Buch lesen: «Montag oder Die Reise nach innen», Seite 2
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Dass mich die Öffentlichkeit heutzutage in der Rolle des Modearztes sehen will, eines modernen Gurus, eines »weltlichen Priester« für alle Fragen und Lebensprobleme, einer Rolle, die mir kaum noch Zeit lässt, mich meinen Forschungen an der Universität zu widmen, verdanke ich wohl – will man nicht von Vorsehung reden – meinem damaligen Entschluss, diesem merkwürdigen Mann im Museum zu folgen – zu folgen in mehrfacher Hinsicht.
Aber damals ahnte ich noch nichts von den Höhen und Tiefen, in die mich seine Bekanntschaft stürzen würde …
Ich wartete ab, bis das Museum schloss, und folgte Montag langsam durch die menschenleeren Straßen.
Er ging über die steinerne Brücke und dann durch eine sehr alte Gasse, die von den Bombenangriffen des Weltkriegs verschont geblieben war. Sein Haus war ein scheußliches Gebäude aus der Vorkriegszeit, in dem neunzehn Parteien lebten – mit so gleichmäßig geschwärzten Fassaden, dass man glauben konnte, die Patina sei seine ursprüngliche Farbe. Einige Zimmer seiner Wohnung lagen im Erkerturm.
In Kopfhöhe an den Hauswänden befanden sich die üblichen Kreidesprüche, abgestuft nach Schulaltern. An ihnen ließ sich leicht die psychologische Theorie bestätigen, dass jedes Lebensalter seine eigene Sprache hat und über andere Dinge lacht. Und wenig verrät mehr über unsere Schwächen als das, worüber wir lachen!
Lachen wir Älteren, die wir uns so viel auf unsere Erfahrungen und unseren Durchblick einbilden, dann sollten wir uns immer vergegenwärtigen, dass da vielleicht noch jemand über uns ist, der unser Lachen höchst lächerlich findet.
Anfangs gelangte ich immer nur bis zur gegenüberliegenden Straßenseite. Ich beobachtete aus dem Hauseingang, wie in Montags Fenstern das Licht anging und wieder verlöschte. Ich wartete darauf, dass irgend etwas passierte, mir irgendein Zeichen, eine Bestätigung für meine Neugier gegeben wurde. Aber je nachdrücklicher ich darauf wartete, desto weniger geschah.
Nun gut, es gab ein paar kuriose Zwischenfälle bei meinen Verfolgungen. Einmal leerte jemand aus dem Fenster seinen Nachttopf über Montag aus, wohl in der Annahme, er sei für den Lärm verantwortlich, den ein anderer mit einem verfrühten Silvesterfeuerwerk – es war kurz vor Weihnachten – in der Gasse veranstaltet hatte. Die Reste der Knallfrösche flogen bis in den Hauseingang.
Montag blickte nur kurz nach oben, als habe er sich für die Notiz, die man von ihm nahm, zu bedanken, zog seinen Hut ab, klopfte ihn mit dem Handrücken zurecht, und ging weiter! Sein langer schwarzer Mantel glänzte feucht. Er war tatsächlich von oben bis unten mit Pisse begossen!
Ein andermal hetzte jemand einen dieser Bullterrier auf ihn, die darauf abgerichtet sind, Menschen zu zerfleischen, gleichgültig, ob sie selbst dabei draufgehen oder nicht. Man rammt ihnen sein Taschenmesser in den Körper, schleudert sie hin und her, aber ihre Zähne lösen sich nicht eine Sekunde lang mehr von den Gliedmaßen, wenn sie sich einmal festgebissen haben.
Wäre Montag einer jener Zauberer oder Medizinmänner vom Amazonas gewesen, die noch soviel Instinkt für die primitive Kreatur besitzen, dass sie mit ein paar ruhigen Worten und festem Blick jede Bestie in die Knie zwingen – ich hätte mich kaum über die Reaktion des Hundes gewundert. Aber dieser hier kam auf ihn zugelaufen, wurde zwei Meter vor ihm immer langsamer, ohne dass Montag ihn überhaupt eines Blickes würdigte, und drehte mit gesenktem Kopf und eingezogenem Stummelschwanz ab. Mich hätte die Bestie auf der Stelle in Stücke gerissen.
Nach der Schule hielt ich mich so oft es ging im Museum auf.
Mein Vater hatte sich einen Kompagnon zugelegt, einen in Geldfragen besonders gewieften Burschen aus dem New Yorker Bankenviertel namens Dornenvogel (kein Pseudonym – es war sein echter Name, und sein Einfluss auf unsere Familie wurde diesem Namen auch schon bald vollauf gerecht).
Er war wegen Schwierigkeiten mit der amerikanischen Steuerfahndung nach Deutschland zurückgekehrt. Von da an hatte Oberhäuptling alle Hände voll zu tun, mit diesem schrägen Dornenvogel sein Vermögen zu sortieren. Und meine Mutter machte gerade eine schwere Zeit im Parlament durch, weil ihre winzige Ökologenfraktion von Politikern attackiert wurde, die in diesen ersten Ansätzen konsequenter Umweltpolitik Gefahren für die Wirtschaft sahen. Sie war immer noch der Rufer in der Wüste. Also hatte ich plötzlich genügend Zeit für mein Steckenpferd, Boschs Kuriositätensammlung …
Ich entdeckte, dass sich der Maler im Weltgericht selbst porträtiert hatte: als fetter dickbäuchiger alter Gnom im Vordergrund des Bildes, nackt, mit schwarzem Kopftuch, schwarzen Stiefeln und einer klaffenden roten Wunde auf der rechten Seite des Unterbauchs.
Er sah aus wie ein Demiurg, der das Inferno in seinem Geiste erst erschaffen hatte, anstatt es nur abzubilden, und so versuchte ich herauszufinden, warum er sich keinem freundlicheren Genre gewidmet hatte.
Warum dieses Ausleben der aberwitzigsten, düstersten Phantasien, wenn es auch eine von der Sonne beschienene Wiese, ein unschuldiges Fohlen, ein Spaziergang am Meer, ein jungfräulicher Strand ohne Teufel und Chaoten hätte sein können?
Würde ich jemals selbst so malen wollen? War das eine genaue Beschreibung der Realität?
Ich begann mich vor meiner selbstgewählten Aufgabe zu fürchten. Auch die abstrakte Kunst stellte nur selten Ausgeglichenheit und Harmonie dar, sondern meist eine verfremdete Wirklichkeit, die auf geheimnisvolle Spannungen und Stimmungen zusammenschrumpfte, den Konvulsionen der Wirklichkeit nicht ganz unähnlich. Offenbar war ich auf dem besten Wege, mich wie ein Zahnarzt, der sein Leben lang mit faulen oder vereiterten Zähnen, mit Zahnstümpfen, Parodontose und anderen Entzündungen des Mundraums zu tun hat, ohne Not in die Schattenbereiche des Lebens zu begeben.
Boschs klaffende rote Wunde am Bauch machte mir deutlich, wie sehr der Künstler an seiner Kunst litt.
Als ich an diesem Punkt angelangt war, brach ich meine Besuche im Museum ab. Ich saß tagelang in meinem Zimmer – es waren Weihnachtsferien –, würdigte den protzigen Christbaum in der Eingangshalle keines Blickes, weil er mir mit einem Male als das erschien, was er wirklich war: die hohle, überaus kitschige Bemäntelung eines alten Brauches, unter dessen Oberfläche sich vielleicht eine Wahrheit verbarg, aber eine Wahrheit, an die niemand glaubte.
Mein Vater pflegte unsere Geschenke nicht nur im ganzen Haus zu verstecken, sondern sie auch noch, um uns irrezuführen, in falsche Kartons zu verpacken – die Stereoanlage in den Staubsaugerkarton, meine Kunstbücher in die Verpackung einer Kaffeemaschine –, und dieses Spielchen trieb er noch nach dem Fest, weil er völlig die Orientierung verloren hatte, wo sich was befand. Währenddessen betäubte Anja die Wände mit klassischer Rockmusik. Die Tapeten knisterten und feiner Staub rieselte aus den Mauerfugen.
Ich studierte lustlos in meinen Physikbüchern (man hatte mir ungefähr einen halben Zentner davon geschenkt, um die Angelegenheit ein für allemal für die Wissenschaft zu entscheiden), denn selbst die Physik offenbarte nichts weiter als das Chaos. Daran konnten auch ein paar in der Praxis verlässliche Naturgesetze wenig ändern.
Freud hätte behauptet, ich litte an meinem Über-Ich. Mein Es sei der Lust am Malen und am Künstlertum verfallen, doch Moral und Realität drängten diese sublimierte Libido zurück. Aber wie viele moderne Irrenärzte glaube ich dem alten Wiener Charmeur kein Wort. Er irrt sich selten völlig, doch er setzt die Akzente falsch. Der Blickwinkel ist verschoben. Nicht nur meine Professur für die Erforschung höherer Bewusstseinszustände belehrte mich darüber, dass der alte Knabe mit dem Sextick einem verhängnisvollen Irrtum zum Opfer gefallen war.
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Kennen Sie diese Leute, die so herumstolzieren, als wüssten sie irgend etwas? Als seien sie im Besitze einer geheimen Wahrheit?
Als beherrschten sie eine wichtige Regel? Nicht irgendeine Regel, sondern die Regel par excellence?
Die Welt ist voll davon. Haben Sie erst einmal den Blick auf diesen merkwürdigen Sachverhalt gelenkt, dann fällt es Ihnen plötzlich wie Schuppen von den Augen.
Sie werden feststellen, dass die meisten Menschen irgendwelche Regeln verkünden, von so singulären Erscheinungen wie Napoleons Verbannung, Gorbatschows Sturz oder der Verspätung des Eiermanns mal abgesehen. Und jeder hat eine unfehlbare Einsicht in die Evidenz seiner Regeln.
Alle diese Methoden sollen Sie glücklich machen, Ihnen zu einem bequemen, von Leiden befreiten Leben verhelfen. Unser gesamtes Erziehungssystem beruht darauf. Aber Sie können solche Regeln ebenso gut an der Theke wie am Stammtisch und im Parlament hören. Jeder weiß es besser.
Wenn mein Alter sagte: »Marc, du verdammter Stinker, wer zum Teufel hat schon wieder seine dreckigen Socken im Badezimmer herumliegenlassen?« – dann meinte er damit, abgesehen von der bloß rhetorischen Frage: Es macht dich und uns alle glücklicher, wenn das Zeug mit seinem Käsegeruch nicht unnütz im Haus herumliegt.
Aber was, wenn irgend jemand meine Socken gern roch? Wo blieben dann seine absolut gültigen Regeln?
Diese Frage kann man jedem stellen, der einem irgendwelche Rezepte verkaufen will. Sei es nun die Regel, wie man keine Pickel kriegt, wie man sich vor Selbstmord oder Geschlechtskrankheiten schützt, wie man seine Depressionen los wird oder Verstimmungen überhaupt erst einmal als das identifiziert, was sie sind.
Tatsächlich scheint es solche Regeln auch zu geben. Nur sind sie alles andere als allgemeingültig. Sie haben für den einzelnen keine Spur von Plausibilität, solange sie sich nicht in der Praxis bewähren. Und diese Bewährung kann im nächsten Moment in ihr Gegenteil umschlagen.
Ich war damals schon ein beachtlicher Erkenntnistheoretiker, deshalb warf es mich kaum aus der Bahn, als mir meine Mutter die goldene Regel für meine weitere Ausbildung verkündete:
»Wir haben über deine berufliche Zukunft nachgedacht, Marc, und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es besser wäre, wenn ein Privatlehrer deine Ausbildung übernähme.«
»Ein Privatlehrer? Du meinst in Physik?«
»Nein, allgemein.«
»Darf ich fragen, womit ich diese Auszeichnung verdiene? Meine Noten sind doch ganz ordentlich?«
»Deine Lehrer glauben sogar einen – nun bleib mal auf dem Teppich – genialischen Zug bei dir zu erkennen. Allerdings mit einem deutlichen Hang zur Verwahrlosung, was deine schulischen Leistungen anbelangt.«
»Anders ausgedrückt: Sie halten mich für begabt, aber faul?«
»Ein guter Lehrer könnte dir den Einstieg ins Studium erleichtern. Wir möchten, dass du mit einer erstklassigen Abiturnote abschließt.«
Also daher wehte der Wind! Sie wollten niemanden, der beim Abschluss kläglich versagte. Wahrscheinlich würde das meinen Vater ein halbes Dutzend Aufträge für Hochhäuser und meine Mutter ihren Sitz im Parlament kosten.
»Und was sagt die Schulbehörde dazu?«
»Kein Problem, es ist ja nur eine Zusatzausbildung. Sie wird dich von der Straße holen, Marc. Das ist Vaters größte Sorge. Er macht sich Gedanken darüber, wo du dich nach dem Gymnasium herumtreibst.«
»Ich sitze meist in der Bibliothek, um meine Physikkenntnisse zu vervollständigen.«
»Tatsächlich?« Sie warf mir eine ungläubigen Blick zu – so ungläubig wie manche Frauen, wenn ihr Angetrauter jeden Eid auf seine eheliche Treue schwört.
»Deshalb könnt ihr euch das Geld für den Burschen sparen.«
»Das würde die Sache allerdings ändern. Falls sich herausstellen sollte, dass du über ausreichende Kenntnisse verfügst, werden wir es einfach bei der Probezeit belassen.«
»Heißt das, ihr habt schon jemanden für mich eingestellt? Wer ist den der Glückliche?«
»Eine junge Physikstudentin.«
Ich muss ziemlich entgeistert ausgesehen haben damals. Die Überraschung war ihnen allerdings gelungen. Irgendein pickeliges Wesen ohne Hüften mit dicken Brillengläsern, dachte ich. Oder noch schlimmer: mit Schlabberpullover ohne BH und kurzgeschnittenen Fingernägeln, das dauernd Pistazien kaute. Welches Mädchen, das gut aussieht, studiert schon Physik?
»Frag mich jetzt bitte nicht, wie sie aussieht, Marc. Ausgesprochen hübsch.«
»Im Ernst? Ihr habt sie doch nicht nach Schönheit ausgesucht?«
»Man sagt, Karola sei die fähigste Studentin am Institut. Sie hat zwei Schulklassen übersprungen – mit Abiturnote 0,7.«
Diese Zahl flößte ihr offensichtlich Ehrfurcht ein. Wie die meisten Sterblichen dachte sie ständig in Kategorien von Wettbewerb und Überlegenheit, und das mag auf den ersten Blick zwar ein harmloses und sogar erfolgreiches Vergnügen sein, verseucht aber den Verstand genauso schleichend und fast unwiderrufbar wie eine Giftmülldeponie das Erdreich.
»Eine kleine Intelligenzbestie also – und auch noch hübsch?«
»Du bist ein wahrer Glückspilz.«
»Ihr wollt mich doch nicht mit ihr verkuppeln?«
»Untersteh dich, auch nur an so etwas zu denken, Marc! Sie ist deine Lehrerin, nichts weiter. Vater vertraut darauf, dass deine vollmundigen Behauptungen von einem Leben ohne Frauen ernst gemeint sind.«
Das hatte mir gerade noch gefehlt: Nachhilfestunden in Physik. Und dazu der Körpergeruch einer jungen intelligenten Frau, wenn sie sich am Schreibtisch über meine Schulter beugte. Wer sollte so etwas aushalten? Wenn ich es allerdings schaffte, meinen Vater davon zu überzeugen, dass ihre Arbeit so überflüssig war wie ein Kropf?
Das ließ sich nur durch Leistung bewerkstelligen. Ich würde mein Interesse an der Malerei auf Eis legen müssen. Ich wusste, dass ich in der Lage war, gut und schnell zu lernen. Am besten veröffentlichte ich irgendeinen genialischen Aufsatz in einem Fachmagazin für Theoretische Physik. Und nachmittags würde ich mir jeden Tag einen Gang durchs Museum gönnen, als Belohnung für meine Disziplin.
Karola war zwar hübsch, aber körperlich eher unscheinbar. Sie reichte mir gerade bis zu den Ohren. Sie liebte Pullover. Und das alles, ohne mein Sehzentrum durch breitflächige Fettpolster zu terrorisieren. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig, als verbringe sie ihre Freizeit mit Yoga-Übungen. Bei alledem hatte sie eine Art, die Dinge anzugehen, die mir Achtung abnötigte. Nicht dieses zickige Gebaren, das sich emanzipierte Frauen antrainiert haben.
Sie schien zu glauben, ich hätte noch nie im Leben etwas von Erotik oder Sex gehört, denn sie behandelte mich, als sei ich völlig geschlechtslos, als komme das alles erst in einer späteren Lebensphase.
Nachdem Anja ihr gesagt hatte, ich hätte mich für die sexuelle Abstinenz entschieden, blickte sie mir einen Augenblick lang ausdruckslos in die Augen. Wieder hatte ich dieses verdammte Gefühl von Glas. Gehörte sie etwa zu den Gläsernen wie mein Vater? Ich versuchte ihre Gedanken zu lesen. Sie dachte: Wie kann sich jemand dafür entscheiden, Mönch zu werden, wenn er gar nicht weiß, wovon er redet?
Ihr Zimmer im Dachgeschoss machte mich rasend, weil es wie ein einladendes Liebesnest wirkte, und zwar eines von der modernen Sorte, keines mit Plüsch und rotem Licht. Ich lag halbe Abende krank vor Eifersucht auf der Lauer, um herauszufinden, ob sie dort irgendwelche Freunde empfing. Aber entweder war sie cleverer als ich, oder sie hatte sich vorgenommen, während der Probezeit kein Risiko einzugehen.
Immerhin wurde ich auf diese Weise von meinem Problem mit der Kunst ablenkt. Genauer gesagt, es normalisierte sich. Es verlor an Kraft.
Die wenigen Augenblicke, in denen ich mich ins Nationalmuseum fortstahl, um einen Blick auf die Abgründe des Lebens, auf meine berufliche Zukunft zu werfen, oder auf das, woran ich als Maler anzuknüpfen gedachte, wirkten so besänftigend und anregend auf mich, dass ich eine geheimnisvolle Verbindung oder Spannung zwischen Karola, meiner paranoiden Eifersucht und der Galerie und Montag empfand.
Bosch klaffende rote Wunde am Bauch erschien mir plötzlich weniger bedrohlich. Alle diese Bedenken waren nichts weiter als der Ausdruck eines übersättigten Gehirns. Was hinderte mich eigentlich daran, einen positiven Ton in meine Malerei zu bringen? Etwa die Vergangenheit? Die Tradition?
Ich hatte meine Krise überwunden – dank eines Mädchens, das nach irgendeinem konventionellen Deodorants roch, vermischt mit billigem Studentenparfüm von den Verkaufsständen der Mensa. Ein weiterer Beleg dafür, wie leicht Frauen im Leben eines Mannes zum Katalysator werden können.
Mich faszinierte Karolas helles Lachen, wenn sie mir mit unschuldsvoller Miene, als belehre sie einen unbegabten Schüler, klarzumachen versuchte, dass sich Naturgesetze immer nur falsifizieren aber niemals verifizieren ließen und ich mit der ganzen Leidenschaft meines jungen Forscherlebens widersprach. Das war vulgärster Popper. Nichts ließ sich jemals wirklich verifizieren, wenn man der Sache bis ins letzte nachging, nicht mal der Satz, Naturgesetze ließen sich niemals verifizieren, also auch nicht die Naturgesetze.
Der Grund dafür liegt, wie ich heutzutage glaube, in der mangelnden Überprüfbarkeit unserer Gedanken. Man kann unmöglich wissen, ob sie ihre Welt nur mit Hilfe obskurer, vom Gehirn zusammengefügter Wahrnehmungen erschaffen oder auf irgendeine Weise bewusstseinsunabhängige Dinge erfassen.
Der Irrtum unserer begabten Studentin war, dass sie auf zu naive Weise ihren »Wahrnehmungen« und Gedanken vertraute. Sie war ein durch und durch normaler Mensch, so stinknormal wie meine Familie.
Sie passte vollendet zur Inneneinrichtung unseres Hauses: neureich und von der Stange, mit vergoldeten Armaturen, aber aus Kunststoff-beschichteten Spanplatten. Karola konnte mir theoretisch nicht das Wasser reichen. Sie war einfach nur bürgerlich, einschließlich aller Marotten, die sogenannte absolut gültige Verhaltensregeln mit sich bringen, wie ihre Binden vor mir im Kleiderschrank zu verstecken oder sich eine Badetuch umzubinden, wenn sie aus der Wanne kam.
Da schien mir der fette, unser großes Irrenhaus und seine höllischen Folgen abbildende Hieronymus Bosch im Weltgerichts-Triptychon schon eher auf der Höhe der Zeit. Für ihn war das Erdachte und Vermutete genauso real wie die sogenannte ordinäre Realität. Wir sind fast immer Opfer oder Nutznießer unserer Gedanken.
Besäßen wir nur genügend Innensicht, würden wir leicht erkennen, wie wenig von den Dingen übrigbleibt, die wir als »Realitätskrümmel« wahrnehmen – dem Zeug, das man sägen, zerbrechen oder verbrennen kann. Den Blick vor dieser anderen, inneren Realität zu versperren, ist die beste Voraussetzung dafür, zum psychischen Krüppel zu werden.
An diesem Freitagnachmittag hatte ich meine kleine Kamera mitgenommen, obwohl es verboten war, in der Galerie zu fotografieren. Unter dem in heller Glorie thronenden Weltenrichter war eine Apokalypse alptraumhafter Grausamkeiten ausgebrochen, in der Teufel und andere Bestien ihr gnadenloses Geschäft erledigten, während im Hintergrund des mittleren Bildes die Welt in Flammen aufging.
Eine kalte Wintersonne fiel durch die großen Fenster. Was ich brauchte, wenn ich auf den verräterischen Blitz verzichten wollte, war lediglich eine ruhige Hand und eine lange Belichtungszeit. Ein 1/15 Sekunde ohne Stativ. Als ich die Kamera ans Auge hob, sagte Montags Stimme hinter mir:
»Es ist ein Gemälde von großer innerer Hellsichtigkeit …«
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Er sagte nicht: Verschwinde mit deiner verdammten Kamera, sondern er sah mich zum erstenmal an wie jemanden, der nicht durchsichtig ist. Ich gewann augenblicklich meine Existenz zurück und fühlte mich nicht länger als Schatten.
Sein gütiges altes Gesicht war es, das mir diesen Lebenshauch eingab. Es schien, als würde ich zugleich leicht und schwer. Als werde das Gewicht eines gewaltigen Steines von mir genommen, der mich in den Boden gedrückt hatte, und als gewönne ich dadurch auch mehr Standfestigkeit. Die Atmosphäre des Raumes schien mich zu halten und umfloss mich wie eine unsichtbare Hülle.
»Ich weiß natürlich, dass es hier verboten ist, zu fotografieren, weil das Blitzlicht den Farben schadet«, sagte ich. »Aber mir ist plötzlich klar geworden, dass ich mich länger mit dem Bild beschäftigen muss. Die Zeit im Museum reicht dazu nicht aus.«
»Weil es uns so viel zu sagen hat?«
»Auch, um seine Maltechnik zu studieren.«
»Die Technik ergibt sich immer von selbst, wenn man ernsthafte Absichten hat und genaue Beobachtungen anstellt. Ich glaube nicht, dass Bosch sehr systematisch über seinen Stil nachdachte. Natürlich wusste er, was er tat.
Aber er arbeitete aus einer künstlerischen Intuition heraus, er war sich seiner Formen völlig sicher. Entscheidend ist, ein starkes Empfinden für das zu entwickeln, was um einen herum vorgeht, und es einfach in die Realität des Bildes umzusetzen.«
»Sie haben hier im Museum genügend Zeit, darüber nachzudenken, nicht wahr?«
»Wenn ich auf meinem Stuhl sitze und die Augen öffne, will es mir manchmal so scheinen, als seien Hieronymus Bosch und ich eins geworden. Als sähen wir beide dasselbe Bild.«
»Aber es ist dasselbe Bild?«, wandte ich ein.
»Ich meine die zugrundeliegende Realität.«
»Glauben Sie wirklich an den ganzen Hokuspokus mit Engeln und Teufeln?«
»Nein, es sind nur Bilder für unsere inneren Teufel.«
»Was ist mit Gott und dem Satan?«
»Nur Bilder. Projektionen unseres Inneren für verschiedene abstrakte Realitäten, um die unser Leben kreist. Es sind Lügen, mit denen wir uns selbst beschwichtigen und unsere Angst und unser Unbehagen besänftigen. Primitive Krücken für schlichte Seelen, die noch nicht ganz dem Kindesalter entwachsen sind, die einfache Beispiele benötigen.«
Seine Worte machten einen starken Eindruck auf mich. Ich dachte den ganzen Abend über sie nach. Nicht, als erführe ich dadurch etwas völlig Neues, sondern, als werde einigen Gedanken, die schon lange vor der Tür meines Bewusstseins gestanden hatten, nun endlich der Zutritt erlaubt …
Wo es keinen Gott mit weißem Bart und keinen leibhaftigen Teufel gibt, da hat auch die sexuelle Enthaltsamkeit keinen Sinn. Was hatte mich eigentlich dazu gebracht, Mönch zu werden? Dieser katholische Wahn, der immer noch in unseren Köpfen spukt, selbst wenn wir gar keine Christen sind?
Oder jene ablehnende Haltung unseren Gefühlen gegenüber, die entsteht, wenn wir dazu erzogen werden, uns solange anzustrengen und etwas »Nützliches« zu tun, bis wir den Genuss als Schuld und die Anstrengung als Lohn empfinden?
Eine vertrocknete Form der Realität, entstanden durch plumpe Bilder, durch die Sklavenmoral des schlechten Gewissens. Plötzlich hatte ich begriffen, dass die Wirklichkeit, die solche Projektionen erzeugen, verkürzt ist, ohne Farbe und vollen Klang, ohne jeden inneren Aufschwung, ohne den ernsthaften Versuch, die Freuden des Daseins auszuloten.
Also rüstete ich mich mit drei schwarzen Präservativen der Marke Panther aus, machte auf dem Balkon ein paar Kniebeugen in der kalten Abendluft, um meinen Kreislauf auf Trab und meine Potenz in Wallung zu bringen und schlich mich zurück ins Treppenhaus, am offenen Wohnzimmer vorüber.
Als ich mit hartem Knöchel an Karolas Zimmertür klopfte, lief im Fernsehen gerade eine Schnulze aus den fünfziger Jahren, die meine Mutter augenblicklich so in ihren Sessel bannen würde, dass sie unfähig war, auch nur einen Muskel zu rühren, geschweige denn ihren gewohnten Kontrollgang durchs Haus zu machen, und meinen Vater veranlasste, auf der Stelle einzunicken.
Karolas verschlafene Stimme antwortete durch die Tür wie aus einem seit Generationen verschlossenen Grab. Ich wusste, dass sie sich gerade mehrere Nächte wegen einer schwierigen Klausur in »Diamagnetismus« um die Ohren geschlagen hatte, das ist ein in allen Stoffen durch ein äußeres Magnetfeld induzierbarer Magnetismus. Kein normaler Mensch interessierte sich noch dafür, außer ein paar verrückten Physikern, die hofften, immer weiter in die Geheimnisse der Materie eindringen zu können.
»Ich bin’s, Marc.«
»Um diese Zeit?«
»Es ist sehr dringend …«
Es war gerade mal acht Uhr. Viel zu früh für eine vitale junge Frau wie Karola, aber die richtige Zeit für alles, was der Seele auf die Sprünge half. Ich stand mit meinen Präservativen vor ihrer Tür, die Packung in der Hand wie einen verwelkter Blumenstrauß – den ich schnell hinter meinem Rücken verbarg, als ich mich selbst so sah –, da flog auch schon die Tür auf und Karola stand in irgendeinem geblümten Ding, das sie auf dem Flohmarkt am Tisch für vom Lieferwagen gefallene Textilien erstanden hatte, vor mir – die Arme in die Hüften gestützt.
Diese himmlischen weißen Arme …
»Was ist los, Herzbaum?«, erkundigte sie sich mit hochgezogenen Brauen. Karola nannte mich immer beim Nachnamen, wenn es ernst wurde. Ich versuchte irgend etwas zu sagen, biss mir aber im Eifer des Gefechts so heftig auf die Zungenspitze, dass ich vor Schmerz und Schreck völlig starr wurde.
»Was hältst du denn da hinter deinem Rücken versteckt?«
»Nichts … ich.«
»Zeig mal her!«
»Nein, bitte nicht …«
Sie sah mir in die Augen, und diesmal war ich alles andere als Glas für sie. Sie witterte, was vorging. Vielleicht roch sie es auch. Zeugungsfähigen Frauen wird nachgesagt, dass sie einen untrüglichen Sinn für die Ausdünstung männliche Hormone haben.
»Hände nach vorn oder Tür zu«, forderte sie drohend.
Ich streckte meine Hand mit der Schachtel aus.
»Marke Panther«, stellte Karola ungerührt fest, als ständen die Freier mit Präservativen vor ihrer Tür Schlange. »Ist es denn so dringend? Bist du dafür nicht noch viel zu jung?«
»Ich bin fast einen Kopf größer als du.«
»Einen halben. Frauen sind meistens kleiner als Männer.«
»Ich glaube, die Körpergröße spielt keine besondere Rolle dabei.«
»Und wieso glaubst du, dass ich für so etwas zu haben bin? Ich meine, wer gibt dir eigentlich das Recht, von mir zu denken, ich sei eine Nutte?«
Sie wippte auf den Zehenspitzen in ihrem geblümten Nachthemd, dessen einer Träger schräg über ihrer weißen Schulter hing, und grinste, halb prüfend, halb verächtlich. Die Korridorlampe warf einen Schatten auf ihr Gesicht, der wie der Pferdefuß des Leibhaftigen aussah. Eine Projektion meiner schwarzen Phantasie, versuchte ich mir einzureden.
»Ist es zum ersten Mal?«
Ich nickte.
»Jeder tut’s irgendwann zum ersten Mal. Es ist meist wenig erfreulich. Wir sind viel zu verkrampft.« Sie tippte sich mit beiden Mittelfingern an die Schläfen. »Da drinnen läuft garantiert das falsche Programm ab, beim ersten Mal.«
»Bei mir nicht«, widersprach ich.
»Du hast mir schon oft aufgelauert, nicht wahr? Du beobachtest mich.«
»Nein, wie kommst du darauf?«
»Ich bin nicht blind, Herzbaum …«
»Es ist nur wegen der Freier, die dich besuchen könnten. Der Gedanke, da könnte noch jemand anders außer mir sein, macht mich nervös.«
»Hallo, der Kleine erprobt wohl gerade seine Machoallüren? Glaub mir, wenn ich’s tue – falls ich es tue –, dann nicht, weil du es bist oder um mich bei dir einzuschmeicheln, sondern einzig und allein, weil ich selbst ein wenig Spaß daran habe. Das ist das einzige Kriterium, hast du gehört?«
»Natürlich, was sonst?«
Wir setzten uns auf ihre Bettkante und laborierten eine Weile mit den Utensilien und den dazugehörigen Körperteilen. Aber anscheinend war außer einer netten entspannenden Oberschenkelmassage an diesem Abend nicht viel drin für mich. Die Gummis erwiesen sich als viel zu groß. Oder das für diesen Zweck erforderliche Körperteil aus Angst zu klein. Mussten für irgendeinen Bodybuilder angefertigt worden sein. Sondergröße, falscher Karton im Automatenschacht.
Erstaunlicherweise meisterte Karola mein Problem mit der Diskretion einer erfahrenen Prostituierten – als sei es eine ganz alltägliche Erfahrung für sie. Ihre Hände waren unglaublich geschickt. So führte meine erste etwas persönlichere Begegnung mit Alexander Montag, zu einem eher kläglichen Ergebnis, was den Lustgewinn anbelangte.
Ich hatte Schlüsse aus seinen Bemerkungen gezogen, die noch in die Kategorie »Was denken wir auf der Affeninsel?« gehörten.
Ich begriff erst ganz allmählich, dass er mir mehr mitzuteilen versuchte als die Trivialität: Genieße das Leben, verdammt noch mal, falls Gott wirklich tot ist.