Patrick und die rote Magie

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Patrick und die rote Magie
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Peter Schottke

Patrick und die rote Magie

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1: Magietherapie

Kapitel 2: Grenzzwergzwang

Kapitel 3: Schutzschirm

Kapitel 4: Knotenkniffligkeiten

Kapitel 5: Gruselgruft

Kapitel 6: Grabenkämpfe

Kapitel 7: Fressfeind

Kapitel 8: Zwergenhaft

Kapitel 9: Ackereien

Kapitel 10: Tümpeltribunal

Kapitel 11: Vierflügelflug

Kapitel 12: Landeplatzangst

Kapitel 13: Froschfräuleins

Kapitel 14: Krähaturen

Kapitel 15: Riesengebirge

Kapitel 16: Schlossereien

Kapitel 17: Buchhandlung

Kapitel 18: Küchenhilfe

Kapitel 19: Wechselwunder

Kapitel 20: Bergbersten

Kapitel 21: Fallhöhe

Kapitel 22: Endabrechnung

Kapitel 23: Heimkehrtwendung

Kapitel 24: Silbenschloss

Kapitel 25: Geschwistergewisper

Impressum neobooks

Kapitel 1: Magietherapie

Der Arztzwerg eilte den Korridor entlang, nach Luft japsend. Sein Puls raste, sein Kopf schmerzte, und auch sonst fühlte er sich im Augenblick eher wie ein Patient.

Als er mit seiner Königin zusammenprallte, die gerade um eine Ecke bog, erschrak er zutiefst, verneigte sich fahrig und stammelte Entschuldigungen.

Die Königin winkte ab. Der Arztzwerg schöpfte Atem und sagte: „Der König … Dem König geht es schlechter!”

Die Königin straffte sich und machte eine auffordernde Geste.

Der Arztzwerg wand sich. „Ich weiß es nicht genau … Die medizinische Kunst stößt bisweilen an ihre Grenzen … Ich bemerke Einflüsse, gegen die ich machtlos bin.”

Die Stumme Königin fragte mimisch nach.

„Magie”, entgegnete der Arztzwerg sogleich. „Ich denke, es handelt sich um magische Einwirkung. Überall im Krankenzimmer breiten sich rötliche Schlieren aus, inzwischen deutlich sichtbar, und das kann ich mir nicht anders erklären, als dass -”

„Dann unternehmt etwas gegen dieses Zeug, Arztzwerg!” Der alte Zwörgerich kam herangewankt. „Ich wünsche nicht, dass mein Schwiegerenkel vor mir das Zeitliche segnet. Oder ist es mein Urneffe?” Zwörgerich kratzte sich am Kinn.

Die Königin richtete den Zeigefinger auf den Arztzwerg. „Ich bin überfragt”, bekannte dieser. „Zu ärgerlich, dass die einzige Magiekundige unerreichbar ist!”

Zwörgerich wandte den Kopf. „Magie, so? Und alles ist rötlich, ja? Dann begreife ich nicht, wieso Ihr nicht auf das Naheliegendste kommt, Heilkundiger!”

„Ich verstehe nicht …”

Schon kassierte er eine Backpfeife. „Verzeihung”, sagte er.

„Das ist doch ganz simpel!”, brauste Zwörgerich auf. „Wir brauchen eine Abschirmung. Und wie verschafft man sich eine Abschirmung? Es gilt den Angreifer mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, wie bei der alten zwergonischen Kampfkunst Zwergu-Zwitschu, aber davon habt ihr Grünschnäbel ja keine Ahnung mehr. Lasst seine Magie ins Leere laufen!”

Königin und Arztzwerg blickten ihn erwartungsvoll an.

„Muss man denn immer alles haarklein erklären?”, schimpfte Zwörgerich. „Es steht doch bereits geschrieben! Steckt eure Nasen in die Bücher, dort steht es geschrieben!”

Er wandte sich ab und tappte grantelnd den Korridor entlang.

Der Arztzwerg rief ihm hinterher: „Aber was ist mit dem höchsten Ton? Habt Ihr nicht geweissagt, der ‚höchste Ton‘ müsse erklingen, bevor sich alles zum Guten wendet?”

Zwörgerich hielt einen Moment inne, dann kehrte er um. Als er dicht vor Königin und Arztzwerg stand, ließ er seine Augen rollen und raunte: „O ja, der höchste Ton wird erklingen! Wartet ab! Wenn erst der höchste Ton erklingt, wird sich alles zum Guten wenden! Hoho, denn so steht es geschrieben!”

Die Königin blickte beunruhigt. Der Arztzwerg fragte nervös: „Und wann wird das sein?”

Zwörgerich scheuerte ihm eine. „Das weiß ich doch nicht, du Dummkopf!” Der Greis humpelte beleidigt davon. Während er sich entfernte, fanden sich die Blicke von Arztzwerg und Königin.

Und schon im nächsten Augenblick eilten sie davon, um das Notwendige zu veranlassen.

Kapitel 2: Grenzzwergzwang

Patrick zog sich über den Rand der Schlucht. Vorsichtig spähte er umher. Keine Gnome, keine Ratten. Niemand. Allein stand er auf dem Felsgrat, staubig, in zerschlissener Kleidung.

Er blickte über die Grenzschlucht. Dort drüben irgendwo wartete seine vertraute Welt auf ihn. Sein Zuhause. Die erneuerte Spinnenfadenbrücke spannte sich silbrig glänzend; ihr Anknüpfungspunkt auf seiner Seite der Schlucht befand sich kaum zehn Meter entfernt. Verlockend war dieser Anblick, verlockend. Ob sie wohl schon betretbar war? Vielleicht musste sie erst eine Weile trocknen oder aushärten oder sonst etwas. Patrick wurde sich bewusst, dass er in manchen Lebenslagen wenig Ahnung von den wirklich wichtigen Fragen hatte. In der Schule hatte man ihm jedenfalls nichts über solche Situationen beigebracht.

Drüben bewegte sich etwas. Buntgescheckte Köpfe zeigten sich. Aha. Grenzlandhyänen. Die Biester schnüffelten neugierig umher und untersuchten die neu entstandene Brücke, dort wo die Baumeisterin sie befestigt hatte.

Er entschied sich gegen den Gang über die Brücke und machte sich mit dem Gedanken vertraut, dass der Zeitpunkt zur Heimkehr noch nicht gekommen war.

Langsam setzte er sich in Bewegung. Er überschritt die Ebene, auf der zwischen Geröll die Hinterlassenschaften der Gnome verstreut lagen: Helme, Pfeile, Sandalen …

Die Baumeisterin hatte sie vollständig in die Flucht geschlagen.

Patrick war froh, dass er auf den ersten Blick keine Verletzten oder gar Toten fand, und er verspürte auch keine Lust, genauer nachzuforschen.

Schnell durchschritt er die Ebene und wandte sich nach rechts, weg von dem Weg, der ihn aus dem Gnomenreich geführt hatte, und erreichte bald ein Nadelgehölz. Zwischen den Bäumen fühlte er sich einigermaßen geborgen. Beim Anblick vollreifer Beeren, die üppig an Sträuchern wuchsen, bemerkte er seinen Hunger. Schon hatte er die Hand ausgestreckt, als ihm Bedenken kamen. Die Früchte sahen völlig anders aus als alle, die er kannte. Gut möglich, dass sie ungenießbar oder sogar giftig waren. Er zog die Hand widerstrebend zurück und verzichtete auf diese Mahlzeit. Gerade wollte er weiterziehen, als er spürte, wie etwas seinen Hals hinaufkroch. Ein Schrei entfuhr ihm, er versuchte den Angreifer abzuschütteln, er fuchtelte mit den Händen und bekam etwas zu fassen, eine Schlange oder Echse, oder -

Er beruhigte sich, als ihm klar wurde, dass er nichts anderes als ein Ende der Ranke Yakayala umfasst hielt. Sie hatte unbemerkt von seinem Handgelenk aus einen ihrer Triebe emporgeschoben, den Arm hinauf, über Schulter und Hals, immer in Richtung … Patrick fiel die Kinnlade herunter, als er begriff.

In Richtung seines Mundes.

Er hielt die Hand vor sein Gesicht, in der sich die grüne Schlingpflanze ringelte. Sie schützt und heilt, hatte der Baum Ervaliac ihm mitgeteilt. Was wäre, wenn …

„Meinst du etwa, dass ich von dir … essen soll?”

Die Ranke umschmeichelte seine Hand, glitt spielerisch in engen Kurven um die Finger.

Davon hatte Ervaliac nun nichts verlauten lassen. Außerdem – wie konnte man von etwas abbeißen, das sich bewegte und so offenkundig lebendig war?

„Weißt du”, sagte Patrick und kam sich gar nicht seltsam vor, dass er zu einer Grünpflanze redete, „ich glaube, ich bringe das nicht fertig.”

Yakayalas Reaktion überrumpelte ihn. Der grüne Trieb schob sich blitzschnell in seinen Mund und teilte Patricks Zunge frischen, köstlichen Geschmack mit. Ehe er verstand, was er tat, hatte Patrick zugebissen. Erschrocken hielt er inne. Der Rest der Ranke blieb vollkommen ruhig, zuckte nicht zurück. Seine Geschmacksknospen genossen herbe Süße und er begann langsam zu kauen. Seine Zähne zertrennten die knackige Schale. Fruchtiger Saft trat aus. Genießerisch zerkaute Patrick den faserigen Stängel, schluckte und stellte überrascht fest, dass er schon nach diesem einen Happen sich gestärkt und gesättigt fühlte.

 

„Dolle Sache”, murmelte er, während sich Yakayala wieder zusammenzog und um sein Handgelenk schmiegte.

Patrick streichelte seinen lebenden Armreif mit den Fingerspitzen und genoss die Berührung der flaumigen Pflanzenflusen. Eine Weile ließ er zwei Fingerspitzen still auf Yakayala liegen und spürte ein ganz sachtes, regelmäßiges Pulsieren, einem winzigen Herzklopfen gleich.

Wie schön!, beschrieb der einzige Gedanke, der jetzt in seinem Kopf Platz hatte, das Glücksgefühl. Und laut sprach er ihn aus: „Wie schön!”

„Na, das wird sich noch rausstellen”, sagte eine Stimme hinter ihm.

Patrick drehte sich um. Er erwartete nichts als neue Schwierigkeiten und so war er kaum überrascht, als er sich zwei grimmigen Männern gegenübersah, die ihm spitze Waffen, auf deren Namen er im Augenblick nicht kam, entgegenstreckten. Zwerge, erkannte Patricks inzwischen geschulter Blick angesichts der Körpergröße, der Bärte und Helme und eisernen Brustpanzer. Grenzwachen.

Der eine Zwerg maß ihn mit misstrauischem Blick von Kopf bis Fuß. „Was hast du hier zu suchen?”

Patrick überlegte einen Moment. „Ich bin auf der Flucht.”

„Hm. Und was hast du ausgefressen?

„Nichts!”, entrüstete sich Patrick und versuchte möglichst aufrichtig zu klingen. „Grubengnome haben mich gejagt, weil ich mich mit ihrem Herrscher angelegt habe. Dann kam die Baumeisterin aus der Schlucht herauf und …”

Die Zwerge rissen die Augen auf. „Du willst sagen”, forschte der eine, „dass du der Baumeisterin begegnet und noch am Leben bist?”

Patrick nickte.

Die Zwerge schüttelten die Köpfe. „Ausgeschlossen”, sagte der erste.

Der andere Zwerg zog argwöhnisch den Mund schief. „Ich glaube ihm schon die Sache mit den Grubengnomen nicht.”

„Richtig”, führte sein Kollege den Gedanken fort, „denn um den Gnomen zu entkommen, bräuchte man verdammt viel Glück.”

„Tut mir leid, Bursche, deine Geschichte klingt reichlich unglaubwürdig. Denk dir lieber was Besseres aus!”

Die Waffe, die an ihrem unangenehmen Ende in so scheußliche Klingen und Spitzen ausgestaltet war – Hellebarde, das war ihre Bezeichnung, so fiel Patrick wieder ein – zielte genau auf seinen Kehlkopf.

Patrick schluckte. Er beschloss seine Taktik zu ändern.

Leider hatte er nicht die geringste Ahnung, wie.

Der Zwerg stieß die Hellebarde kurz und zackig vor, Patrick fuhr vor Schreck hoch, und deshalb traf die Spitze der Waffe die Mitte seiner Brust. Patrick schloss die Augen und hörte ein leises Klicken. Er machte die Augen wieder auf. Die Klingenspitze hatte seine Haut nicht einmal angeritzt, denn etwas unter seinem Hemd hatte sie abgewehrt. Etwas Hartes.

Der Zwerg zog seine Waffe zurück und guckte argwöhnisch. In Patricks Kopf begann eine Idee Gestalt anzunehmen. Wenn schon einmal jemand darauf hereingefallen war, warum dann nicht diese Trottel?

Und schon zog er die Medaille unter seinem Hemd hervor und hielt sie den Grenzwächtern entgegen. „Erkennt ihr das? Nein? Seid ihr dann wenigstens imstande, es zu sehen, ihr Nichtsnutze? Könnt ihr lesen? Dann lest die Aufschrift und ihr begreift hoffentlich, wen ihr vor euch habt!”

Die Plakette baumelte an ihrer Kette zwischen Patrick und den Zwergen, die sich misstrauisch vorbeugten, die Waffen immer noch im Anschlag.

„Was steht da?”, fragte der eine.

Der andere strengte seine Augen an. „Na… Nanu…brot, Wanzprotz, äh, Wurstpilz von Zwiebel… dings.”

„Hä?”

„Kann’s nicht richtig lesen, das Ding baumelt zu sehr.”

Der andere Zwerg packte die Medaille und hielt sie vor sein Gesicht. Seine Lippen bewegten sich, als er die Inschrift entzifferte.

Dann blickte er Patrick an.

„Oho, Nanobert, Winzprinz von Zwergonien?”

Patrick straffte sich, entschlossen, das Spiel weiterzuspielen. „Allerdings. Seid gewiss, dass eure Strafe nicht zu hart, aber angemessen ausfallen wird. Mein Vati, äh, Papa, also der König wird schon alles in diesem Sinne tun, damit alle zufrieden sind. Nicht wahr?”

Die Grenzwachen betrachteten ihn mit unbewegten Mienen. Das fasste Patrick als Zeichen auf, dass er sie beeindruckt hatte. Daher holte er noch einmal Luft und sagte abschließend: „Damit dürfte die Sache wohl geklärt sein.” Er wandte sich mit zwei, drei energischen Schritten ab, um seine Entschlossenheit zu unterstreichen. Doch kräftige Finger umklammerten sogleich seinen Arm. Patrick drehte den Kopf. Der Zwerg schaute ihn beinahe mitleidig an. „Allerdings”, antwortete er. „Du bist nichts als ein gemeiner Dieb. Gestohlen hast du diese Medaille! Ich habe Prinz Nanobert erst vor einer Woche in der Hauptstadt getroffen. Du hast keinerlei Ähnlichkeit mit ihm.”

Patricks Selbstsicherheit sank kläglich in sich zusammen. „Nein?”, erkundigte er sich. „Nicht mal ein kleines bisschen?”

Die Zwergwachen schüttelten die Köpfe.

Na Mahlzeit, dachte Patrick, also werde ich wieder mal gefangen genommen und abgeführt.

Kapitel 3: Schutzschirm

Obeidian stieß die Schlafzimmertür auf und stand eine Sekunde später schnaufend am Bett des Königs. Der Arztzwerg musste so etwas geahnt haben, denn er hatte sich bereits einige Meter entfernt.

Dumpfes, rötliches Licht prägte die Atmosphäre; Fenster und Wände waren mit roten Tüchern verhängt. Über das Bett waren Decken gebreitet worden, allesamt tiefrot. Die Königin stand mit zufriedenem Lächeln neben dem Bett.

Die Bettoberfläche lag glatt, keine Spur des Kranken war zu erkennen.

„Minorität! Ich bin hier, um Euch von den neuesten Entwicklungen zu unterrichten”, redete Obeidian auf die Kissenlandschaft ein.

„Ich bin hier, Obeidian.” Die Stimme erklang hinter Obeidians Rücken und ließ ihn herumwirbeln.

König Zwergulin stand vor einem Spiegel und richtete seine Kleidung.

„Euer Minorität …”, flüsterte der Minimister.

„Eine Herausforderung, ja?” Des Königs Stimme klang fester als erwartet, wenn auch nicht so kräftig wie früher. Zwergulin trug knielange Hosen aus derbem Wildleder, dazu lange Schaftstiefel mit Metallspangen sowie ein lederverstärktes Wams, dessen Verschnürung er soeben vor seinem Oberkörper festzurrte. Sein Gesicht war blass und ernst.

„Eine Herausforderung”, bestätigte Obeidian.

„Und die Gnome ziehen den Belagerungsring vermutlich immer enger, was?”

Obeidian schluckte. „So ist es.”

Zwergulin nickte grimmig. „Na bitte. Genau so eine Situation, wie wir sie mögen, was, Obeidian?”

„Nun …”

Der König streifte feste Handschuhe über. Seine Stimme gewann an Kernigkeit. „Was haben wir nicht schon alles zusammen ausgestanden, hm? Damals, in den guten alten Zeiten! Da haben wir sie alle in die Tasche gesteckt, stimmt’s, mein treuer Obeidian?”

„Gewiss, doch …”

„Und so wird’s auch diesmal sein. Abschirmung, das ist es, worauf es ankommt! Hier hat sie prächtig funktioniert!”

Verwundert drehte Obeidian sich zum Arztzwerg um.

Eifrig erläuterte der Mediziner: „Wie Seine Minorität ganz richtig sagt: Wir schirmen den Raum gegen rote Magie ab. Die Tücher wirken wie Filter; sie lassen bestimmte Komponenten der Magie nicht durch, versteht Ihr?”

Obeidian konnte sich zwischen Kopfschütteln und Nicken nicht entscheiden. „Ich kann es kaum glauben! So etwas Simples wirkt gegen Torturiels Magie? Rote Tücher?”

„Es sind nicht die Tücher, es ist die Farbveränderung des Lichts, die sie bewirken.”

„Sei es, wie es ist”, jubelte der Minimister, „endlich besitzen wie eine Abwehrwaffe!”

„Ganz so einfach ist es leider nicht, Obeidian”, meldete sich Zwergulin. „Erklär’s ihm, Doktor.”

Wieder sprach der Arztzwerg: „Wir können nur die Rötlichkeit der Magie herausfiltern. Doch das war sehr wichtig! Es hat uns in die Lage versetzt, die Abwehrkräfte Seiner Minorität zu stärken. Wir haben es jedoch nach wie vor mit Magie zu tun, mit der gefährlichsten Sorte. Gegen diese eigentliche Zauberkraft sind wir machtlos.”

„Das bedeutet …?”

„Das bedeutet -”

„Das bedeutet”, griff Zwergulin ein, „wir müssen zur Quelle der Magie vordringen, um sie endgültig auszuschalten. Dazu brauchen wir weitere Wappnung.”

„Aber inzwischen werden die Gnome -”

„Ha! Diesen infamen Eindringlingen werden wir’s so richtig zeigen, nicht wahr?”

„Tja …”

Zwergulin fuhr herum und sah Obeidian in die Augen. „Raube mir nicht mein Selbstvertrauen!”

Der Minimister klappte seinen Mund zu und schwieg.

Zwergulin betrachtete sich im Spiegel und nickte knapp. „Nun also das Dringendste. Du wirst dich in unsere Familiengruft begeben. Nimm dir zwei Helfer mit.”

Obeidians Mund klappte wieder auf. „In … die … Familien-”

„-gruft”, ergänzte Zwergulin. „Ich brauche eines der Erbstücke, die dort aufbewahrt werden. Auf der Marmorstele, hinten, ganz am Ende des ältesten Gewölbes.”

Das Gesicht des Minimisters war ein einziger Ausdruck des ungläubigen Verstehens.

„Du weißt, wovon ich rede.”

Obeidian nickte, Schweißperlen auf seiner Stirn.

„Dann mach dich auf den Weg.”

Minimister Obeidian verneigte sich und gehorchte, wie es seine Art war.

Kapitel 4: Knotenkniffligkeiten

Die Hochebene südlich von Winzlingen ist ein lang gestreckter Ausläufer der Vorgebirge, die im Westen in die Vulkanberge übergehen. Struppiges Gras, mit Steinbrocken durchsetzt, kennzeichnet ihre leicht abschüssige Oberfläche.

Die Aussicht auf das Tal, die Stadt Winzlingen und den könig-zwergiglichen Palast auf der Insel inmitten des Seerosengrabens war atemberaubend. Was Patrick den Atem aber mehr beraubte, war die Tatsache, dass er an einen Baumstamm gefesselt war. Ansonsten hätte er die Aussicht bestimmt besser zu würdigen gewusst.

Die Grenzwachen hatten ihn vor sich hergetrieben, aus den Wäldern auf die Grasebene hinaus.

„Was habt ihr mit mir vor?”, hatte Patrick gefragt.

„Na, was wohl?”, gab einer der Bewacher zurück. „Du wirst in den Palast gebracht und sobald der König Zeit findet, wird er entscheiden, was mit dir zu geschehen hat.” Er hob mit gespieltem Bedauern die Schultern. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einem Hochstapler besondere Gnade zuteil werden lässt.”

Er drängte Patrick mit seiner Spießwaffe weiter vorwärts und während sie über die Hochebene wanderten, bemerkte der Junge einen Punkt am Himmel, der hin und her zu taumeln schien.

Aber dann rief der eine Zwerg aus: „Was ist denn da los?”, und er meinte damit nicht den Punkt am Himmel, denn er war bis zur Kante der Hochebene vorgetreten, und er zeigte nicht nach oben, sondern auf die Landschaft um die Zwergenhauptstadt herum.

Dort wimmelte es von bewaffneten, brüllenden Angreifern.

Den Wachen fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Ein Angriff auf die Hauptstadt!” – „Sind das nicht diese verfluchten Grubengnome?” – „Das sieht ja übel aus!” – „Komm, wir müssen da runter!”

Als der eine schon losrennen wollte, hielt ihn sein Spießgeselle zurück. „Was machen wir mit dem da?”

Ratlos betrachteten sie Patrick. „Den können wir jetzt nicht gebrauchen. Wir lassen ihn hier.”

„Gut, aber wir sollten ihn zumindest fesseln.”

„Dazu ist keine Zeit. Komm schon.”

Patrick schöpfte Hoffnung, doch der zweite Wächter hatte bereits ein Seil entrollt. Er drängte ihn gegen einen Baum und begann ihn fachmännisch festzubinden. Die schartige Borke pikte Patrick in den Rücken, während sich die Seilwindungen immer enger um seinen Oberkörper legten. Plötzlich fiel ihm Quakarotti ein. „He, passt wenigstens auf meinen Frosch auf!”

„Was ist los?”

„Der Frosch in meiner Hemdtasche!”

„Versuch nicht abzulenken, Freundchen.” Er zog die letzten Windungen stramm und vollendete sein Werk mit ein paar festen Knoten.

 

Patrick schwirrte der Kopf. Wie sollte er hier wieder herauskommen? Was bedeutete der Gnomenangriff?

„Nun komm endlich!” – „Fertig.” Der Grenzwächter packte seine Hellebarde und folgte seinem Kollegen im Laufschritt den Pfad die Böschung hinab. Nach wenigen Sekunden waren ihre Köpfe hinter der Kuppe verschwunden und Patrick war allein zurückgeblieben.

Jetzt stand er also einsam und fest verschnürt auf der Hochebene und hatte wahrscheinlich von allen Beteiligten den besten Blick auf das Kampfgeschehen. Er sah genau, dass die Gnomenmassen nicht nur die Stadt und die umliegenden Freiflächen erobert hatten, sondern sich auch vor der Brücke zur Palastinsel tummelten. Das Klirren ihrer Waffen und ihr heiseres Geschrei klangen sogar bis zu ihm auf die Hochebene hinauf, obwohl er sich bestimmt einen Kilometer weit weg von der Hauptstadt befand. Patrick konnte die Gegenwehr der Zwerge beobachten, die die Palastmauern mit Speeren und Pfeilen verteidigten. Zwischen den Häusern der Stadt wurde nur noch vereinzelt gefochten – Winzlingen schien weitgehend in der Hand der Angreifer zu sein. Ihre Übermacht wirkte erdrückend.

Im Hintergrund, jenseits der Stadt, sah Patrick die Hohe Klippe aufragen, mit Torturiels Festung dicht unter dem Spitzgipfel. Rötliche Nebel umwaberten das Bergmassiv.

Dieser winzige Punkt am Himmel irritierte ihn. Er hatte nichts mit der Hohen Klippe zu tun; er bewegte sich vielmehr aus dem Luftraum über dem Palast in einem weiten Bogen über das Schlachtfeld, um dann Ziel zu nehmen auf …

Auf die Hochebene. Patrick kneistete. Kein Zweifel: Dieser Punkt hielt geradewegs auf ihn zu. Das Sonnenlicht blendete Patrick, deshalb war es ihm unmöglich zu erkennen, worum es sich handelte.

Dann lenkte ihn eine Berührung ab, die er an seinem rechten Fuß spürte. Er verrenkte den Hals, um hinunterzuspähen.

Da ringelte sich etwas.

Die Fesseln saßen stramm und hinderten ihn, es genauer in Augenschein zu nehmen. Doch schon zwei Sekunden später war dies kein Problem mehr, denn das Etwas erwies sich als sehr entgegenkommend, indem es sich sein Bein heraufschlängelte.

Patrick fühlte ein Kribbeln auf der Haut. Schon wieder eine Schlange! Er erkannte genau die doppelspitzige Zunge, die in eifrigen Stößen aus dem Maul herauszuckte. Aber das hier war keine Schlickschlange. Giftgrün war das Tier, dünn und kaum zwanzig Zentimeter lang, doch es wirkte sehr selbstbewusst und schob sich emsig an seinem Bein in die Höhe. Wade. Knie. Oberschenkel. Der kleine Kopf schwenkte forschend hin und her. Zungenzüngeln. Patrick brach Schweiß aus. Jetzt richtete die Schlange ihren scharfen Blick direkt auf ihn. Er war wie hypnotisiert von den geschlitzten Pupillen. Noch höher kroch das Reptil, über Hüfte und Bauch, über die Windungen des Seils, erreichte fast Halshöhe, verhielt, tastete suchend umher …

Und stieß zu!

Patrick entfuhr ein Schreckenslaut, als der Schlangenkopf sich blitzschnell in seine Hemdtasche vergrub.

Entsetzt beobachtete er, wie ein wildes Gerangel in der Tasche losbrach. Zischen, Quaken, Fauchen und dissonante Tonintervalle mischten sich zu einem ohrenbetäubenden Gezeter. Als Höhepunkt schoss Quakarotti senkrecht aus der Tasche; knapp hinter ihm folgten die zuschnappenden Schlangenkiefer. In hohem Bogen landete der Frosch im Gras und suchte mit wilden Sprüngen das Weite. Die Schlange schickte ihm ein wütendes Zischen hinterher. Patrick wünschte, sie würde ebenfalls seine Brusttasche verlassen, doch das Reptil wand und rekelte sich; er spürte die Bewegungen durch den dünnen Hemdstoff.

„Verschwinde”, flüsterte er dem Tier zu, eindringlich, aber bemüht, es nicht zu reizen. Doch der Schlange schien es in seiner Tasche zu gefallen, sie ringelte sich zusammen und zog ihren Kopf ein.

„Hau ab! Ich kann dich hier nicht gebrauchen!”

„Das ist ja eine nette Begrüßung, mein Junge.”

Patricks Kopf fuhr herum, soweit es die Fesselung zuließ. Neben ihm landete ein seltsames Flatterwesen und auf diesem saß eine wohlbekannte Person in rosa Kleidern und mit spitzem Hut.

„Tun Sie etwas!”, rief er der Fee zu.

Pryssalias Reittier trabte langsam aus und ließ keuchend den Kopf hängen. Sie tätschelte seinen Hals und erkundigte sich: „Gern. Und was?”

Patrick spürte, wie sich alles an ihm verkrampfte. „Ich habe eine Giftschlange in meiner Brusttasche.”

Die Fee zeigte sich erstaunt. „Wie unratsam. Warum denn nur?”

„Sie wollte meinen Frosch fangen.”

„Ich verstehe. Wieso entfernst du sie nicht?”

Patrick verdrehte die Augen und zwang sich zur Ruhe. „Sehen Sie nicht, dass ich gefesselt bin?”

„Tatsächlich. Na, wer tut denn so etwas?”

„Erkläre ich später. Machen Sie mich los! Aber erst holen Sie die Schlange da raus!”

„Nur keine übertriebene Hast. Wie die hochverehrte Feenfürstin so trefflich zu sagen pflegt: Es wird nichts so heiß gegessen wie die Taube auf dem Dach.”

Es dauerte endlose Sekunden, bis die Fee abgestiegen und zu ihm getreten war. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte in Patricks Tasche.

„Keine Gefahr”, verkündete sie. „Das ist nur eine Grüngrasnatter. Vollkommen ungiftig.”

„Sind Sie ganz sicher? Nicht etwa ungiftig beim dritten Versuch?”

„Ganz sicher. Absolut ungiftig für Zwerge.”

„Ich bin kein Zwerg!”

„Ach ja, richtig. Na dann eben auch für Menschen. Ich glaube, ihr behagt deine Körperwärme.”

„Aber sie behagt mir nicht. Nehmen Sie sie raus!”

Die Fee schüttelte den Kopf. „Wenn wir sie jetzt stören, beißt sie vielleicht. Lassen wir sie eine Weile in Ruhe. Später wird sie friedfertiger sein. Wie die hochverehrte Feenfürstin so trefflich zu sagen pflegt: Die Zeit heiligt alle Mittel.” Sie inspizierte Patricks Fesseln auf der Rückseite des Baumstammes. „Aha. Zwergenknoten. Spezielle Knüpftechnik, die nur die Grenzwachen beherrschen.”

Patrick war verblüfft. „Gar nicht blöd”, rutschte ihm raus. Dann verbesserte er sich schnell: „Diese Knotentechnik, meine ich.”

Die Fee ging nicht darauf ein. „Ich werde dich jetzt befreien.”

„Danke”, seufzte Patrick erleichtert.

„Allerdings werde ich wohl ein bisschen zaubern müssen.”

Patrick war sofort alarmiert. „Ist das wirklich nötig?”

„Unbedingt. Zwergenknoten sind Zwergenknoten. Und Grenzwachenzwergenknoten sind Zwergenknoten hoch zwei.”

„Ich will keine Zaubereiversuche! Wer weiß, ob Sie meine Hände nicht in Marmelade verwandeln, oder den Baum in ein mordgieriges Monster!”

„Aber beim dritten Versuch -”

„Ich will nicht mal einen ersten Versuch! Machen Sie’s per Hand, na los!”

„Zwergenknoten? Weißt du überhaupt, was du da verlangst, Patrick?”

„Schneiden Sie das Zeug einfach durch! Los, suchen Sie mal in meinen Hosentaschen, da muss irgendwo ein Taschenmesser sein.”

Widerstrebend durchsuchte die Fee Patricks linke Hosentasche und beförderte allerlei Dinge zutage: zerknüllte Taschentücher, Krümel von Kartoffelchips, Kaugummireste, ein zerknittertes Dschungeljungs-Sammelbild, eine Fernbedienung …

Sie runzelte die Stirn. „Dieses nutzlose Ding hast du immer noch bei dir?”

„Probieren Sie’s in der anderen Tasche!”

Die Fee stopfte alles zurück und widmete sich der rechten Hosentasche.

Patricks Blick schweifte über das Tal von Winzlingen. „Haben Sie gesehen, was da unten los ist?”

Die Fee schaute nur kurz über die Schulter, um sich klar zu machen, was er meinte. „Natürlich. Ich war schon mitten im Kampfgeschehen.”

„Tatsächlich?”

„Oder sagen wir: darüber.”

Patrick betrachtete den deformierten Gaul. „Schon klar. Sie waren der Punkt am Himmel. Was haben Sie mit dem armen Vieh angestellt?”

„Erkläre ich später. Ah!” Sie war in der Hosentasche fündig geworden. Ihre Augen weiteten sich.

„Was ist?” Patrick bog den Hals seitwärts nach unten, um einen Blick auf Pryssalias Fund zu erhaschen. In den Händen der Fee glitzerten bunte Steine in allen Regenbogenfarben.

Pryssalias Stimme klang heiser. „Wo hast du die her?”

„Aufgesammelt, beim Gnomenherrscher. Aus Notwehr. Haben Sie das Messer?”

„Nein.” Die Fee kramte weiter in seiner Hosentasche. Weitere Edelsteine kamen zum Vorschein, kleine und größere, und dann …

Patrick sah das Gesicht der Fee erbleichen. Sie hielt ein Objekt in der Hand, größer als die meisten dieser Steine, doch immer noch klein wie eine Walnuss. Es war grau und hatte nach außen gewölbte Zacken wie metallische Blütenblätter. Das Ding kam ihm bekannt vor, aber wo hatte er es schon mal gesehen?

„Was ist?”, fragte er.

Pryssalia schluckte. „Nichts”, sagte sie und beförderte endlich Patricks Taschenmesser ans Licht. Die Steine und das kleine Objekt verstaute sie sorgfältig wieder in seiner Tasche. „Pass gut darauf auf.” Dann versuchte sie das Taschenmesser zu benutzen. Erst entklappte sie die Nagelfeile, dann den Korkenzieher, aber beim dritten Versuch war die große Klinge einsatzbereit.

Vier, fünf energische Schnitte. Patrick rechnete mit behandlungsbedürftigen Wunden, doch als die Fesseln von ihm abfielen, tastete er sich ab und erkannte, dass er unversehrt war.

Unten im Tal tobte der Kampf.

Patricks Magen krampfte sich zusammen. „Nichts wie weg hier.”

Pryssalia trippelte zu ihrem seltsamen Reittier. „Was meinst du damit?”

Patrick spuckte wütend aus. „Ich hab’ genug von alledem! Dauernd gerate ich in Gefahr! Dauernd werde ich angegriffen und festgenommen! Dieses Land ist idiotisch! Gnome! Zwerge! Bolde! Schrate! Musikatzen! Die sind hier ja alle nicht normal!”

Die Fee sah ihn ernst an. „Patrick, du solltest deine Worte nicht zu voreilig wählen.” Sie stieg auf den Rücken des Gauls und forderte ihn auf, es ihr nachzutun.

„Bringen Sie mich nach Hause?”

Der Gesichtsausdruck der Fee wurde härter. „Nein. Wir fliegen nach Winzlingen.”

Patrick japste. „Ins Kampfgetümmel?”

Sie nickte. „Dorthin, wo wir gebraucht werden.”

„Kommt nicht infrage!” Patrick trat zurück und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Die Schlange ließ ein empörtes Zischen hören; schnell lockerte Patrick den Griff.