Wiener Walzer

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SPEISEWAGEN
WALENSTADT–BUCHS (GRENZBAHNHOF)

Es waren die einzigen freien Plätze. Der Skilehrer drehte sich überrascht nach ihr um, für den Bruchteil eines Augenblicks funkelten seine Augen, er nickte ihr zu und rückte zur Seite. Die Strauß schaute eisig. Dorin Wolf kannte die Frau. Eine Journalistin, die sich seit kurzem als Dramatikerin versuchte.

Sie setzte sich neben den Mann und kramte in ihrer Tasche nach Lighter und Zigaretten.

«Das ist ein Nichtrauchertisch», beschwerte sich die Theaterfrau.

«Oh, Entschuldigung. Stört es Sie?»

Der Skilehrer schüttelte den Kopf und grinste, Dorin Wolf schob eine Kerze zwischen die beiden und sagte:

«Ihnen bin ich sowieso noch ein ‹Dankeschön› schuldig.»

Die Strauß wurde ganz grün im Gesicht, er lachte affig, gleich würde er der Dramatikerin die saudumme Hundegeschichte erzählen. Doch bevor er ihre Bekanntschaft als flüchtige Begegnung verunglimpfte – die Strauß sollte ruhig im Ungewissen bleiben, ihre Eifersucht war ja unübersehbar – nickte sie der Dramatikerin freundlich zu und säuselte:

«Wir kennen uns, wenn auch nur vom Hörensagen. Sie sind Melitta Strauß. Mein Name ist Wolf, Dorin Wolf. – Sie hatten letzte Woche Premiere.»

Die Strauß nickte nur, drehte den Kopf zum Fenster und trank Kaffee. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob sie ihr Stück gesehen hatte, vielleicht sogar in der Premiere war. Die Begegnung war ihr unangenehm. Vorsichtig ausgedrückt.

Sie bestellte ein Bier und einen Tomatensalat, lehnte sich zurück und schaute sich um.

An einem Zweiertisch neben dem Eingang saß das Rentnerpaar aus dem Schlafwagen, ein paar Tische weiter löffelte ein Mann mit Turban eine Gulaschsuppe. Am übernächsten Tisch hockten drei Männer beim Bier. Ihr schräg gegenüber kümmerte sich ein scheckiger Klotz etwas übereifrig um eine durchsichtige Spinnenfrau. Wie ein Mörder sah niemand aus.

Als ob sie das beurteilen könnte. Als ob Mörder wie Mörder aussehen würden.

Es war ein Fehler, hierher zu kommen. In ihrem Abteil wäre sie sicherer gewesen. Aber sie hielt es nicht mehr aus. Mit dem Brief, immer das hässliche Schimpfwort vor Augen. Sie musste unter Leute. Und wenn ihr Mörder genau das beabsichtigt hatte? Dass sie ihr Versteck verließ und in den Speisewagen flüchtete. Dann brauchte er nur hier auf sie zu warten. Wenn sie dann wieder zurück in ihr Abteil wollte, würde er ihr folgen, sie in eine Toilette drängen oder in die Nacht hinausschleudern. Er könnte sie erwürgen, irgendwo zwischen den Waggons, wo jeder Schrei vom Rattern der Räder zugedeckt würde.

Was für ein Unsinn. Ein Mord im Zug. Wieso sollte sie jemand ausgerechnet im Zug töten wollen? Das dürfte doch ziemlich schwierig sein.

Und wenn sie Recht hatte? Dann war sie ihrem Mörder direkt in die Arme gelaufen. Dann saß er irgendwo hier im Speisewagen, vielleicht sogar neben ihr. Der Skilehrer. Die Strauß. Sie war vor niemandem sicher.

Die Dramatikerin versuchte, ihr Gespräch mit dem Skilehrer fortzusetzen, als seien sie nicht gestört worden. Aber ihr beleidigter Grummelbass verriet ihre Verstimmung. Der Typ gab sich redlich Mühe, sie wieder aufzubauen, und schmierte kräftig Butter aufs Brot. Er fände ihren Einfall witzig und spannend. – Aha! Die beiden quatschten über das jüngste Opus der Wienerin.

Sie hatte es nicht gesehen, aber die Kritiken gelesen, und im Fernsehen war es mindestens zwei Tage lang das Kantinenthema «Number one». Praktisch alle hatten sich aufgeregt, gesehen hatte es niemand, außer die paar Kulturfritzen, die jeweils vom Sender zur Vorpremiere geschickt wurden.

Sie steckte sich eine weitere Zigarette an, beugte sich leicht vor und sagte:

«Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische. Sie sprechen über Ihr neues Stück. – Darf ich Sie etwas fragen?»

Die Strauß nickte und verdrehte die Augen. Der Skiläufer rutschte zum Fenster, setzte sich quer, damit er sie besser sehen konnte.

«Haben Sie mit Ihrer Tussi eigentlich mich gemeint?»

Das saß. Die Strauß schaute so blöd, dass sie sich ein feines Grinsen nicht verkneifen konnte. Wahrscheinlich sauste deren Stimme mittlerweile unter hundert Hertz. – Kartoffel, Kartoffel. – Doch dann lehnte sie sich zurück und spielte die Masche: cool, immer schön cool bleiben. Was ihr aber nicht gelang. Ihre Hände auf dem Tisch, so verkrampft wie die waren und das Zuckerbeutelchen zerfetzten. Endlich antwortete sie:

«Ich kenne Ihre Sendung nicht.»

Das Grummeln eines Elefanten.

«Das wäre aber vielleicht ganz gut gewesen», sang sie. «Ich meine, ich finde es ausgesprochen unfair, uns derart in die Pfanne zu hauen, ohne sich die Mühe zu nehmen, sich unsere Sendungen wenigstens anzuschauen.»

«Ihre Sendung ist doch nicht die einzige in der Art. Die Talkshow in meiner Komödie ist kein Abbild einer bestehenden Sendung, sondern steht stellvertretend für eine bestimmte Haltung …»

«Der Sie unterstellen, dass sie unseriös ist, sich nur an Quoten orientiert und das Publikum für eine stetig wachsende Masse von Vollidioten hält. Und Ihre Moderatorin ist ein eitles, dummes Ding mit gestylter Visage und hüpfenden Silikonbrüsten.»

«Waren Sie in der Premiere?»

«Nein, aber so stand es in der Kritik …»

«Und deren Urteil übernehmen Sie, ohne sich die Mühe zu nehmen, sich mein Stück wenigstens anzuschauen.»

Der Kellner mit dem Tomatensalat kam gerade richtig. Er hatte sie erkannt und teilte ihr mit, dass sich das Team des Speisewagens freue, sie als Gast bei sich zu haben. Sie alle seien von ihrer Sendung begeistert. Das nannte man Glück. Auf jeden Fall zerbröselte das triumphierende Feixen der Strauß auf der Stelle.

Sie drückte die Zigarette aus, warf den Kopf in den Nacken, strich die Haare aus dem Gesicht und sagte leise:

«Sie können mich nicht beleidigen. Sie haben es in Ihrem Stück versucht, und es ist Ihnen misslungen. Wir begegnen uns, zufällig, und Sie versuchen es erneut. – Wenn das Ihre Antwort auf meine Frage ist, so weiß ich Bescheid.»

Dann beugte sie sich über den Tomatensalat und aß. Sie saß und aß. Ja. Sie aß ihren Tomatensalat. Was gesagt werden musste, wurde gesagt, hinzuzufügen hatte sie nichts.

Die Dramatikerin schwieg ebenfalls, ein raffiniertes Biest, dafür meldete sich der Skilehrer:

«Ich bin kein Experte, aber … Die vielen Programme, diese Masse an Filmen, Nachrichten, Magazine … Nach zwei Stunden brummt mir der Kopf, als wäre er ein Hornissennest. – Aber Erkenntnisse? Keine.»

Oh Gott! Kam er vom Mond, oder hatte er den Sinn einer Fernbedienung nicht begriffen?

«Das Fernsehen bietet eine Dienstleistung», klärte sie den Skilehrer auf und fischte eine Zigarette, die letzte, aus der Packung.

«Schön wärs», meldete sich endlich der weibliche Nikolaus. «Im Wettlauf um die Gunst des Publikums verkauft man als Wahrheit, worüber sich nur spekulieren lässt. Wenn eine Meldung nichts hergibt, wird sie mit Bildern auf­gepeppt, und wenn überhaupt nichts mehr zieht, so ist man wenigstens live dabei. Es geht immer nur darum, den Zuschauer bei Laune zu halten. Ein Zweck, der jedes Mittel heiligt.»

«Huch! Aus der Steinzeit des elektronischen Zeitalters. Das Fernsehen als verkörperte Unmoral.»

«Ich werde nicht gerne angelogen, und die Vorspiegelung falscher Tatsachen stößt mich ab.»

«Oieueu», seufzte sie und blies Zigarettenrauch über den Tisch. «Was wird Ihnen denn in einer Sendung wie der meinigen an falschen Tatsachen vorgespiegelt?»

«Alles. Ihre Kandidaten sind nicht echt, die Fälle erfunden und aufgebauscht, Ihre Experten getürkt und Ihre Ratschläge, ich bitte Sie, das glauben Sie doch selbst nicht.»

«So, und warum nicht?», sagte sie lauter als beabsichtigt.

«Psychologie, erstes Semester.»

«A ja. Aber Sie und Ihr Theater, da hat man die Weisheit mit Löffeln gefressen.»

«Auf jeden Fall verschluckt man sich nicht an Quoten», sagte die Strauß und lachte. Lauthals und mit offenem Mund. Der Grobian vom Nebentisch feixte ebenfalls. Offensichtlich genoss ihr Streit mittlerweile die Aufmerksamkeit des halben Speisewagens.

Die Reihe makelloser Zähne schockierte sie. Eine dieser blöden Nichtraucherinnen. Auch auf ein Make-up schien die Theatertussi verzichten zu können. Aber jung war sie nicht mehr. Die Falten am Hals, vierzig musste sie längst gewesen sein.

«Ich weiß nicht, was Sie so komisch finden», sagte sie ­bissig. «Was Sie uns vorwerfen, wissen wir selbst am besten. Was Sie aufdecken, ist unseren Zuschauern bekannt. Die können nämlich durchaus unterscheiden zwischen einer Unterhaltungskiste und Information. Die wissen, wo und wann eine Diskussion stattfindet, was live ist und was Theater.»

«Bravo!», sagte jemand hinter ihr, und ein paar Leute klatschten. Die Strauß legte ihre Geldbörse auf den Tisch und winkte dem Kellner.

«Vielen Dank für Ihre Belehrung.»

Sie bezahlte ihre Rechnung, rutschte über die Bank in den Flur, winkte dem Skilehrer ein letztes Adieu zu und rauschte ab. Ein fast geglückter Abgang.

Pech war nur, dass der Zug in den Bahnhof von Sargans einfuhr. Er schlenkerte über Weichen, und die Dramatikerin verlor das Gleichgewicht. Sie taumelte gegen einen Mann, den sie in ihrem Energieschub nicht bemerkt hatte, obwohl er in seiner rot karierten Jacke eigentlich unübersehbar war.

Wie sie sich an sein Revers klammerte. Peinlich, peinlich.

Der Typ, nicht eben ein Ausbund an Höflichkeit, schüttelte sie ab und drängte an ihr vorbei, und sie, ohne sich ein weiteres Mal nach dem Skilehrer umzusehen, schwankte mit gesenktem Kopf hinter ihrem Torero her.

«Ich hoffe, Sie werden mir nicht ebenfalls davonlaufen», scherzte die Wolf und wechselte den Platz. «Warum glauben eigentlich immer alle Leute, sie könnten mit mir über nichts anderes als das Fernsehen reden?»

 

Der Skilehrer starrte sie entgeistert an, traf aber keine Anstalten, der Strauß nachzueilen. Als er ihren Hund gekrault hatte, hatte er jünger ausgesehen. Der breite Mund hatte etwas Verkniffenes. Die Augen waren jung geblieben. Lachfältchen. Kein Fett, weder Pausbacken noch Doppelkinn. Wenn er doch eher gegen die fünfzig ging, so hatte er sich zumindest gut gehalten. Verblüffend war seine gebräunte Haut, selbst seine Handrücken waren braun. Wenn er ein Bräunungsstudio besuchte, musste es ein gutes sein.

Der Aufenthalt in Sargans war kurz. Der Zug rollte bereits wieder an, vor ihrem Fenster zog der leere Bahnsteig vorbei, und wie immer, wenn der Zug Sargans hinter sich ließ, hatte sie für einen Augenblick das Gefühl, sie würden in die verkehrte Richtung fahren. Sie beugte sich zum Fenster, spähte nach der Silhouette des Schlosses und sah sie nicht. Entweder war die Fassadenbeleuchtung bereits abgeschaltet worden, oder das Schloss war tatsächlich nicht zu sehen.

In den Fensterscheiben spiegelte sich die Inneneinrichtung des Speisewagens – und ihr Gesicht. Milchig, farblos und durchsichtig, die Maske einer Toten.

Schlagartig packte sie ihre alte Angst. Als würden ihre Mörder aus dem Schatten der schwarzen Berghänge kriechen, sich an den Waggons festsaugen, kopfüber vom Dach baumeln und ihr durch das Fenster ins Gesicht springen. Sie sah den Brief vor sich, die hässliche Zeile im schlenkernden Tanz des Zuges.

Sie wünschte, sie könnte sich dem Mann ihr gegenüber anvertrauen, besäße jemanden, der zumindest wüsste, dass man sie bedroht. Sie möchte eine Hand auf seinen Arm legen, nicht mehr länger allein sein, darüber reden, wie ernst sie die Drohung zu nehmen hatte.

Es ging ihr, verdammt noch mal, ziemlich beschissen.

«Sie haben den Hund noch nicht sehr lange?», sagte der Skilehrer vorsichtig, offensichtlich darum bemüht, ein unverfängliches Gesprächsthema anzusteuern.

«Nein. Nein, das ist mein erster Hund, und ich weiß auch nicht …»

Sollte sie ihrem Visavis sagen, weshalb sie sich einen Hund zugelegt hatte? Nein. Er sollte sie zurück zu ihrem Abteil begleiten, vielleicht bat sie ihn zu bleiben, vielleicht. Wenn einer sich einmal zum Beschützer ernannt glaubte, maßte er sich eine Dominanz an, die ihr alle Kerle zuwider machte. Abgesehen davon sah er durchaus danach aus, als ob er einen Platz für seine Zahnbürste suchen würde.

«Was wissen Sie nicht?», fuhr der Typ den Bagger auf.

«Wer Sie sind, wie Sie heißen, und was, außer Hunde bändigen, Sie sonst noch können?»

Er lachte und stellte sich vor. Jürg Mettler. Ein Vorname aus dem letzten Jahrhundert. Gut, so lange lag das nun auch wieder nicht zurück, trotzdem, wieso nannte er sich nicht Georg. – Jürg würg. – Selbst Schorschiboy hätte besser geklungen.

Dann, kaum hatte er seinen Namen gesagt, wollte er vom Fernsehen quatschen. Auch nicht besser als alle andern. Dass er eine ihrer Sendungen gesehen habe und dass er … Sie schnitt ihm das Wort ab und sagte, kurz vor Mitternacht sei sie definitiv nicht mehr im Dienst, über ihre Sendungen könne er morgen früh wieder mit ihr reden. Er nickte brav und verstummte. So war das ja nun auch nicht gemeint. Aber vielleicht grübelte er bereits über ihr verstecktes Angebot. Sie musste ihn an ihre ursprüngliche Frage erinnern. Er beugte sich leicht vor und sagte ziemlich leise:

«Ich war bei der Polizei. War Privatdetektiv. Wahrscheinlich bin ich es schon bald wieder.»

Das wäre ja dann ein Volltreffer gewesen, wenn seine Antwort auch reichlich sibyllinisch klang.

«Vor gut zehn Jahren bin ich als Privatdetektiv nach Afrika gefahren. Dort habe ich mich, anstatt meinen Fall zu lösen, verliebt und ein Hotel gekauft …»

O je, eine Lebensbeichte, zumindest hörte es sich so an. Gleich alle Klammern auf. Immerhin nicht allzu gewöhnlich. Detektiv, Afrika, Liebe, Hotel, das war doch gleich eine ganze Reihe von Stichworten, auf die sie bei ihren Studiogästen meist vergeblich hoffte. Vielleicht müsste sie Schorschi einmal zu einer Sendung einladen. Auf jeden Fall kam ihr Skilehrer ganz schön in Fahrt.

Aber er besaß eine angenehme Stimme und schwatzte flüssiger und nicht ganz so doof drauflos wie vorhin, als er glaubte, der Strauß nach dem Maul reden zu müssen, sie hörte ihm gerne zu. Er unterhielt sie. Er verstand es sogar, den Monolog zu vermeiden, baute Fragen ein und gab ihr die Möglichkeit, Stellung zu nehmen. Fast hätte man glauben können, sie sprächen miteinander. Aber sie spielte die Bälle immer gleich wieder zurück. Sie zog es vor, ihm zuzuschauen. Als säße sie in einem Stummfilm, oder einem Streifen in einer fremden Sprache. Überdies entwickelte Schorschi schauspielerisches Talent. Er begleitete seine Worte mit Gesten, dann skizzierte er auf einer Serviette den Flickenteppich afrikanischer Staaten oder imitierte einige der Hauptpersonen, die seinen Lebensweg gekreuzt hatten. Eine Zeit lang hielt er sich beim Sprechen sogar die Nase zu. Er war ­witzig.

Vieles verstand sie allerdings nicht, und den Faden hatte sie längst verloren. Einmal wohnte er am Meer, dann in der Hauptstadt, oder im Urwald, bald besaß er ein Hotel, dann gehörte es seiner Frau; schließlich hätte sie nicht einmal mehr sagen können, in welchem Land der Mann denn nun gelebt hatte. Doch wenn er seine Rede unterbrach und sie fragte, ob er sie mit seiner Geschichte nicht langweile, schüttelte sie den Kopf und bat ihn, zu Ende zu erzählen. Alles war besser, als zurück ins Abteil zu ihrem Hund zu müssen.

Vor Buchs leerte sich der Speisewagen. Offensichtlich glaubten viele, sie müssten während der Grenzkontrollen in der Nähe ihres Gepäcks sein. Dann stand der Zug an die zehn Minuten. Die Schweizer Lokomotive wurde ausgewechselt. Vor den Fenstern schlenderte ein Bahnbeamter vorbei, der mit einer Eisenstange gegen die Räder schlug.

Die theatralischen Schilderungen Schorschis kamen ihr nun, da die Geräusche des Zuges ihr Gespräch nicht mehr übertönten, etwas aufdringlich vor. Kam hinzu, dass der Mann in der roten Jacke wieder in den Speisewagen kam und sich an einen Tisch in ihrer Nähe setzte. Viel zu laut bestellte er sich einen «Bündnerteller». Vielleicht hatte er noch das Dröhnen des Zuges im Ohr, doch das störte sie nicht, schlimmer war, dass er, während er auf sein Trockenfleisch wartete, Lust auf ein Schwätzchen zu bekommen schien. Auf jeden Fall sah sie ihm an, wie er die Ohren spitzte und ihr Gespräch belauschte.

Sie konnte es verstehen. Er reiste allein und langweilte sich, aber auf eine Ausdehnung ihres Gesprächs hatte sie nun wirklich keine Lust. Dass sich da einer einklinkte, vielleicht, weil er auch einmal in Afrika gewesen war oder weil er sie vom Fernsehen kannte.

Sie wollte ins Bett. Ob mit oder ohne wusste sie immer noch nicht, aber allein zurücklassen wollte sie ihren Schutzengel auf keinen Fall. Sie winkte dem Kellner, verlangte die Rechnung, und noch bevor sich Schorschiboy überhaupt zur Wehr setzen konnte, hatte sie alles bezahlt.

SCHLAFWAGEN 302 – ABTEIL 17
FELDKIRCH–LANGEN AM ARLBERG

Mettler stand unter der Türe zu seinem Abteil und lauschte auf die Geräusche im Flur. Dorin Wolf wurde immer noch von ihrem Hund begrüßt. Ein stürmischer Mix aus Kläffen und Gewinsel.

Er hatte die Moderatorin bis zu ihrem Abteil begleitet. Schon im Speisewagen war ihm ihre Nervosität aufgefallen. Vor allem nach dem Streit mit der Dramatikerin. Eine Unruhe, die sich auf dem Weg durch die Waggons noch verstärkte. Sie ging so dicht hinter ihm, dass er ihren Atem spürte, und wenn er zwischen den Wagen kurz hintereinander gleich mehrere Türen öffnen musste, lief sie auf ihn auf, als befürchte sie, die automatisch schließenden Türen könnten sie trennen. Im Ruhewagen, wo sie über Gepäckstücke und Beine steigen mussten, griff sie nach seiner Hand und gemeinsam balancierten sie durch eine Herde Schlafender, deren Ausdünstungen an ein überfülltes Massenlager erinnerten. Wenn ihnen jemand begegnete, drückte sie sich an ihn, und vor jedem Durchgang drehte sie sich um, als ob sie sich vergewissern wollte, dass ihnen niemand folgte.

Sie erreichten den Schlafwagen, und sie wurde etwas ruhiger. Aber als ihnen hinter der Schwingtüre zum Flur zwei Männer entgegenkamen, erschrak sie so sehr, dass er das Stocken ihres Atems hörte. Es waren der junge Schwendimann, der mit einem Paket (wahrscheinlich schmutzigen Pampers) zum Waschraum wollte, und ein tatsächlich etwas merkwürdiger Bursche mit einem knallroten Haarschopf, so schrill, dass die Haare der Moderatorin schon fast natürlich wirkten. Ein Typ, von dem er instinktiv dachte, dass er im Schlafwagen nichts zu suchen habe, und den er hier auch noch nicht gesehen hatte.

Sie riss ihn zurück und klammerte sich an ihn, bis die beiden Männer vorbei waren, dann zog sie ihn hinter sich her zum Aufgang in ihr Abteil. Dort musste sie wohl selbst das Gefühl bekommen haben, dass ihr Benehmen ihn befremden könnte. Sie ließ ihn los, hüpfte die Treppe hoch und drückte die Türe auf – der Hund erkannte sie und begann sein Begrüßungsgejaule – worauf sie noch einmal zu ihm zurückkam, ihn umarmte und flüsterte:

«Denken Sie nicht zu schlecht von mir.»

Der Hund beruhigte sich, und er schob die Türe zu. Endlich kam er dazu, seine Schuhe auszuziehen. Zur Blase an den Fersen war in den letzten Stunden ein immer stärker werdender Druck auf den gesamten Fuß gekommen, ein stechender Schmerz. Seine Socken waren blutig und hinterließen auf dem Teppichboden mehrere Abdrücke mit einem feinen, dunklen Rand.

Es war nicht das erste Mal, dass er ein Abteil in einem Schlafwagen gebucht hatte, aber noch nie in einem Komfortwagen eines City Liners. Außer Fenster, Spiegel und Bettlaken war alles aus einem harten, widerstandsfähigen und gut zu reinigenden Kunststoff. Es roch nach nichts, es klapperte nichts, und alles wirkte geradezu klinisch sauber. Sogar der Apfel, der zum Begrüßungsset gehörte, sah nach Plastik aus.

Die Fahrgeräusche des Zuges waren so gering, dass er sich fragte, ob der Zug überhaupt fahre. Er spähte durchs Fenster in die Nacht hinaus und sah nichts, aber ein paar Minuten später, als der Zug hielt, bemerkte er es erst, als der Wagen schon eine ganze Weile in einem hell erleuchteten Bahnhof stand.

Er kramte seinen Waschbeutel aus dem Koffer, legte sein Buch und die Zeitschrift aufs Bett und zog sich aus. Nachdem er die Zähne geputzt, ins Lavabo gepinkelt und zumindest den Versuch unternommen hatte, sich zu waschen, kroch er ins Bett.

Unter dem Kasten des zweiten zusammengeklappten Betts war es so eng, dass er nicht mehr lesen konnte. Er rutschte hervor, riss das Bett auseinander und platzierte das Kissen beim Fenster. Aber über dem Fenster gab es keine Leselampe, und aus dem Schlitz der Ventilation blies kalte Luft. Entnervt knautschte er die Decke zusammen und schob sie sich in den Rücken.

Das Titelfoto der «Privat» hatte wenig zu tun mit der Person, die er zwischen Walenstadt und Feldkirch kennen gelernt hatte. Nichts mit dem beleidigten Gezänk, mit dem sie über das Theaterstück von Melitta Strauß hergefallen war, und nichts mit der kindlichen Anhänglichkeit, mit der sie ihm durch die Waggons gefolgt war. Er suchte nach einem Grund, weshalb er dieser Frau ungefragt seine Geschichte preisgegeben hatte, während er der Dramatikerin ausgewichen war.

Auch dem Titelfoto hätte er sein Leben erzählt. Den Augen, die einen so erwartungsvoll anschauten, dem leicht erstaunten Lächeln, das einem jede Beichte entlockte.

«Eine Madonna», murmelte er und strich mit der Hand die Seite glatt.

Die Wolf in der Maske einer Heiligen. Das tief verwurzelte Bild eines Traums. Für die Moderatorin einer Sendung wie «Blick ins Herz» eine ideale Rolle.

Eine Madonna mit rot gefärbten Haaren? War er vielleicht dabei, sich in die Rote zu verlieben, oder hatten ihn Alkohol und Lebensüberdruss der letzten Monate zum sentimentalen Trottel gemacht? Ein Jammerlappen, der vor dem Hotelfernseher in Tränen ausbrach, oder sein Herz ausschüttete, sobald er einer attraktiven Frau begegnete?

Der Artikel war die Fortsetzung des Titelfotos in Küche, Bad und Bett.

«Wir wissen, wenn wir klingeln und unser TV-Schätzchen die Tür zu ihrem Heim aufmacht …» Ein paar Zeilen später «huschte das TV-Schätzchen» «elfenhaft» in die Küche und kam mit Kaffee und Gebäck zurück, was dem Schreiber und dem Fotografen in «weichen Pludersesseln» ein «himmlisches Vergnügen» bereitete.

 

Die Fragen, welche der Reporter stellte, waren so saudumm, dass die Antworten nicht gescheit sein konnten, doch dann ließ sich Dorin Wolf, von den vielen Komplimenten geblendet, dazu verführen, ihre Wünsche für die Zukunft preiszugeben.

«… natürlich kann ich die Sendung ‹Blick ins Herz› nicht mein ganzes Leben lang machen. … viel lieber möchte ich mit einem Kamerateam unterwegs sein und wirklich gute Reportagen über wirklich wichtige Leute machen. Über fremde Länder, oder über Tiere, über Städte und Strände …»

Eine Seite weiter hinten lag die Wolf in einer durchsichtigen Bluse, einem verrutschten Minirock und Stiefeln auf der Decke ihres Doppelbetts. Halb aufgestützt, die Knie leicht angewinkelt schaute sie verängstigt oder verführerisch und tat, als ob sie jeden, der ihr zu nahe kommt, in den Bauch treten wolle.

Plötzlich schämte er sich für seine Geschwätzigkeit im Speisewagen. Er warf das Heft unters Waschbecken, wo er einen Papierkorb vermutete, als es an seine Türe klopfte. Er setzte sich auf und lauschte, glaubte, sich getäuscht zu haben, als es ein zweites Mal klopfte. Lauter als zuvor. Er rutschte vom Bett, wickelte sich die Decke um den Bauch und öffnete die Tür.

Auf der Treppe, den Hund an der Leine, stand Dorin Wolf.

«Darf ich Sie bitten, zu mir in mein Abteil zu kommen. Ich muss Ihnen etwas zeigen. Es ist dringend.»

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