu diesem Zeitpunkt, richtig war. Die Hochzeit war der Ausgangspunkt für den Weg, den sie jetzt beschritten haben. Die Weggabelung. Der Abschluss und der Neubeginn. Die Entscheidung für einen neuen Weg. Ohne die Sicherheit des Trauscheins hätten Sie niemals den anderen Weg eingeschlagen!“ Nora wurde bleich. „Aber ich habe betrogen und gelogen!“, rief sie. “Ja.”, sagte Frau Hartmann geduldig. “Aber Sie versuchen sich zu finden, und das geht nicht immer ohne Lügen.” Nora verzog das Gesicht. „Und Marcello? Ich vermisse ihn so!“ Frau Hartmann machte eine vage Handbewegung: „Messen sie dem Mann doch nicht soviel Bedeutung bei!“ Nora zuckte zusammen. „Das war eine Affäre, die sie gebraucht haben, um loszugehen. Schauen Sie jetzt erst mal auf ihren Mann und auf sich. Ich glaube nicht, dass es viel bringen würde, hier alles stehen und liegen zu lassen, und mit dem Italiener durchzubrennen.“

Als Nora die Praxis verließ, fühlte sie sich etwas besser. Sie stieg in die Straßenbahn, und setzte sich ganz nach hinten. Frau Hartmann hatte ihr keinerlei Gebrauchsanweisung für die kommenden Tage mitgegeben, ihr lediglich ans Herz gelegt, Mark nichts von Marcello zu sagen. Nora lehnte den Kopf an die Scheibe und schloss die Augen. Der nächste Termin war erst in drei Wochen, Frau Hartmann hatte Urlaub. Am Rathaus stieg Nora aus und ging die Erikastraße entlang zum Vietnamesen. Mannheim war ihr so vertraut. Es war ihre Stadt. Hier hatte sie zu singen begonnen, ihre erste eigene Wohnung gehabt und Mark getroffen. Aber heute war Mannheim ihr beängstigend fremd. Am Ende der Stunde hatte Frau Hartmann ganz beiläufig gefragt, ob Nora immer noch vorhabe, nach ihrem Coburger Engagement nach Mannheim zu ziehen, und mit Mark eine Familie zu gründen. Nora hatte keine Antwort parat gehabt. Sie verlangsamte ihren Schritt. Mannheim, Kinder. Mit Mark. So war es ausgemacht. Aber es würde nicht gehen.

Marks Fahrrad stand vor dem Restaurant. Nora blinzelte die Tränen weg, lächelte bühnenreif, und betrat das Restaurant. Mark sprang auf und nahm ihr den Mantel ab. Dann entschuldigte er sich dafür, dass er sie am Abend so überfallen, und dann so kindisch reagiert habe. Nora seufzte: „Ach Mark, ich war drei Wochen in einer völlig anderen Umgebung, mit völlig fremden Leuten. Du weißt, wie schwer das für mich ist!“ Mark nickte und schenkte Nora Tee ein. ”Ja, das weiß ich”, sagte er leise. “Um so mehr wundert es mich, wie verändert du bist.” Nora nahm einen Schluck Tee und verbrante sich die Zunge. “Verdammt noch mal Mark, ich hab mich in Italien ganz neu erfahren!”, sagte sie, heftiger als beabsichtigt. Mark zuckte zusammen. Nora hätte sich ohrfeigen können. Sie zwang sich dazu, seine Hand zu nehmen und lächelte schuldbewusst. “Ich habe gemerkt, dass ich auch alleine gut zurecht komme. Ohne deine beschützende Umarmung! Nur ich! Das war eine wichtige Erfahrung, ich fühl‘ mich ganz anders!“ „Erwachsener, oder?“ fragte Mark. Nora atmete auf. “Ja, sowas in der Art.“ Sie bestellten ihr Essen. Seit Jahren kamen sie hierher, aber auch hier fühlte Nora sich heute wie ein Fremdkörper. Sie war so durcheinander. Was sie Mark sagte, stimmte alles. Sie log nicht. Sie verschwieg ihm nur, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt, und mit ihm geschlafen hatte. Nora wurde schwarz vor Augen.

Sie rettete sich in einen vorgetäuschten Hustenanfall und entschuldigte sich auf die Damentoilette. Nach einigen Minuten hatte sie sich wieder unter Kontrolle und kam zum Tisch zurück. Mark sah sie besorgt an, aber Nora schaffte es, zu lachen. “War das eben scharf! Was tun die da rein?” Erleichtert lachte Mark mit. Nora aß weiter. “Am Wochenende habe ich ein Konzert in Ellwangen, Henssel Oratorium”, sagte sie kauend. ”Danach muss ich direkt nach Coburg.“ Mark sah auf. “Ich würde gern mit nach Ellwangen mitkommen, aber wir haben in Würzburg ‘Tag der offenen Tür’, ich mache bei einer Vorführung mit.“ Schuldbewusst sah er sie an. Nora versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Sie nahm seine Hand, legte sie an ihre Wange und sagte. „Völlig in Ordnung. Nächstes Wochenende komm‘ ich ja sowieso wieder nach Mannheim.“ Mark lächelte. ”Dann versuchen wir das mit dem Sex nochmal. Ich bin nämlich total scharf auf dich!“ Nora wurde bleich. Mark winkte dem Kellner.

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