Waldheimat

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WIE DAS ZICKLEIN STARB

Ein andermal drohte die birkene Liesel wieder. Mein Vater hatte ein schneeweißes Zicklein; mein Vetter Jok hatte einen schneeweißen Kopf. Das Zicklein kaute gern an Halmen oder Erlenzweigen; mein Vetter gern an einem kurzen Pfeifchen. Das Zicklein hatten wir, ich und meine noch jüngeren Geschwister, unsäglich lieb; den Vetter Jok auch. So kamen wir auf den Gedanken: wir sollten das Zicklein und den Vetter zusammentun.

Da war’s im Heumonat, daß ich eines sonnenfreudigen Tages alle meine Geschwister hinauslockte auf den Krautacker, und daselbst die Frage an sie tat: „Wer von euch hat einen Hut, der kein Loch hat?“

Sie untersuchten ihre Hüte und Hauben, aber durch alle schien die Sonne. Nur Jackerls Hut war ohne Arg; den nahm ich also in die Hand und sagte: „Der Vetter heißt Jok, und morgen ist der Jokopitag, und jetzt, was geben wir ihm zum Bindband (Angebinde)? Das weiße Zicklein.“

„Das weiße Zicklein gehört dem Vater!“ rief das kleine Schwesterchen Plonele, empört über ein so eigenmächtiges Vorhaben.

„Desweg ist es ja, daß ich euch den Hut hinhalte“, sagte ich. „Fallt’s euch nicht ein, was wir tun müssen? Du, Jackerl, hast gestern dem Knierutschersepp dein Kinigl (Kaninchen) verkauft; du, Plonele, hast von deinem Göden drei Groschen zum Taufpfennig gekriegt; dir, Mirzerle, hat vor zwei Tagen der Vater ein Haltergeld geschenkt. Schaut, ich leg’ meine ersparten fünf Kreuzer hinein, und wir müssen zusammentun, daß wir dem Vater das Zicklein abkaufen mögen; und das schenken wir morgen dem Vetter Jok. Na, jetzt halt’ ich schon her!“

Sie guckten eine Weile so drein, dann huben sie in ihren Taschen zu suchen an. Da sagte das Plonele: „Mein Geld hat die Mutter!“ und das Mirzerle rief erschrocken: „Das meine weiß ich nicht!“ und das Jackerl starrte auf den Boden und murmelte: „Mein Sack hat ein Loch.“

Auf diese Weise war mein Unternehmen gescheitert.

Nichtsdestoweniger haben wir das schneeweiße Zicklein geherzt. Es stieg mit den Vorderfüßchen an unsere Knie empor und guckte uns mit seinen großen, eckigen Augen schelmisch an, als wollte es uns recht spotten, daß wir allmitsammen nicht soviel an Vermögen hatten, um es kaufen zu können. Es kicherte und blökte uns ordentlich aus, und dabei sahen wir die schneeweißen Zähnlein. Es war kaum drei Monate alt und hatte schon einen Bart; und ich und das Jackerl waren über sieben Jahre hinaus und mußten uns aus grauen Baumflechten einen Bart ankleben, wenn wir einen haben wollten. Und selbst den fraß das Zicklein vom Gesichte herab.

Trotzdem hatten wir jedes das Vierfüßchen viel lieber, als uns untereinander. Und ich sann auf weitere Mittel, mit dem Tiere den Vetter zu beglücken.

Als mittags darauf der Vater vom Felde heimfuhr, umschwärmten wir ihn alle und zupften an seinen Kleidern.

„Vater“, sagte ich, „ist es wahr, daß die Morgenstunde Gold im Munde hat?“

Das war ja sein eigen Sprichwort, und so antwortete er rasch: „Freilich ist es wahr.“

„Vater!“ riefen wir nun alle vier zugleich, „wie früh müssen wir all’ Tag’ aufstehen, daß Ihr uns das weiße Zicklein gebt?“

Auf diese geschäftliche Wendung schien der Vater nicht gefaßt gewesen zu sein. Da er aber von unserem Vorhaben, dem Vetter Jok das Zicklein zuzueignen, hörte, so bedingte er, ein halb Stündlein früher aufzustehen jeden Tag, und trat uns das liebe Tier ab.

Das Zicklein gehörte uns. Wir beschlossen einstimmig, schon am nächsten Morgen noch vor des Vetters Aufstehzeit – und das war viel gesagt – aus dem Neste zu kriechen, das Zicklein mit einem roten Halsband zu versehen und es ans Bett des alten Jok zu führen, ehe dieser noch seinen langen, grauen Pelz, den er Winter und Sommer trug, an den Leib brachte.

So unser heilig Vorhaben.

Aber am anderen Tage, als uns die Mutter weckte und wir die Lider aufschlugen, schien uns die Sonne mit solcher Gewalt in die Augen, daß wir dieselben sogleich wieder schließen mußten, bis die Mutter mit ihrem Kopftuch das Fenster verhüllte.

Nun gab es keine Ausflucht mehr. Aber der Vetter war längst schon davon mitsamt dem Pelz. Er hatte die Schafe und die Ziegen auf die Talweide getrieben, wo er sie stets hütete und den ganzen Tag schmunzelnd an seinem Pfeifchen kaute. Und die Tiere schnappten so emsig an den betauten Gräsern und Sträuchern, und hüpften und scherzten so lustig auf der sonnigen Weide.

Es war auch das Zicklein dabei. Und hat’s dem Jok denn niemand gesagt, daß heute sein Namenstag ist? –

Zu jener Zeit, von der ich rede, sind die feuerspeienden Streichhölzer noch nicht erfunden gewesen; dazumal war das liebe Feuer ein rares Ding. Man konnte es nicht so bequem mit im Sacke tragen, wie heute, ohne sich das Beinkleid zu verbrennen. Es mußte mit harten Schlägen aus Steinen herausgetrieben werden; es mußte, kaum geboren, mit Zunder gefüttert werden, und bedurfte langer Zeit, bis es sich in demselben soweit kräftigte, daß es ein gröberes Köder anbiß und flügge wurde. Das Feuer mußte zum Dienste des Menschen jedesmal förmlich erzogen werden.

Das war ein mühsam und heikel Stück Arbeit; beim Feuermachen konnte meine sonst so milde Mutter unwirsch werden.

Die Glut, des Abends noch so sorgsam in der Herdgrube verwahrt, war des Morgens zumeist erloschen. Was sich die Mutter auch mühte, den Funken in der Asche wieder anzublasen – all vergebens, das Feuer war gestorben über Nacht. Nun ging die Schlägerei mit Stein und Stahl an; und wir Kinder waren oft schon recht hungrig, ehvor die Mutter das Feuer zuweg brachte, welches uns die Morgensuppe kochen sollte.

So auch am Morgen von des Vetters Namenstag. Wir hatten draußen in der Küche wohl eine Weile das Pfauchen und Feuerschlagen gehört, dann aber rief die Mutter plötzlich aus: „’s ist gar umsonst! ’s ist, wie wenn der bös’ Feind in die Herdgruben hätt’ gespuckt. Und der Stein hat keinen Funken Feuer mehr in sich, und der Schwamm ist feucht, und die Leut’ warten auf die Suppen!“ Dann kam sie in die Stube und sagte: „Geh’, Peterl, ruck’, und lauf geschwind zu der Knierutscherin hinüber: ich tät’ sie gar schön von Herzen bitten, sie wollt’ mir ein Haferl Glut schicken von ihrem Herd. Und trag’ ihr dafür da den Brotlaib mit. Geh’, Peterl, ruck’, daß wir nachher eine Suppen kriegen!“

Ich hatte mein weißes Linnenhöselein gleich an, und wie ich war – barfuß, barhaupt, nahm ich den runden, recht gewichtigen Brotlaib unter den Arm und lief gegen das Knierutscherhaus.

„Du Sonnenschein“, sagte ich unterwegs, „schäm’ dich, du kannst nicht einmal eine Suppe kochen. Jetzt muß ich zu der Knierutscherin um Feuer gehen. Aber wart’ nur, wird bald lustig sein auf unserem Herd; die Flammen werden aufhüpfen über das Holz, die Mauer wird rot sein, die Töpfe werden brodeln, der Rauch wird unter dem Feuerhut hinaussprudeln und den Rauchfang hinauf und wird dich verdecken. Recht hat er, wenn er dich verdeckt, dann essen wir die Suppen und den Sterz im Schatten, und den Eierkuchen auch, der heut’ für den Vetter Jok gebacken wird, und du sollst von allem nichts sehen.“

Als ich nach solchem Gespräche mit der Sonne über die Lehne ging, da stach mich ein wenig der Vorwitz. Mein Brotlaib war so kugelrund und fest, als wäre er aus Lärchenholz gedrechselt worden. Man läßt bei mir daheim das Brot gern altgebacken werden, es langt auf diese Weise doppelt aus, aber es muß zur Essenszeit zuweilen mit Eisenschlegeln zertrümmert werden.

Aber weil denn mein Laib gar so kugelrund war, wie nicht leicht etwas Runderes mehr zu finden ist, so ließ ich ihn los über die Lehne, lief ihm behende vor und fing ihn wieder auf.

War ein lustiges Spiel das, und ich hätte mögen all’ meine Geschwister herbeirufen, daß sie es sehen und mitmachen könnten. – Wie ich nun aber so in meiner Freude die Lehne auf und ab hüpfe, spielt mir mein Brotlaib jählings den Streich und huscht mir wie der Wind zwischen den Beinen durch und davon. Er eilt und hüpft hinab, viel schneller wie ein Reh vor dem Jagdhunde – er fährt über den Hang, setzt hoch über den Rain in die Talweide hinab, wo er meinen Augen entschwindet.

Bin dagestanden wie ein Klotz und hab’ gemeint, ich müßt’ umfallen vor Schreck und auch hinabkugeln gegen das Tal. Ich ging eine Weile hin und her, auf und ab, und da ich den Laib nirgends sah, schlich ich kopfhängerisch davon und ins Haus der Knierutscherin.

Da brannte freilich ein schönes großes Feuer auf dem Herde.

„Was willst denn, Peterl?“ fragte die Knierutscherin freundlich.

„Bei uns“, stotterte ich, „ist das Feuer ausgangen, wir mögen uns nichts kochen, und so laßt meine Mutter schön bitten um ein Haferl Glut, und sie tät’ es schon fleißig wieder zurückstellen.“

„Ihr Närrlein, ihr, wer wird denn so ein paar Kohlen zurückstellen!“ rief die Knierutscherin und schürte mit der Feuerzange Glut in einen alten Topf; „da seh’, ich laß deiner Mutter sagen, sie soll nur schön anheizen und dir einen recht guten Sterz kochen. Aber schau, Peterl, daß dir der Wind nicht hineinblast, sonst tragt er die Funken auf das Dach hinauf. So, jetzt geh’ nur in Gottesnamen!“ So gütig war sie mit mir, und ich hatte ihr den Brotlaib verscherzt. Des drückt mich das Gewissen heute noch hart.

Als ich endlich mit dem Feuertopfe zurück gegen unser Haus kam, war ich höchlich überrascht, denn da sah ich aus dem Rauchfange bereits einen blauen Rauch hervorsteigen.

„Dich soll man um den Tod schicken und nicht um Feuer!“ rief die Mutter, als ich eintrat; dabei wirtete sie um das lustige Herdfeuer herum und sah mich gar nicht an. Meine kaum mehr knisternden Kohlen waren armselig gegen dieses Feuer; ich stellte den Topf betrübt in einen Winkel des Herdes und schlich davon. Ich war viel zu lange ausgewesen; da war zum Glück der Vetter Jok von der Talweide heimgekommen, und der hatte ein Brennglas, das er in der Sonne über einen Zunder hielt, bis derselbe glimmte. Und jetzt war mir die verlästerte Sonne doch noch zuvorgekommen mit dem Suppenfeuer. Ich war sehr beschämt und vermag es heute noch nicht, der Wohltäterin offen in das Angesicht zu blicken.

 

Ich schlich in die Vorlauben. Dort sah ich den Vetter kauern mit seinem langen, grauen, rotverblümten Pelz und mit seinem grauen Haupt. Und als ich näher kam, da sah ich, warum er hier so kauerte. Das schneeweiße Zicklein lag vor ihm und streckte seinen Kopf und seine Füße von sich, und der Vetter Jok zog ihm die Haut ab.

Sogleich hub ich laut zu weinen an. Der Vetter erhob sich, nahm mich bei der Hand und sagte:

„Da liegt es und schaut dich an!“

Und das Zicklein starrte mir mit seinen verglasten Augen wirklich schnurgerade in das Gesicht. Und doch war es tot.

„Peterl!“ lispelte der Vetter ernsthaft, „die Mutter hat der Knierutscherin einen Brotlaib geschickt.“

„Ja“, schluchzte ich, „und der ist mir davongegangen, hinab über die Lehnten.“

„Weil du’s eingestehst, Bübel“, sagte der Vetter Jok, „so will ich die Sach’ schon machen, daß dir nichts geschieht. Ich hab’ zu der Mutter gesagt, ein Stein oder so was wär’ herabgefahren und hätt’ das Zicklein erschlagen. Hab’ mir’s im geheim gleich gedacht: das Peterl steckt dahinter. Dein Brotlaib ist schier in den Lüften dahergekommen nieder über den Rain, an mir vorbei, dem Zicklein zu, hat es just am Kopf getroffen – ist das Dingel hingetorkelt und gleich maustot gewesen. – Aber – fürcht’ dich nicht, es bleibt beim Stein. Mit der Knierutscherin werd’ ich’s auch abmachen, und jetzt sei still, Bübel, und zerr’ mir das Gesicht nicht so garstig auseinander. Auf die Nacht essen wir das Tierlein, und die Mutter kocht uns eine Krennsuppe dazu.“

– So ist das Zicklein gestorben. Meine Geschwister erzählten mir, ein böser Stein habe es erschlagen.

Die Mutter hatte mir zuliebe meine Kohlen zum Herdfeuer geschüttet, und bei diesem Feuer wurde das Zicklein gebraten.

Dem Vetter Jok war es vermeint gewesen; nun sollte er davon den Braten haben. Aber er rief uns alle zu Tisch und legte uns die besten Bissen vor. Mir hat der meine nicht gemundet.

Am anderen Morgen bewaffnete sich das Jackerl mit einem Knittel, ging damit dem Vetter nach auf die Talweide und wollte den Stein sehen, der das Zicklein erschlug. „Kind“, sagte der Vetter Jok und kaute angelegentlich am Pfeifchen, „der ist weiter gekugelt, über den rinnt das Wasser.“

Der gute, alte Mann! Was half dein Plauschen! Mir auf dem Herzen lag der Stein, „der das Zicklein erschlagen“.

DREIHUNDERTVIERUNDSECHZIG UND EINE NACHT

Mein Vater hatte vier große Ziegen im Stalle stehen, so wie er vier Kinder hatte, welche zu den ersteren stets in freundschaftlicher Beziehung standen. Jede der Ziegen hatte ihren kleinen Futterbarren, aus dem sie Heu und Klee fraß, während wir sie molken. Keine einzige gab die Milch am leeren Barren. Die Ziegen hießen Zitzerl, Zutzerl, Zeitzerl und Heitzerl und waren, einer schönen Schenkung zufolge, das Eigentum von uns Kindern. Das Zitzerl und das Zutzerl gehörten meinen zwei Schwesterchen; das Zeitzerl meinem achtjährigen Bruder Jackerl, das Heitzerl war mein!

Jedes von uns pflegte und hütete sein ihm zugeteiltes Gespons in Treue; die Milch aber taten wir zusammen in einen Topf, die Mutter kochte sie, der Vater schenkte uns dazu die Brotschnitten – und Gott der Herr den Hunger.

Und wenn wir so mit den breiten Holzlöffeln, die unser Oheim geschnitzt hatte, und die ihrer Ausdehnung wegen fürs erste kaum in den Mund hinein, fürs zweite kaum aus demselben herauszubringen waren, unser Nachtmahl ausgeschaufelt hatten, so nahmen wir jedes unseren Roßhaarkotzen und legten uns, eins wie’s andere, in den Futterbarren der Ziegen. Das waren eine Zeitlang unsere Betten, und die lieben Tiere befächelten uns mit ihren weichen Bärten die Wangen und beleckten uns die Näschen.

Aber, wie wir Kindlein auch in der Krippe lagen, so kam das Einschlafen auch nicht just immer nach dem ersten Lecken. Ich hatte von unserer Ahne wundersame Geschichten und Märchen im Kopfe.

Die erzählte ich nun in solchen Abendstunden, und meine Geschwister waren darüber glückselig, und die Ziegen hörten auch nicht ungern zu; nur daß diese dann und wann, wenn ihnen das Ding gar zu unglaublich vorkam, so ein wenig vor sich hinmeckerten oder mit den Hörnern ungeduldig an den Barren pufften. Einmal, als ich von der Habergeiß erzählte, die, wenn sie um Mitternacht auf dem Felde schreit, den Haber (Hafer) schwarz macht, und die nichts frißt, als die grauen Bärte alter Kohlenbrenner, da begann mein Heitzerl dermaßen zu meckern, daß die anderen drei auch mit einstimmten, bis meine Geschwister schließlich in ein Gelächter ausbrachen, und ich wie ein überwiesener Aufschneider erbärmlich schweigen mußte.

Von derselben Zeit an erzählte ich meinen Schlafgenossen lange keine Geschichten, und ich nahm mir vor, mit dem Heitzerl mein Lebtag kein Wort mehr zu reden.

Da kam der Sonnwendtag. An diesem Tage kochte uns die Mutter den üblichen Eierkuchen, mein liebstes Essen auf der Welt. In diesem Jahre aber hatte uns der Geier die beste Leghenne geholt, so wollte sich das Eierkörblein nicht mehr füllen und als am Sonnwendtag der Kuchen kam, war er ein gar kleinwinzig Küchlein. Wehmütig lugte ich hin auf den Holzteller.

Mein fünfjährig Schwesterchen guckte mich an, und wie wenn es meine Sehnsucht wahrgenommen hätte, rief es plötzlich: „Du, Peterl, du! wenn du uns ein ganzes Jahr in jeder Nacht eine Geschichte erzählen magst, so schenk’ ich dir meinen Teil von dem Kuchen!“

Dieser hochherzigen Entäußerung der Kleinen stimmten seltsamerweise auch die anderen bei, sie patschten in die Hände, und ich ging die Bedingung ein. So stand ich plötzlich am Ziele meiner Wünsche und hatte auch mein Ehrgeiz etwas davon.

Ich nahm meinen Kuchen unter die Jacke hinein und ging damit in die Milchkammer, wo mich niemand sehen und stören konnte. Dort verriegelte ich die Türe, setzte mich auf einen umgestülpten Zuber, und ließ meine zehn Finger und das wohlgeordnete Heer meiner Zähne über den armen kleinen Kuchen los.

Aber nun kamen die Sorgen; daß meine Geschwister strenge auf ihrer Forderung bestehen würden, daran konnte kein Zweifel sein. Ihr Opfer war groß genug gewesen. Anfangs tat es sich ja, ich hatte noch ein Vorrätchen seltsamer Historien, aber das war bald erschöpft. Dann ging ich auf meinen Hirtenzügen Pecher, Kohlenbrenner, Halter und manches wohlerfahrene Weiblein, wie ich’s im Wald und auf der Heide traf, um eine Geschichte an. Es waren ergiebige Quellen, und ich war jeden Abend in der Lage, meiner Schuldigkeit nachzukommen. Mitunter allerdings war’s ein Elend, bis ich was Neues auftrieb, und nach einer Zeit geschah es nicht selten, daß das Schwesterlein mich unterbrechend von seinem Barren herüberrief: „Du! die wissen wir, die hast uns schon erzählt!“

Ich sah wohl, daß ich auf neue Wege sinnen mußte, und war daher bemüht, das Lesen besser zu lernen, um aus manchen Geschichtenbüchern, wie sie in den Waldhütten nutzlos auf den rußigen Wandstellen herumlagen, Schätze zu ziehen. Nun hatte ich neue Quellen: die Geschichte von der Pfalzgräfin (das Jackerl sagte immer Schmalzgräfin) Genovefa; die vier Heymonskinder; die schöne Melusina; Wendelin von Höllenstein – ganz wunderbare Dinge. Da sagte mein Bruder wohl oft aus seiner Krippe heraus: „Mein Kuchen reut mich gar nicht! Das ist wohl soviel unmöglich schön. Gelt, Zeitzerl?“

Nun wurden die Abende zu kurz und ich mußte eine solche Geschichte in Fortsetzungen geben, womit aber klein Schwesterchen schier nicht einverstanden sein wollte, denn es behauptete, für jede Nacht eine ganze Geschichte! so sei es ausgemacht.

So verging das Jahr. Ich erwarb mir nach und nach eine gewisse Fertigkeit im Erzählen, und tat es sogar hochdeutsch, wie es in den Büchern stand! Oft geschah es auch, daß sich während des Erzählens meine Zuhörer tief in die Kotzen vergruben und vor Schauer über die Räuber- und Geistergeschichten zu stöhnen anhuben; aber aufhören durfte ich doch nicht.

Es war schon wieder der Sonnwendtag nahe, und mit ihm die Lösung meines Vertrages. Doch – ein eigen Geschick! – noch vor dem letzten Abend ging mir gänzlich der Faden aus. Alle meine Erinnerungen, alle Bücher, deren ich habhaft werden konnte, alle Männlein und Weiblein, denen ich begegnete, waren erschöpft – alles ausgepumpt – alles hoffnungslose Dürre. Bat ich meine Geschwister: „Morgen ist der letzte Abend – schenkt ihn mir!“ War ein Geschrei: „Nein, nein, nichts schenken! Du hast deinen Sonnwendkuchen kriegt!“ Wieder die Ziegen meckerten mit.

Am nächsten Morgen ging ich herum, wie ein verlorenes Schaf. Da kam mir plötzlich der Gedanke: Betrüge sie! Dichte was zusammen! Aber alsogleich schrie das Gewissen drein: Was du erzählst, das muß wahrhaftig sein! Du hast den Kuchen wahrhaftig bekommen!

Doch geschah im Laufe dieses Tages ein Ereignis, von dem ich hoffte, daß es im Drange der Aufregung mich meiner Pflicht entbinden würde.

Mein Bruder Jackerl verlor sein Zeitzerl. Er ging in kreuz und krumm über die Heide, er ging in den Wald und suchte klagend und rufend die Ziege. Aber endlich spät am Abend brachte er sie heim. Ruhig aßen wir unsere Suppe, gingen in unsere Krippen und von mir wurde die Geschichte verlangt.

Es war still. Die Zuhörer harrten in Erwartung. Die Ziegen scharrten im Wiederkauen mit den Zähnen. Nun denn, so sollen sie die Geschichte haben. Ich sann – – ich begann:

„Es war einmal ein großer, großer Wald gewesen. Und in dem Wald war es allweg finster gewesen. Keine Vöglein haben gesungen; nur der Totenvogel hat geschrien. Mitten in diesem Wald ist eine Heide, wie der Totenacker so still, und wer über dieselbe hingeht und nicht umkehrt, der kommt nicht mehr zurück. Über diese Heide sind einmal zwei blutige Knie gegangen.“

„Jesses Ma-!“ rief mein älteres Schwesterl aus und alle drei krochen unter die Kotzen.

„Ja, zwei blutige Knie“, fuhr ich fort, „und die sind über die Heide dahingeschwebt gegen den finsteren Wald, wie verlorene Seelen. Aber auf einmal sind die zwei blutigen Knie –“

„Ich schenk’ dir mein blaues Hosenband, wenn du still bist!“ wimmerte mein Bruder angstvoll und verbarg sich noch tiefer in die Decke.

„– sind die zwei blutigen Knie stillgestanden“, fuhr ich fort, „und auf dem Boden ist ein Stein gelegen, so weiß, wie ein Leichentuch. Dann sind zwei funkelnde Lichtlein gewesen zwischen den Bäumen, und darauf sind vier andere blutige Knie dahergegangen.“ –

„Mein neues Paar Schuh’ schenk’ ich dir, wenn du aufhörst!“ hauchte das Jackerle in seinem Trog und zog aus lauter Furcht das Zeitzerl am Barte zu sich.

„Und so sind alle sechs zusammengegangen durch den finsteren Wald, und heraus auf die Heide und über das Haferfeld herab zu unserem Hause – und herein in den Stall –“

Jetzt kreischten alle drei auf, und sie wimmerten vor Angst, und klein Schwesterlein versprach mir mit Zagen seinen Teil von dem auch heuer wieder zu erwartenden, morgigen Sonnwendkuchen, wenn ich aufhöre. Ich aber fuhr fort:

„Jetzt – na, jetzt hab’ ich zum Anfang zu sagen vergessen, daß die zwei ersten blutigen Knie unserem Jackerl und die vier letzteren seinem Zeitzerl gehört haben – wie sie heut’ im Wald herumgegangen sind, und daß die Knie nicht auswendig, sondern nur inwendig blutig sind gewesen.“

Brach das Gelächter los. „Jeder Mensch hat zwei blutige Knie!“ rief Schwesterlein, und die Ziegen meckerten, daß es ein Spott war.

Ich hatte meine Rolle ausgespielt. Dreihundertvierundsechzig Nächte lang hatte ich geglänzt als weiser, wahrhaftiger Geschichtenmann; die dreihundertfünfundsechzigste hatte mich entlarvt als argen Schwätzer.

Das Versprechen in betreff des zweiten Sonnwendkuchens wurde rückgängig gemacht; Schwesterlein erklärte, die Zusage sei nichts als Notwehr gewesen.

Und die Gläubigkeit meiner Zuhörerschaft hatte ich mir verdorben ganz und gar, und wenn sie in Zukunft an irgendeinem Erzählten ihre Zweifel ausdrücken wollte, so hieß es einstimmig: „Aha, das ist wieder ein blutiges Knie!“

Ob nicht auch die Leser meiner gedruckten Geschichten schon manchmal mit eingestimmt haben?!