Patrick und die blöde Fee

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Patrick und die blöde Fee
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Peter Schottke

Patrick und die blöde Fee

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1: Sensationensonntag

Kapitel 2: Raumgestaltung

Kapitel 3: Feenflügelfehlflüge

Kapitel 4: Grenzgerangel

Kapitel 5: Zwergstaat

Kapitel 6: Zinnenzauber

Kapitel 7: Gramgemach

Kapitel 8: Marmeladenmahl

Kapitel 9: Grottengebräuche

Kapitel 10: Nachschlag

Kapitel 11: Feindfaust

Kapitel 12: Windwand

Kapitel 13: Propheverzeihungen

Kapitel 14: Schratschrott

Kapitel 15: Balgbeschallung

Kapitel 16: Westwärtsweg

Kapitel 17: Kraterklettern

Kapitel 18: Käfigkrähe

Kapitel 19: Vulkanwucht

Kapitel 20: Drachenmacht

Kapitel 21: Spurensicherung

Kapitel 22: Nestwärme

Kapitel 23: Zugzwang

Kapitel 24: Matschmarsch

Impressum neobooks

Kapitel 1: Sensationensonntag

„Jetzt wird’s spannend!”, sagte Patrick und wie ein Flugkapitän vor dem Start kontrollierte er, ob alles bereit war. Bequemes Kissen im Rücken – okay. Links die XXL-Tüte mit den Kartoffelchips – okay. Rechts die Flasche mit der Cola – okay.

Und in der Mitte, auf seinem rundlichen Bauch: das Allerwichtigste, das Herzstück der Prozedur, die ihn für die folgenden Stunden beschäftigen würde. Sechsundzwanzig winzige Tasten, eine leuchtende Digitalanzeige, sowie, unter einem aufklappbaren Deckel, noch mehr Tasten für raffinierte Funktionen! Alles zusammengefasst in einem länglichen, flachen Kunststoffgerät mit jeder Menge Elektronik drin; so perfekt konstruiert, dass man selbst keinen einzigen Schritt mehr tun musste – einfach wunderbar!

Wie jeden Sonntag lümmelte Patrick im bequemsten Sessel vor dem Fernseher. Er trug sein Lieblingshemd mit der ausgeleierten Brusttasche, das anfangs von einem kräftigen Orange gewesen, heute wegen zahlreicher Waschgänge aber blassgelb war. Die Füße hatte er auf den Couchtisch gelegt, sodass die braunen Hausschuhe mit den ausgefransten Spitzen vor ihm aufragten, ohne jedoch die Sicht zu behindern. Er hatte es sich so richtig gemütlich gemacht, denn ein anstrengender Tag lag vor ihm: Sonntags gab es so viele packende Fernsehprogramme, dass er verflixt aufpassen musste, damit ihm nichts entging. Seine Finger glitten mit traumhafter Sicherheit über die Tastatur der Fernbedienung. Nicht viel anders, so war sich Patrick sicher, handhabte ein Düsenjägerpilot seine Cockpit-Instrumente.

Es ging los auf Kanal 5 mit den Weltraumabenteuern. Die dauerten eine halbe Stunde, aber zwischendurch schaltete Patrick immer mal wieder zu dem Zeichentrick-Western auf Kanal 17. Er wusste, dass auf Kanal 21 eine wichtige Krimiserie lief, aber die hätte er nur gleichzeitig anschauen können, wenn seine Eltern einen zweiten Fernseher aufgestellt hätten. Dieser Gedanke erschien Patrick ausgesprochen vernünftig. Schließlich hatte der Mensch zwei Hände, also war er auch imstande, zwei Fernbedienungen zu halten, und er hatte zwei Augen und konnte folglich zwei Fernsehapparate gleichzeitig betrachten. Patricks Eltern allerdings schienen der Ansicht zu sein, dass ein einziges Fernsehgerät vollkommen genügte und dachten überhaupt nicht daran, noch eines anzuschaffen. Patrick hatte sie schon mehrmals dazu gedrängt, aber Eltern waren wohl einfach zu uneinsichtig für die wirklich wichtigen Dinge. Sie kümmerten sich viel lieber um Arbeitengehen, Haushaltstätigkeiten, Einkaufen, Postsachen und ähnlich langweiliges Zeug.

Jetzt schaltete Patrick auf Kanal 13. Dort waren Seeräuber dabei, einen Schatz zu vergraben. Na ja. Das fand Patrick nicht spannend genug. Aber auf Kanal 4! Da bekam er Roboter gezeigt, die eine ganze Großstadt angriffen! Diese Roboter waren riesig und sie warfen Wolkenkratzer einfach um. Unglaublich, was es alles gibt, dachte Patrick. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte er das Geschehen.

Der Krach, den die Roboter veranstalteten, war herrlich laut. Patricks Mutter erschien in der Tür; auch ihre Augen waren weit aufgerissen. Dafür hielt sie sich die Ohren zu. „Um Himmels willen, Patrick, mach das leiser!”, rief sie, und erst als Patrick unwillig eine Taste auf der Fernbedienung drückte, wagte sie es, die Hände von den Ohren zu nehmen.

„Musst du eigentlich jeden Tag dieses Zeug angucken? Und nimm bitte die Füße vom Tisch.”

Patrick gehorchte seufzend, während er versuchte, sich auf die Roboter zu konzentrieren. Der Ton war ihm jetzt viel zu leise; er konnte gar nicht beurteilen, ob das Zusammenkrachen der Hochhäuser nur schrecklich oder schon katastrophal war.

„Patrick, ich rede mit dir.”

An ihr vorbei schlüpfte Dr. Katz ins Zimmer und schaute sich mit großen Augen um, als sähe er den Raum zum ersten Mal. Dr. Katz war der schwarzweiße Kater, der es Patricks Familie gestattete, ihn bei sich wohnen zu lassen. Seinen Namen trug er aufgrund der brillenförmigen Fellfärbung rund um seine Augen, die ihm ein ausgesprochen gelehrtes Aussehen verlieh. Er ließ sich auf dem Teppich nieder und begann sein Fell zu putzen.

„Patrick!”

Patrick verzog das Gesicht, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Mütter verstanden einfach nicht, dass man bei einem Roboterangriff volle Konzentration brauchte!

„Warum spielst du nicht mal draußen mit den anderen Jungs? Da, hör doch! Ich glaube, sie sind gerade auf dem Fußballplatz an der Ecke!”

Das aufgeregte Geschrei einer Bande von Jungen, die mit Feuereifer einem Ball nachjagten, tönte durch das halb geöffnete Fenster. Es war ein schöner, nicht zu warmer Sommertag, wie geschaffen zum Ballspielen, aber Patrick war anderer Ansicht. Zeitverschwendung, dachte er, wenn es so viele interessante Fernsehprogramme gibt!

„Na?”, ermunterte die Mutter ihn. „Wie wär’s?”

„Ach, Mama, ich hab’ doch keine Zeit!…”

„Aber ich dachte, das sind deine Freunde.”

Patrick schnaubte auf. „Ich brauche keine Freunde. Ich komme schon alleine klar.”

Die Mutter zog sich zurück. Dass sie ein bekümmertes Gesicht hatte, entging Patrick, denn er ließ den Bildschirm nicht aus den Augen. Da! Fast hätte er den richtigen Zeitpunkt zum Umschalten verpasst! Schnell drückte er eine Taste und atmete auf. Ein Glück! Die neueste Folge der Dschungeljungs hatte noch nicht angefangen, im Moment lief noch Werbung für Schokoladenriegel. Diese Riegel sahen wirklich lecker aus und eine nette Stimme erklärte, dass sie gerade für Kinder gesund und fürs Wachstum nötig seien. Dies war doch eine wertvolle Information! Das, so dachte Patrick, sollten auch Erwachsene erfahren, und er nahm sich vor, seine Eltern von diesen Schokoriegeln zu überzeugen. Gut, dass es solche Reklamehinweise gab! Er schob sich eine Handvoll Kartoffelchips in den Mund.

Noch ein Druck auf eine bestimmte Taste und die Technik gehorchte sofort: Patrick warf einen kurzen, fachmännischen Blick auf den Fortgang der Zerstörung, die die Roboter anrichteten, dann schaltete er flink zu den Dschungeljungs. Innerhalb einer Viertelsekunde sprang das Fernsehbild um und die drei Dschungeljungs schwangen sich todesmutig durch das grüne Gewirr der Bäume und Schlingpflanzen.

Patrick streichelte die Fernbedienung. Was, so fragte er sich, sollte er nur ohne dieses kleine Gerät anfangen? Das Leben ist nur lebenswert, wenn man auch eine Fernbedienung hat!

Da! Ein Dinosaurier brach durchs Gesträuch! Patrick war begeistert. Dinosaurier waren immer gut, denn wo Dinosaurier auftauchten, war sofort etwas los. Oho! Der Dinosaurier griff eine wehrlose Expedition an, die auf der Suche nach einer verlassenen Dschungelstadt voller sagenhafter Schätze war. Tolle Sache! Patrick wagte kaum zu atmen, als sich der Dinosaurier riesenhaft vor den winzigen Menschen aufbäumte. Gegen die gigantische Echse wirkten die Menschen wie Zwerge. Oh, oh, das würde keine leichte Aufgabe für die drei Dschungeljungs werden!… Wo blieben sie denn nur? Normalerweise waren sie sofort zur Stelle, wenn jemand im Dschungel Ärger machte … Da waren sie ja! Sie standen oben in einer Baumkrone und beratschlagten, was sie gegen den Dinosaurier unternehmen sollten. Beeilt euch doch!, dachte Patrick, während der Dinosaurier weiter wütete. Dann endlich hatte der stärkste Dschungeljunge einen Entschluss gefasst und sagte zu seinen beiden Dschungeljungenfreunden:

 

„Wollen wir uns nicht auf die Wiese setzen und Käfer zählen?”

Patrick traute seinen Ohren kaum. Er drehte den Kopf zur Seite und erblickte seine kleine Schwester. Natürlich hatte sie den Satz mit den Käfern gesagt, nicht der Dschungeljunge im Fernsehen. Was der Dschungeljunge gesagt hatte, das hatte Patrick jetzt nicht mitgekriegt.

„Geh raus und zähl deine Käfer alleine”, blaffte er Jessika an, „ich habe hier zu tun.”

Jessika sah zum Fernseher. „Was denn?”, fragte sie.

„Das kapierst du doch nicht.”

„Warum?”

„Weil du noch zu klein bist.”

„Ich bin gar nicht zu klein, ich weiß nur noch nicht genug”, krähte Jessika. „Aber wie viel man weiß, das hat überhaupt nichts damit zu tun, wie groß man ist. Es hat was damit zu tun, was einem andere Leute verraten!”

Patrick sehnte den Tag herbei, an dem Jessika endlich eingeschult werden würde. Dann konnte sie ihren Lehrern Löcher in den Bauch fragen.

„Frag Vati. Ich bin nicht für deine Erziehung zuständig.”

„Vati ist mit seinem Rennrad unterwegs. Heute ist doch Sonntag”, informierte ihn Jessika.

„Dann frag Mama.”

Jessika zog ihren Mund zu einer Schnute. „Ich glaube, Mama versteht nichts davon.”

Da hatte seine Schwester zweifellos recht. Mama war ein hoffnungsloser Fall. Oh, Jessika und Patrick liebten sie beide, denn sie hatte als Mama unbedingt ihre Qualitäten, doch leider herrschte bei ihr eine erschreckende Unkenntnis, was Fernsehsendungen im Allgemeinen und Dinosaurier im Besonderen betraf. Dass Jessika ihn als Fachmann in solchen Fragen betrachtete, schmeichelte Patrick; so ließ er sich gnädig zu einer kurzen Antwort herab: „Die drei Dschungeljungs bekämpfen einen Dinosaurier. Ich muss aufpassen, ob sie alles richtig machen.” Er konzentrierte sich wieder aufs Programm, aber Jessika ließ nicht locker.

„Warum bekämpfen sie ihn?”

„Weil er eine Expedition angegriffen hat.”

„Warum?”

„Weil er böse ist.”

„Warum?”

„Weil er eine kleine Schwester hat, die ihm dauernd dumme Fragen stellt!”

Jessika biss sich auf die Unterlippe. Sie war sichtlich eingeschüchtert und traute sich nichts mehr zu fragen. Eine Weile guckte sie zu, wie die Dschungeljungs auf den Dinosaurier eindroschen. Dr. Katz unterbrach seine Fellpflege, stolzierte zu Jessika und rieb sich an ihren Beinen. Jessika bückte sich und streichelte den Kater hinter den Ohren, dann den gestreckten Rücken entlang. Der Kater schnurrte. Jessika strich mit einem Finger über Kinn und Kehle und Dr. Katz schloss genießerisch die bebrillten Augen. Unvermittelt ließ er sich zu Boden plumpsen und präsentierte seine Bauchpartie mit dem besonders flauschigen weißen Fell. Jessika begann sogleich mit sanftem Streicheln. „Tiere mögen es, wenn man freundlich zu ihnen ist”, belehrte sie ihren Bruder. „Dann vertrauen sie einem und lassen sich sogar den Bauch kraulen.” Sie schaute wieder zum Fernseher.

„Mir tut der Dinosaurier leid”, erklärte sie.

Patrick verdrehte die Augen. Jessika taten immer alle Tiere leid. Sie verstand nicht, dass so ein Dinosaurier kein gewöhnliches Tier war, sondern ein Ungeheuer, dass man bekämpfen musste. Seine Schwester war eben noch fast ein Baby. Sie hatte keine Ahnung vom wirklichen Leben.

Jetzt plapperte sie schon wieder etwas. „Warum schaltest du nicht ein Programm ohne Dinosaurier ein?”

„Ich bin froh, dass ich eins mit Dinosaurier gefunden habe.”

Jessikas Augen blitzten auf. „Vielleicht gibt es irgendwo einen Märchenfilm!” Sie grapschte die Fernbedienung und drückte ein paar Programmtasten. Die Bilder auf dem Bildschirm wirbelten durcheinander, als führen die Dschungeljungs mit den Robotern im Wilden Westen Achterbahn.

„Finger weg! Das ist doch kein Spielzeug für Mädchen!” Patrick riss Jessika die Fernbedienung aus der Hand.

Jessika schmollte. „Warum können wir denn keinen Märchenfilm sehen?”

„Frag nicht immer ,warum’!”

Jessika überlegte kurz. Dann fragte sie: „Warum nicht?”, wobei sie das „nicht“ besonders betonte, um hervorzuheben, dass es sich keineswegs um eine Warum-Frage, sondern um das genaue Gegenteil handelte.

„Weil ich es nicht will.”

„Und warum nicht?”

Patrick, der sich bemühte, die Dschungeljungs wiederzufinden, verlor den Gesprächsfaden. „Warum was nicht?”

„Warum sollten wir …?” Jessika unterbrach sich, um an ihrer Formulierung zu feilen. „Warum nicht sollten wir einen Märchenfilm anschauen?” Sie war zufrieden, denn ihr Satz war zwar etwas holprig, enthielt aber alles, was sie vorbringen wollte und war durch das „nicht” wieder das Gegenteil einer Warum-Frage. Prima, dachte Jessika, wie man durch ein so kleines Wort alles ins Gegenteil verkehren kann! Sie beschloss sich diese Methode für die nächsten Auseinandersetzungen wie etwa um Plätzchenessen vor dem Schlafengehen zu merken.

Als Patrick ihr nichts antwortete, trumpfte sie nochmals auf: „Also, bitte schön, warum nicht?”

Das entscheidende Wort hing, wie Jessika fand, triumphierend in der Luft, doch ihr Bruder erwiderte nichts, was Jessika zufriedengestellt hätte.

Patrick brummte nämlich bloß: „Märchen sind blöd.”

„Gar nicht!”, protestierte Jessika. „In Märchen gibt es Prinzessinnen in schönen Kleidern!”

„Na eben. Prinzessinnen sind auch blöd. Und Kleider erst recht.”

„Gar nicht!”

„Und ob! Wer braucht schon eine Prinzessin?”

„Die Prinzen natürlich!” Jessika reckte ihre Nase in die Höhe. „Das weiß doch jeder: Am Schluss vom Märchen heiratet der Prinz die Prinzessin.”

„Heiraten ist blöd.”

„Gar nicht! Und dann küssen sie sich!”

„Und das ist das Blödeste überhaupt!”

„Gar nicht!”

„Doch!”

„Und warum wohl?”

Patrick setzte eine weise Miene auf und sagte: „Komm du erst mal in die Schule, dann wirst du schlauer.”

„Aha”, krähte Jessika, „wenn du keine Anwort weißt, dann schiebst du immer alles auf diese komische Schule! Nur weil du da schon hingehen darfst und ich nicht!”

„Jessika”, versuchte er zu beruhigen, „du verstehst überhaupt noch nichts vom Ernst des Lebens.” Die Redewendung hatte er sich gemerkt; Chefinspektor Hopkins wandte sie bisweilen an.

Jessika schniefte. „Na und? Wenn ich nicht weiter weiß, dann spreche ich mit den Bäumen. Bäume wissen alles, weil sie so alt sind. Bäume sind die besten Lehrer, die man sich wünschen kann!”

„Dann schicken wir dich am besten in eine Baumschule!”

Die Mutter schaute ins Zimmer. Die lauten Stimmen hatten sie angelockt, aber dann erkannte sie, dass es vorerst keinen Grund zum Eingreifen gab.

„Gebt mir bitte Bescheid, sobald ihr beschlossen habt, euch zu hauen”, sagte sie und zog sich wieder in die Küche zurück.

Aber Jessika war die Lust vergangen, sich mit ihrem Bruder herumzustreiten. „Ich gehe draußen Käfer zählen”, verkündete sie und lief zur Zimmertür. Dort fiel ihr noch etwas ein und sie drehte sich wieder um. „In Märchen gibt es auch Feen und die können zaubern und von denen kriegt man drei Wünsche erfüllt!”

Patrick sah sie nicht einmal an. „Feen sind total blöd”, war das Einzige, was er von sich gab.

Jessika stand noch einen Augenblick in der Tür. „Soll ich ein paar Käfer für dich mitzählen?”

„Ja, danke”, entgegnete Patrick, damit sie ihn endlich in Ruhe ließ.

„Aber nicht zu viele, sonst bleiben für mich ja keine übrig. Also gut, einen Käfer werde ich für dich zählen, einverstanden?” Ohne eine Antwort abzuwarten, hüpfte Jessika hinaus. Dr. Katz starrte ihr hinterher.

Patrick stand auf und schloss die Tür, damit das Zimmer nicht zu einladend wirkte. Dann lümmelte er sich rasch wieder im Sessel zurecht. Das Abenteuer der Dschungeljungs war jetzt natürlich zu Ende, aber Patrick war überzeugt, dass sie wie üblich gesiegt hatten. Er drückte einen Knopf auf der Fernbedienung. Das Programm wechselte und Patrick bekam neue unglaubliche Bilder präsentiert.

Jessika bekam mit, wie Patrick hinter ihr die Wohnzimmertür ins Schloss drückte, und hörte auf zu hüpfen. Sie drehte sich um. Die Tür war zu. Ihr Bruder hatte sie ausgesperrt. Immer wollte er allein sein und fernsehen! Dabei konnte man doch so viele andere Dinge erleben! Draußen herumtoben, über Wiesen laufen, Wolken anschauen, Käfer zählen … Patrick lebte in einer ganz anderen Welt als sie und er lebte wohl gern dort. All seine Fernsehabenteuer, die vielen Bilder, das Tempo … Jessika überlegte, wer von ihnen beiden wohl in der richtigen Welt lebte. Sie wusste so wenig von dem, was Patrick sein Fernsehen bedeutete. Und umgekehrt hatte Patrick bestimmt keine Ahnung, was es außerhalb der Glotze zu entdecken und zu erleben gab. Sie war überzeugt, dass ihrem Bruder vieles entging.

Man müsste …

Jemand müsste …

Patrick müsste …

Jessika ging nachdenklich weiter, durch die Diele, durch die Hintertür, dann abwärts über die drei Unkrautstufen, wie Mama sie bezeichnete. Jetzt stand sie auf der Rasenfläche vor dem Gartenzaun. „Märchen sind blöd”, hatte Patrick behauptet. Jessika drückte die Klinke und schob die sperrige Gartentür auf. Ein Paradies von Büschen, wild wuchernden Blumen, hoch aufgeschossenen Sträuchern und duftenden Wildkräutern lag vor ihr. Vögel zwitscherten, Heuschrecken zirpten. Jessika schaute, schnupperte und lauschte. Patrick kam nur selten in den Garten, sie aber war bei gutem Wetter jeden Tag hier und oft auch bei Regen oder Schnee, wenn Pfützen oder Eishügel die Landschaft in ganz andere Zauberreiche verwandelten. Jessika liebte alle Jahreszeiten und genoss die Veränderungen in ihrer Gartenwelt. Der Garten war herrlich verwildert und Jessika hoffte, dass das auch so bleiben würde. Manchmal hörte sie, wie Mama von „stutzen”, „freischneiden”, „rausreißen” und „auslichten” sprach, und bei solchen Ausdrücken befürchtete sie das Schlimmste. Doch zum Glück hatte Vati nie große Lust auf Gartenarbeit. Ihm genügten seine vier Kakteen auf dem Fensterbrett, die er ab und zu goss und ihnen ansonsten beim Wachsen zusah. Und so gedieh der Garten vor sich hin und verschaffte Jessika die aufregendsten Entdeckungen.

Ein Eichhörnchen huschte vorüber, kletterte in den alten Apfelbaum und hockte sich in eine Astgabel. Mit blanken Äuglein schaute es zu Jessika herüber.

„Wie südlich!”, sagte Jessika. Dann lächelte sie zufrieden. Sie sagte gerne „wie südlich”, wenn sie fand, dass etwas südlich war. Patrick fand das Wort blöd, das wusste sie, aber Patrick fand vieles blöd, und außerdem war es ihr Wort, denn sie hatte es selbst gefunden, weil sie eine gute Wörterfinderin war. Vati hatte sie einmal so genannt, als sie eins ihrer prächtigsten Wörter gefunden hatte. Er meinte zwar „Worterfinderin” und nicht „Wörterfinderin”, aber Jessika war überzeugt, dass es Wörter schon gab, dass sich aber manche versteckt hielten und nur ab und zu neugierig hervorlugten, ob da wohl jemand käme, um sie aufzustöbern. Jessika war ziemlich gut im Aufstöbern und deshalb betrachtete sie sich als Wörterfinderin. Das Wort „südlich” zum Beispiel hatte sie gefunden, als Dr. Katz sich ganz eng in einer offen stehenden Schublade zusammengerollt hatte und dort eines seiner ungefähr siebzehn täglichen Mittagsschläfchen hielt. Jessika war entzückt gewesen und wollte gleichzeitig „süß” und „niedlich” sagen und das geriet ihr zu „südlich” und wie immer, wenn sie ein Wort gefunden hatte, das ihr gefiel, behielt sie es. Auf diese Weise wuchs und wuchs ihr Wortschatz und Jessika fühlte sich wie eine Königin, wenn sie an diesen Schatz dachte. Reichtum, das bedeuteten für Jessika Wörter, Tiere, Pflanzen, eben Sachen, die es wert waren, dass man sich mit ihnen beschäftigte.

Das Eichhörnchen hatte genug gesehen und kletterte in höhere Regionen des Apfelbaums. Jessika überlegte, was sie als Nächstes entdecken wollte.

Ob wohl das große Spinnennetz noch da war? Neugierig guckte Jessika hinter einen Fliederbusch. Tatsächlich, da hing das feingesponnene Kunstwerk. Die Spinne schien nicht zu Hause zu sein, aber Jessika hätte nichts dagegen gehabt, die kleine achtbeinige Bewohnerin zu betrachten. Früher hatte sie sich vor Spinnen gegruselt, aber das war, als sie noch klein gewesen war – heute wusste sie, dass Spinnen so gut und wichtig wie alle anderen Tiere waren und ein Teil der Natur, und deswegen musste es schon in Ordnung sein, dass es sie gab. Außerdem konnten sie so wundervolle Netze bauen. Wie es wohl sein mochte, in einem Netz zu wohnen? Jessika überlegte, ob es schwierig war, sich auf den dünnen Fäden zu bewegen. Kitzelte es an den Füßen, oder war es klebrig? Konnte man ausrutschen, wenn das Gewebe nass geworden war? Sie erinnerte sich, dass sie dieses Spinnennetz einmal Patrick gezeigt hatte, weil viele kleine Tautropfen darin hingen und herrlich glitzerten, wie Perlen auf einer Schnur. Aber ihr Bruder hatte nur einen kurzen Blick auf dieses Wunder geworfen und etwas wie „Ganz nett” gemurmelt. Dann hatte er sich ins Haus zurückgezogen, wahrscheinlich vor den Fernseher.

 

Jessika sah zu dem großen Stein an der Hecke hinüber. Sie stellte sich gerne vor, dass dahinter winzige Elfen wohnten. Manchmal, wenn sie sehr lange und geduldig hinspähte, konnte sie beinahe eine klitzekleine Bewegung eines gläsern schimmernen Elfenflügels sehen. Oder in dem knorrigen Baumstumpf am Rosenbusch – waren die tiefen Einkerbungen nicht Hinweise auf Schlupflöcher von Kobolden oder Zwergen? Möglich war alles.

So, Märchen sind also blöd?, dachte Jessika trotzig. Patrick, du müsstest nur mal – … Und, übrigens, Feen sind auch nicht blöd, denn von Feen bekommt man drei – …

Jessika stand ganz still auf dem Rasen und überlegte angestrengt. Nach und nach nahm in ihrem Kopf eine Idee Gestalt an.

Sie streifte ihre Schuhe ab und ging barfuß ein paar Schritte auf die Wiese. Zitronenfalter und Kohlweißlinge umschwirrten die Gänseblümchen. Jessika setzte sich in ein duftendes, weiches Kleefeld und zupfte nachdenklich an den Grashalmen.

Und wenig später vertraute sie ganz leise dem ersten Käfer, der vorbeikam, ihre Idee an.

In Patricks Rücken war ein Fensterflügel geöffnet, der andere geschlossen. Aus der Ferne war das Gejohle der Jungs auf dem Fußballplatz zu hören. Jemand kürzte mit einem ratternden Rasenmäher seine Wiese. Es war ein typischer Sommertag, an dem von dort draußen nichts Aufregendes zu erwarten war, jedenfalls nichts, was mit dem mithalten konnte, was der Fernsehapparat zu bieten hatte. Ein paar kleine Vögel – Spatzen und Kohlmeisen – flatterten draußen umher. Manche wagten sich sogar bis auf die schmalen Fensterbänke an der Außenwand des Hauses. Sie pickten Samen oder Körner auf und machten mit ihren Schnäbeln abgehackte, leise Geräusche: pick – pick – pickpick – …

Patrick konzentrierte sich auf den Kampf der Raumschiffe, der auf dem Bildschirm tobte. Ihre Strahlenwaffen verursachten aufregende Laute: bäng! – ziiiiuofff! – tschacktschacktschack! – djunggg!…

Pick – pickpick – pickpickpick – …

Doing! – pradderratz! – katschunka! – rrrrrsssst!…

Plonk.

Patrick stutzte. Plonk? Das war ein komisches Geräusch gewesen. Was hatte ein Plonk in einer Weltraumschlacht zu suchen? Er warf einen kurzen Blick zum Fenster und lauschte nach dem Picken der Vögel, aber zwei oder drei von ihnen glotzten ihn unschuldig an, als wollten sie sagen: Nö, also, wir war’n das nu aber nich!

Und dann hörte er ein leises Jammern: „Au, au, au! … Aua, aua! … Au, au, au, aua, aua, aua!…”

Obwohl gerade eins der Raumschiffe in Bedrängnis geriet, drehte Patrick seinen Kopf wieder in Richtung Fenster.

Nichts war zu sehen.

Doch das Gewimmer erklang erneut. „Aua, aua, aua, verwünscht nochmal, aua!…”

Dann war es ein paar Sekunden lang still. Anschließend quengelte eine helle Stimme: „Kommst du jetzt allmählich mal nachsehen, wie es mir geht?”