Wiener Walzer

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SCHLAFWAGEN 302
ZÜRICH–THALWIL

Schade, Mettler hätte gern ein paar Worte mehr mit der attraktiven Moderatorin gewechselt, als Hundekenner ein paar gute Ratschläge gewusst, stattdessen hatte er sich mit einem dummen Witz blamiert.

Sie war kleiner, als er sie sich vorgestellt hatte. Das ­Gesicht war nicht ganz so makellos wie auf dem Bildschirm. Pausbacken, die nicht zu einer «femme fatale» passten, und ihr Umgang mit dem Hund, ihr Abgang waren alles ­andere als souverän. Sie roch gut. Nach Frühling und Limonen.

Die Abfahrt des Zuges nahm niemand wahr. Vor den Treppen in die beiden Stockwerke bildeten die Leute kleine Gruppen, und Mettler war wohl nicht der Einzige, der darauf wartete, dass die Rote sich noch einmal melden würde. Doch sie ließ sich Zeit.

Ein Glatzkopf mit Schnauz, der schon vorher von Abteil zu Abteil marschiert war, als wollte er sich einprägen, wer sich wo einquartierte, stellte sich vor den Aufgang zu ihrem Abteil, und zwei Frauen, eine ältere und eine jüngere, beide klein und breit, die zusammen reisten und immer etwas zu tuscheln hatten – Mettler hielt sie für Mutter und Tochter – sagten fast gleichzeitig und wie einstudiert:

«So schafft man sich Freunde.»

Jemand klatschte, die beiden kicherten wie Teenager, und der junge Mann mit dem Kind (dieser Schwendimann) dozierte wichtig:

«Hunde sollte man verbieten. Aufdringliche Hauptdarsteller, die zur Plage werden. Ganz abgesehen davon, dass einer oder eine, die einen Hund hat, eine zutiefst verunsicherte Person ist. – Aber ein Hund ersetzt keine Analyse. Im Gegenteil. Hunde sind der Grund für jede dritte Ehescheidung. Für sinkende Geburtenraten …»

«Einverstanden, aber ob Frau Wolf einen Hund hat oder nicht, kann uns doch egal sein», unterbrach der Glatzkopf seine Behauptungen.

«Genau. Ein Hund soll uns ablenken und weiter nichts», sagte die rosige Ringerin. «So ein Tier ist doch unschuldig.»

«Ach ja? Da fragen sie mal den jungen Mann, was er dazu sagt. – Ein Hund ist nicht berechenbar, nie, und darum ist ein Hund ohne Maulkorb ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit», schwadronierte Schwendimann unbeirrt weiter und verlangte: «Wer einen Hund halten will, soll beweisen, dass er dazu auch in der Lage ist.»

Und seine Frau, die ihm das Kind aus dem Arm nahm, fügte hinzu:

«Stefan ist noch so klein, da kann ihm jeder Hund gefährlich werden.»

«Aber doch nicht ein junger Labrador», sagte der Blinde, der sich von seinem Schreck erholt hatte. «Nur keine Panik, ich bin okay.» Er tastete nach seinem Rucksack und sagte zum Schaffner: «Ich möchte, dass Sie mich jetzt in mein Abteil bringen.»

«So große Hunde sollten in einem Schlafwagen verboten sein. Tier bleibt Tier», versteifte sich Schwendimann. Der kleine Stefan fing an zu weinen, und die Mutter sagte empört:

«Ein Hund gehört in den Gepäckwagen und nicht hierher.»

«Bitte, meine Damen und Herren, bitte», versuchte der Schaffner das aufgebrachte Ehepaar zu beruhigen. «Ein etwas übermütiger Hund darf doch wohl mit Ihrer Toleranz rechnen.»

«So ist es. Wann er da Kommissar Rex wäre, tät man ihn eh lieb haben», mischte sich der Riese mit dem Handy ein. «Weil der tut ganz allanig di Verbrecher jagn …»

«Etwas mehr Anstand dürfte man aber schon erwarten», sagte die Tochter, die mit ihrer Mutter reiste, und die Blasse, die mit dem grobschlächtigen Mann unterwegs war, zischte spitz:

«Dass sich Frau Wolf einen Hund hält, kann ich verstehen. Immer unter Hyänen.»

Mettler schaute über die Geleise auf die Leuchtreklamen, die den Schienenstrang säumten. Alt vertraute Werbezeichen glitten vorbei, Logos, die er schon immer mit Zürich verband. Kam er an, erlösten sie ihn von seinem Heimweh, fuhr er weg, jubelte sein Fernweh.

Sie überholten einen gut besetzten Regionalzug, der so nah neben ihrem herfuhr, dass er die Menschen hinter den Fenstern sah. Dann bogen die Züge auseinander, der Regionalzug legte sich in eine Kurve, die Fenster kippten weg, kurz darauf nahm ihm ein Bahndamm die Sicht. Dass die Rote noch einmal auftauchte, hoffte er wohl vergeblich.

Der Schaffner schickte die Passagiere in ihre Abteile und bat sie, ihre Papiere bereitzuhalten. Auch Mettler ging in seine Kabine, doch dort begriff er den Schließmechanismus der Türe nicht, nicht auf Anhieb, und als er schließlich kapiert hatte, wie die in zwei Flügel aufgeteilte Türe zugeschoben werden musste, ließ er sie offen stehen, bis der Schaffner die Papiere holen würde.

Im Abteil unter ihm richtete sich das ungleiche Paar ein. «Claudia lass!», «Claudia pass auf», «Claudia nicht!» Doch den Mechanismus der Türe verstand auch der Fleckige nicht. Er holte den Schaffner, damit er ihnen erkläre, wie die Türe sich schließen, verriegeln und sichern lasse, und es brauchte mehr als nur ein paar Worte, bis er zufrieden war.

«Aber für das Türschloss haben Sie einen Schlüssel?

«Ja, die Drehverriegelung können wir entsichern. Im Notfall. Aber wenn die Schließstange vorgelegt wurde, können auch wir nicht mehr ins Abteil.»

«Wie das? Hörst du zu, Claudia?»

«Die Schließstange wird in das auf der Tür befestigte Gegenstück gedrückt, bis sie einschnappt. Zum Freigeben der Stange kann das Gegenstück zur Seite gedrückt werden. Sehen Sie, so! Aber das geht nur von innen. Von außen lässt sich die Tür nur gerade einen Spaltbreit öffnen. Danach ist Schluss.»

«Sie meinen, danach lässt sich die Tür nur noch mit Gewalt aufbrechen?»

«So ist es.»

«Und die Stange lässt sich nicht aushebeln? Zum Beispiel mit einem Messer?»

«Laszlo! Du tust ja gerade, als ob du einen Einbruch planen würdest.»

Der Schaffner lachte und verabschiedete sich.

Mettler hockte auf der Bettkante und legte die Papiere bereit. Ausweis, Fahrkarten, Zolldeklaration und die Frühstückswünsche.

Zu deklarieren hatte er nichts, ein Werbeblatt der Bahn (ein Bild des Orientexpress, dem eine Fotografie des Doppelstockschlafwagens unterlegt war) steckte er in den Abfallbehälter, und so großzügig, dass er sich lange damit aufzuhalten brauchte, war das Frühstücksangebot nicht. Vier Teile aus einer marginalen Auswahl. Ein bisschen ratlos markierte er Kaffee, Brot, Butter und Schinken. Vielleicht wäre Käse besser gewesen, aber nun waren die Kreuze schon gemacht.

Er schaute durch die verschmutzten Fenster, glaubte die Gebäude der «Roten Fabrik» zu erkennen, ein Backsteinbau, der im orangen Flutlicht der Straßenbeleuchtung aufglühte. Es war Jahre her, dass er dort die Konzerte einer damals als alternativ berühmten Kulturszene besucht hatte. Generationen. Nicht nur, dass er sich nicht mehr auskannte, er gehörte auch nicht mehr dazu. Das hatte man ihm in den vergangenen Tagen freundlich, aber deutlich zu verstehen gegeben. Selbst ehemalige Freunde wussten mit ihm nichts mehr anzufangen.

Die Rote ließ ihm keine Ruhe. Er legte seine Papiere auf den Waschtisch und ging noch einmal in den Flur hinunter.

Der Korridor war mittlerweile menschenleer. Offensichtlich hockten alle in ihren Zellen und füllten ihre Zettel aus. Die besten vier aus zwanzig, das war eine ernst zu nehmende Herausforderung.

Ohne etwas sehen zu können, schaute er aus dem Fenster. Entweder waren sie in einem Tunnel oder die Bahnböschung war so hoch, dass sie einer dunklen Wand gleichkam. Manchmal glaubte er, dass die Lichter hinter den Wagenfens­tern einzelne Büsche, einen Zaun oder ein Wiesenbord beleuchteten, aber sicher war er sich nicht.

Dann hörte er Schritte. Jemand kam auf ihn zu. Eine Frau. Er schloss die Augen und drehte sich um.

Es war die Schauspielerin.

Ohne den Kreis ihrer Verehrer wirkte sie ein wenig verloren. Oder lag es an der trüben Beleuchtung. Er glaubte sich zu erinnern, sie sei auf dem Bahnsteig fröhlicher gewesen, als sie jetzt auf ihn zukam. Ihre Blicke kreuzten sich. Er nickte freundlich, sie lächelte und sagte mit einer überraschend tiefen Stimme:

«Sie hätten nicht Lust, mich in den Speisewagen zu begleiten?»

SCHLAFWAGEN 302 – ABTEIL 13
THALWIL–ZIEGELBRÜCKE

«Die Fahrkarten, mein Pass, sein Impfausweis, die Zolldeklaration und …», sie zwinkerte dem Schlafwagenschaffner zu und strich eine ihrer roten Haarsträhnen aus dem Gesicht. «Frühstück wie immer. Lassen Sie mich ein bisschen länger schlafen.»

«Sie mögen unseren Kaffee nicht.»

Sie hielt mit einer Hand ihr rotes Haar zusammen, drehte es geschickt um den ausgestreckten Zeigefinger und zog es durch ein Gummiband, dann schüttelte sie ihren Pferdeschwanz und strahlte den Mann an.

«So stimmt das nicht. Aber in St.Pölten geweckt werden, um mit einem Kaffee durch den Morgen zu schaukeln, ist mir ein Graus. Da sind mir eine halbe Stunde Schlaf und ein Wiener Kaffeehaus lieber.»

«Das kann ich verstehen. – Was ist mit dem Hund?»

«Hören Sie bloß auf. Ein Theater …»

«Ich meine, wenn er raus muss. Soll ich ihn abholen und … Einmal um den Block?»

«Vielen Dank, ich hoffe nicht, dass das nötig wird. Aber sollte er unruhig werden, werde ich mich bei Ihnen melden.»

«Jederzeit. Lieber einmal zu früh als zu spät», grinste der Schaffner und verbeugte sich. «Eine gute Fahrt wünsche ich und viel Spaß.»

Sie nickte, und der Schlafwagenschaffner, ein immer gut gelaunter Österreicher, drückte die Türe zu. Sie mochte den Mann. Auf jeden Fall lieber als den Schweizer, mit dem er sich abwechselte und der nicht einmal ihre Sendung kannte.

Der Zug passierte den Bahnhof von Thalwil. Anzeigetafeln, Masten, ein Warteraum. Eine einsame Straße im Licht der Laternen, dunkle Häuserblocks, dazwischen sah sie kurz die schwarz glänzende Fläche des Sees. Sie schaute kaum hin, sie kannte die Kulisse.

 

Sie saß auf dem Bett, ihr Hund hockte vor ihr und wedelte mit dem Schwanz.

«Was ist denn jetzt schon wieder?»

Wie eine alte Jungfer, dachte sie, spricht mit ihrem Hund. Single und einsam. – Man hatte ihr gesagt, ein Labrador habe Charakter. Die Rasse würde nicht umsonst als Polizei- oder Blindenhund eingesetzt. Von wegen. Oder ihr Busoni war die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Ein aus der Art schlagender, überzüchteter Tölpel. Vielleicht war es auch ein Fehler, dass sie sich für einen jungen Hund entschieden hatte. Aber der Kleine war so süß und knuddelig, dass sie nicht widerstehen konnte. Was hätte sie denn machen sollen? Einen Hund aus dem Tierheim holen? Ein Tier, das schon verdorben war?

Sie riss eine Tüte mit Hundefutter auf, Huhn mit Gemüse, und drückte die glitschigen Brocken in den Fressnapf. Ein penetrant süßlicher Duft verbreitete sich, und sie hielt sich die Nase zu. Das Zeug stank ja wie ein Babyfurz.

Wenigstens fraß der Hund alles leer und leckte den Napf sauber. Danach scharrte er auf dem Teppichboden, drehte sich mehrmals im Kreis und ließ sich nieder.

Wie meistens nutzte sie die anderthalb Stunden vor Mitternacht, um ihre Fanpost zu erledigen. Sie hatte ihren Laptop und die Briefe dabei, und einen Papierkorb gab es auch.

Während das Gerät hochfuhr, begann sie ihre Post zu öffnen. Gratulationen, Musikwünsche, eine Empfehlung: «Weiter so!» Die meisten Briefe waren von Frauen.

«Liebe Frau Wolf, ich heiße Sandra Ackermann und bin ein Fan Ihrer Sendung. Ich schaue immer, aber mein Freund Ralf leider nicht. Dabei könnten wir so viel lernen, weil wir so viele Probleme haben. Gut finde ich auch, dass sie zwischen den Leuten Musik machen. Die Auswahl der Leute finde ich manchmal nicht so gut, weil sie so viel dazwischenreden, aber sonst finde ich alles gut, und ich wäre glücklich, wenn Sie mich auch einmal einladen würden. Ich grüße Sie sehr freundlich, Ihre Sandra Ackermann.»

Sie lud den Musterbrief und setzte Namen und Adresse ein.

«Liebe Sandra! Herzlichen Dank für Ihren Brief. Es freut mich, dass Sie zur ständig wachsenden Schar meiner Zuschauer gehören. Bald einmal sind es jeden Freitag mehrere Millionen, die ‹Blick ins Herz› verfolgen. Doch nicht die hohe Zahl der Zuschauer ist mir wichtig, sondern die wachsende Zustimmung derjenigen, die wie Sie, liebe Sandra Ackermann, unsere Arbeit schätzen. Wir sind überzeugt, dass die Möglichkeit, offen über Partnerschaft und Beziehung zu sprechen und ohne Tabus auch heikle Themen anzugehen, für uns alle immer wichtiger wird. Dies und die Qualität von ‹Blick ins Herz› wird immer Ziel meiner Sendung sein. Mit herzlichen Grüssen, Ihre Dorin Wolf.»

Auf Sandra folgten eine Erika Lehmann, wahrscheinlich eine Schülerin, eine Agnes, eine Frau Fröhlich, die Schwestern Gina und Julia, noch einmal eine Sandra, dann, in einem dunkelroten Umschlag, der Liebesbrief eines bodygestählten Mike Meierhofer. – Das Foto des ölglänzenden Schwarzenegger-Verschnitts in einem leicht verrutschten Tangaslip wurde gleich mitgeliefert. – Er versprach, sie für immer auf Händen zu tragen. Die Kraft dafür schien er ja zu haben. Mit krakeligen Buchstaben versicherte er, dass sie die Frau seiner Träume sei, und verlangte, dass sie ihn anrief, um ein Date auszuhandeln. Sie zerriss Bild und Brief und warf sie in den Abfallbehälter. Schade um das schöne Foto, aber derart eindeutige Angebote beantwortete sie nicht.

In Interviews wurde sie immer wieder gefragt, warum sie nicht in einer festen Beziehung lebe. Meistens ging sie gar nicht darauf ein oder versuchte, einen Witz zu machen. Obwohl ihre Sendung von verwandelten Prinzen lebe, habe sich ihr noch kein Froschkönig empfohlen oder sonst ein Blödsinn, den niemand verstand und der sich nicht verwerten ließ.

Leute wie ihre Eltern, ihr Redakteur warfen ihr deswegen Hochmut vor. Sie werde einmal wirklich einsam und allein sein und einem der Verschmähten nachtrauern. Sorgen hatten die Leute.

Das hieß ja nicht, dass sie kein Sexualleben hatte und ihre Nächte als prüde Jungfer verbrachte. Ihre «one night stands» fanden nicht selten hier im Zug statt. Irgendwo zwischen Innsbruck und St.Pölten. Alleinreisende Männer gab es genug. Die Spielregeln mussten klar sein, und spätestens in St.Pölten hatten ihre Besucher wieder zu verschwinden. Nach dem Akt wurde es in dem schmalen Bett sowieso ungemütlich. Meistens gingen sie nachher noch einmal in den Speisewagen, wo sie sich bei einem Glas Wein voneinander verabschiedeten. Dem Schafwagenschaffner spendierte sie ein Trinkgeld. Manchmal. Um sicher zu sein, dass er den Mund hielt. Aber eigentlich war das ihre Sache. Es ging niemanden etwas an, mit wem sie ihr Abteil teilte, und zur Regel wurde es nicht. Im Gegenteil. Es mussten zu viele Dinge stimmen, und gerade reich gesät waren die Typen nicht, die für sie in Frage kamen.

Mit Busoni im Abteil dürfte sich die Zahl möglicher Kandidaten erneut verringern. Da mochte sich einer noch so gut mit Hunden auskennen, aber die Vorstellung, dass der Hund ihnen zuschauen könnte, fand sie obszön.

Der Zug verlangsamte seine Geschwindigkeit. Er schlich die Lichter einer Baustelle entlang, Männer in gelben Helmen glitten vorbei, ein grell gestreiftes Absperrband wellte auf und nieder, sie hörte das Dröhnen eines Kompressors. Sie befanden sich mittlerweile am oberen Ende des Sees. Die orange beleuchtete Schlossanlage von Rapperswil spiegelte sich im glatten Wasser. Ein vertrautes und schönes Bild, und für den Bruchteil eines Augenblicks flog ihr durch den Kopf, dass sie gern hier lebte.

Busoni japste, zog die Lefzen hoch, die ganze Schnauze zitterte, dann ein kurzes Blinzeln, er schluckte seinen Speichel und schlief weiter.

Sie riss einen weiteren Umschlag auf und zog den Brief heraus, ein billiges Papier, «der Umwelt zuliebe» grau und sperrig.

«Klemmfutz! Willkommen zur letzten Fahrt.»

SPEISEWAGEN
THALWIL–WALENSTADT

Er zeigte auf einen Vierertisch ohne Aschenbecher, obwohl er seine Pfeife bei sich hatte.

«Sie sind Nichtraucher», bemerkte seine Begleiterin erfreut, und er nickte.

«Pfeife. Ich kann gut und gern darauf verzichten.»

So kurz hinter Zürich war der Speisewagen noch fast leer. An einem Tisch gleich hinter der Küche saßen drei Männer bei einem Bier.

Sie rutschte über die Sitzbank ans Fenster, schüttelte sich, als ob sie friere und rieb sich die Hände. Dann stützte sie die Arme auf den Tisch und fragte:

«Überrumpelt?»

Er lächelte schwach und wunderte sich erneut über ihre tiefe Stimme.

«Ich heiße Melitta Strauß», stellte sie sich vor, «und finde es fad, allein im Speisewagen zu sitzen. Vor allem später, wenn die Biertrinker aus der zweiten Klasse eintrudeln. – Ich lebe in Wien, habe die letzten Wochen in Zürich gearbeitet …»

«Im Theater?»

«Ja. Woher wissen Sie das.»

«Eine Vermutung. Die Leute, die Sie begleiteten, ich hielt sie für Schauspieler …»

«Ja, das stimmt.»

«Sie sind Schauspielerin?»

«Nein, ich nicht. Ich habe für ihr Theater ein Stück geschrieben. – Aber bevor Sie mir alle meine Geheimnisse entlocken, darf ich vielleicht Ihren Namen erfahren?»

Er lachte entschuldigend und sagte:

«Mettler, Jürg Mettler.»

Er zögerte und kam über die paar Silben nicht hinaus. Was konnte einer von sich sagen, der weder Titel noch Beruf hatte und ohne Arbeit war. Fast wünschte er sich, noch bei der Polizei zu sein. – «Kommissar Mettler, Kriminalpolizei Zürich.» – Das hätte immerhin zur ihrer tiefen Stimme gepasst.

Zum Glück kam der Kellner mit den Speisekarten. Er empfahl ihnen ein Nudelgericht und brachte eine Flasche Zweigelt, einen österreichischen Rotwein, zu dem Mettler sich überreden ließ, obwohl er sich vorgenommen hatte, keinen Alkohol zu trinken.

Am Zweiertisch ihnen schräg gegenüber nahmen zwei weitere Gäste aus dem Schlafwagen Platz, der Sikh und seine Begleiterin. Er hatte sie für ein Paar gehalten, nun war er sich nicht mehr sicher. Auf jeden Fall besaß die Frau die größere Reiseerfahrung, sie betreute ihn. Sie fragte den Kellner nach einer Speisekarte in englischer Sprache, sie bestellte die Getränke, sie schaute sich neugierig nach allen Seiten um, und sie nickte Frau Strauß zu, als seien sie alte Bekannte. Der Mann schwieg und lächelte oder fummelte an seinem Turban, der nicht richtig zu sitzen schien.

«Mehr als Ihren Namen verraten Sie mir nicht?», nahm Frau Strauß den Faden wieder auf. «Warum fahren Sie nach Wien?»

«Ich besuche meinen Sohn. Er arbeitet in Wien, in einem Hotel. Ich, ich habe ihm eine traurige Nachricht zu überbringen. Seine Mutter …»

Er verstummte. Warum sollte er einer Frau, die sich allein im Speisewagen langweilte, erzählen, dass Alice gestorben war. Dass er Haus und Hof verloren und ohne Arbeit war. Die große Jammertour.

«Seine Mutter und ich leben getrennt», versuchte er den drohenden Einbruch ihres Tischgesprächs abzuwenden. «Noch nicht sehr lange. – Eine der üblichen Geschichten», sagte er rasch und um weiteren Fragen zuvorzukommen: «Erzählen Sie mir von Ihrem Theaterstück. War es ein Erfolg?»

«Ich bin zufrieden. Wir wurden nicht ausgepfiffen und die Kritiken waren gut, bis auf die eine schlechte, die einen dann so wurmt. «Das Stück treibt an der Oberfläche, ohne Pointen, ist banal und trifft das an sich wichtige Thema nicht.» Und schon hält man diese eine für die wichtigste und die Lobreden der anderen für oberflächlich. – Doch das ist wohl mehr ein persönliches Problem.»

«Wie meinen Sie das?»

«Man weiß selbst am besten, woran man mit einer Arbeit ist», sagte sie finster, und ihre Augen bohrten sich in die seinen.

«Der Erfolg gibt einem Recht.»

«O nein. Dem Erfolg darf man nicht trauen. Was alle bejubeln, tut niemandem weh. – Na ja, so simpel ist es nicht, und schon gar keine Entschuldigung für den eigenen Schiffbruch …»

«Den Sie ja nicht erlitten haben.»

«Richtig, vielen Dank. – Sehen Sie, kaum fragt mich jemand, nach meinem Erfolg, glaube ich, dass es, weil es einer war, wohl kein wirklicher gewesen sein kann. – Das meine ich mit persönlichem Problem.»

«Mit der Bratwurst in den Kaffee tunken», sagte er augenzwinkernd.

Sie lachte und schüttelte irritiert den Kopf. Doch bevor sie fragen konnte, was er denn mit seiner rätselhaften Bemerkung gemeint haben könnte, servierte ihnen der Kellner die Speisen.

Das Nudelgericht war eine fade Angelegenheit. Eine Mischung aus verkochten Teigwaren, Gemüse, ein paar Stückchen Huhn und einzelnen Blättchen hauchdünn geschnittenen Schinkens.

Sie waren mittlerweile eine halbe Stunde unterwegs (er glaubte, jenseits des Sees die Lichter von Rapperswil zu erkennen), und die Tische im Speisewagen waren fast alle besetzt.

Ihnen gegenüber hatten Laszlo und Claudia Platz genommen. Er las ihr die Speisekarte vor und gab Ratschläge und merkte nicht, dass sie sich entweder längst entschieden hatte oder gar nichts mehr essen wollte. Etwas weiter entfernt entdeckte er die Mollige. Sie las in einem Buch, und wenn er sich nicht täuschte, dann war es «Mord im Orientexpress». Das war wohl die Bahnfahrer-Standardlektüre.

Frau Strauß aß mit sichtbarem Vergnügen. Sie kaute und malmte die einzelnen Bissen kraftvoll und mit einer Ausdauer, die ihn unwillkürlich an einen Wiederkäuer denken ließ. Die stoische Gelassenheit einer Kuh. Die Augen seltsam abwesend. Es war lange her, dass er jemandem so interessiert beim Essen zugeschaut hatte, und leicht erstaunt stellte er fest, dass er sich nicht erinnern konnte, wie Alice gegessen hatte.

«Sie essen wie ein Fuchs», sagte Frau Strauß nach einem Schluck Wein, «beschnüffeln und zuschnappen.»

«Es ist Hühnerfleisch dabei. Es fliegt zwar nicht mehr davon, aber …»

«Ich zermalme alles wie eine Kuh.»

Er nickte unwillkürlich, und sie lachte und wischte sich den Mund ab. Gleich würde sie das Thema wechseln, und um all ihren Fragen zuvorzukommen, sagte er:

«Sie haben mir noch gar nichts von Ihrem Stück erzählt.»

Sie kicherte begeistert, wühlte in ihrer Tasche, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

«Ich habe geglaubt, ich habe noch ein Programmheft. Nun müssen Sie ohne Illustration auskommen. – Also. Aber wenn ich Sie langweile, müssen Sie es sagen.» Sie beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf. «Es geht um die Priester der Information. Ihre Kanzeln stehen in jeder Stube. Das Fernsehen – unsere moralische Anstalt.» Ihre Augen schlugen einen Salto. «Kirche, Elternhaus, Schule. – Tempi passati. Was wahr ist, was gut, gerecht, weise, was liebenswert ist, das teilen uns die Leute vom Fernsehen mit.» Ihr Blick durchbohrte ihn. «Und wir? Wir glauben, was wir sehen. Noch die dümmste Tussi wird zur Wetterfee.»

 

Ihre Stimme dröhnte.

Er hörte ihr zu und dachte an die Moderatorin. Ob die Dramatikerin die Wolf auch zu den Priesterinnen der Information zählte?

«Fernsehen macht dumm, glaubten meine Eltern», sagte sie viel zu laut, als hätte er etwas anderes behauptet. «Fernsehen macht kaputt. Als Erstes die Augen. Nicht das Organ, auch, aber viel schlimmer ist der Betrug, dem unser Schauen ausgeliefert wird.» Sie fixierte ihn, um wieder ein bisschen ruhiger fortzufahren. «Unsere Gefühle werden durch Bilder geprägt, vor allem unser Sicherheitsempfinden. Alles, was einer im Laufe eines Lebens sieht, wird vom Gehirn gehortet, verglichen und geordnet, und genau hier liegt das Problem. Als Speicher ist unser Gehirn phänomenal, praktisch unbeschränkt, aber es ist träge –, die Masse Mensch ist träge – und darum können unsere grauen Zellen so leicht überlistet werden. Sie lassen sich täuschen. Sie glauben, anstatt zu denken. Und schon haben wir den Salat.» Sie lehnte sich zurück und riss die Augen auf. «Über Jahrtausende entwickelte Vorsicht wird durch die Folgenlosigkeit konsumierter Fernsehbilder gestürzt und macht unser Sicherheitssystem kaputt. Sinnsprüche, Rätsel, Weisheiten verlieren ihre Gültigkeit.»

Er verstand nicht, was das mit einem Theaterstück zu tun haben sollte, ihre Ansichten teilte er nicht. Auch Bilder logen, zeigten eine Oberfläche, waren subjektiv. Das war doch schon immer so.

«Wie schade, jetzt habe ich Sie erschreckt. Sie sollten Ihr Gesicht sehen», spottete die Strauß. «Aber Sie haben natürlich Recht. Ich verheddere mich immer in der Einleitung, anstatt zur Sache zu kommen.»

«Ich nehme einmal an, es war wichtig», sagte er unhöflicher als beabsichtigt.

«Der Rest ist schnell erzählt, und Sie haben es überstanden», sagte sie, die seine Verstimmung wohl längst bemerkt hatte, und zwinkerte ihm zu. «Die Hauptrolle des Stücks ist eine junge Fernsehmoderatorin. Sie bringt mit, was von ihr erwartet wird. Gutes Aussehen, Stimme. Eine Topfrau. Ihre Show wird als Livesendung verkauft. Die Probleme von ­Paaren: unfreiwilliger Kindersegen, zu kleiner Busen und zu dicker Hintern – Alles Lug und Trug. Nichts ist live. Die Paare sind Schauspieler, die Szenen einstudiert, das Publikum instruiert. Wann klatschen, wo lachen. Selbst die schöne Moderatorin ist eine Fälschung.»

«Haben Sie für Ihre Moderatorin ein Vorbild?», fragte er scheinheilig und dachte erneut an die Rote.

«Nein, es geht ja nicht darum, jemanden bloßzustellen. – Auf der Bühne wird nun gezeigt, wie eine solche Sendung entsteht. Die Moderatorin selbst ist eine dumme Gans. Eitel, überkandidelt und unkollegial. – Nun, nachdem die Zuschauer gemerkt haben, dass die Sendungen getürkt werden, wird die Situation auf den Kopf gestellt. Echte Leute, echte Probleme, live. Alle wissen es, nur die Moderatorin nicht. Die Rache ihrer Kollegen. – Die Moderatorin versagt, und die Sendung muss abgebrochen werden. – Wir im Theater spielen freilich auch damit, dass unsere Geschichte auf einer Bühne spielt, also ebenfalls nur Fiktion ist.»

Sie lehnte sich zurück, schwieg und lächelte. Er verstand überhaupt nichts mehr. Was sie ihm erzählt hatte, hielt er für eine Komödie, welche die engagierte Einleitung kaum erklärte. Überdies schien ihm der Schluss zu fehlen.

«Und?», fragte er vorsichtig.

«Und? – Und nichts. Fertig!» Sie lachte, musterte ihn amüsiert und sagte: «Ich glaube, da bin ich eben durchgefallen.»

Er schüttelte den Kopf und war doch froh, dass eine Stimme hinter ihm fragte:

«Ist der Platz noch frei?»