Wut und Wellen

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11.

Müde sieht er aus, dachte Stahnke, als er Kramer zum wiederholten Mal draußen auf dem Gang vorbeihasten sah. Müde und gestresst. Der Hauptkommissar hatte ein schlechtes Gewissen, denn gestern am späten Abend, als er endlich nach Hause gegangen war, hatte Kramer noch an seinem Computer gesessen, und heute früh, als Stahnke halbwegs ausgeruht seinen Dienst wieder antrat, hatte der Oberkommissar bereits wieder dort gehockt. Oder etwa immer noch? Stahnke traute sich nicht zu fragen.

Die viele Arbeit allein hatte Kramers Gesicht bestimmt nicht so staubgrau werden lassen. Schließlich war dies nicht die erste Mordkommission, an der sie beide beteiligt waren, wahrhaftig nicht. Gewaltsame Tötung, das bedeutete immer Ausnahmezustand. Die Normalität des Dienstbetriebs war aufgehoben, der übliche Zeittakt der Ermittlungsarbeit galt nicht mehr. Statt im eingespielten Duo wurde mit zwei Dutzend Kolleginnen und Kollegen zusammengearbeitet, was permanente Abstimmung und Koordination erforderte. Feierabend wurde zum Fremdwort, Schlaf zum Luxus. Innerhalb der ersten ein oder zwei Tage galt es, zum Erfolg oder jedenfalls zu einem Teilerfolg zu kommen, ehe heiße Spuren erkalteten und mögliche Fluchtradien sich bis ins Unüberschaubare erweiterten.

Dass Stahnke nachts überhaupt nach Hause gegangen war, hatte weniger mit seiner Position als vielmehr mit der realistischen Einschätzung seines Durchhaltevermögens zu tun. Vor 20 Jahren hätte es dazu noch eines ausdrücklichen dienstlichen Befehls bedurft. Jetzt reichten schon Kriminaldirektor Manningas hochgezogene Augenbrauen: »Powern ohne Pause? Mensch, in unserem Alter können wir das nicht mehr.« Gestern hatte ihm das eingeleuchtet, heute schämte er sich. Was für ein Weichei er doch geworden war!

Kramer war die entscheidenden zehneinhalb Jährchen jünger, der konnte das noch. Nein, nicht die Arbeit und die Hektik hatten ihn jetzt so gezeichnet, sondern der Frust. Vielmehr die Angst vor dem Frust. Die Sorge, Täter und Opfer könnten in keinerlei wie auch immer gearteten Beziehung zueinanderstehen. Nichts miteinander zu tun gehabt haben. Sich völlig fremd sein. Dann, tja – dann konnten sie ebenso gut versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln. Dann konnten sie höchstens noch auf die Gunst des Zufalls hoffen. Oder darauf, dass sich mit sehr, sehr viel Arbeit aus dem großen Heuhaufen nicht etwa eine Nadel, sondern das eine, das gesuchte Hälmchen heraussieben ließ.

Unmöglich war das nicht. Sie hatten das schon einmal durchexerziert, war noch gar nicht so lange her. Seinerzeit hatte sich ein Junkie darauf spezialisiert, alten Damen die Handtaschen wegzureißen. Eine Frau hatte er dabei umgerissen, sie stürzte unglücklich und erlag wenig später ihren Verletzungen. Die öffentliche Empörung war ebenso groß wie verständlich, der Druck auf die Polizei gewaltig – und der drohende Frust erdrückend. Es gab keine Verbindung zwischen Täter und Opfer, nicht die geringste. Wo sollten sie ansetzen?

Immerhin hatte sie eine stichhaltige Vermutung gehabt, in welchem Milieu der Raubmörder zu suchen war. Die gesamte Drogenszene hatten sie durchkämmt, jeden Kontakt genutzt, waren jedem Hinweis nachgegangen. Es hatte sich hingezogen, der Ton der Presse gegenüber der Polizei war schärfer geworden, die kritischen Fragen drängender. Aber dann, irgendwann, hatten sie ihn gehabt. Nach langem, entnervendem Sieben war der Richtige im Sieb hängen geblieben. Und sie, das konnten sie dann überall lesen, hatten alles richtig gemacht.

Vergessen der Frust. Tja, hinterher. Bis dahin war es aus heutiger Sicht noch ein weiter Weg. Und wer konnte wissen, ob sie überhaupt die richtige Richtung eingeschlagen hatten?

Wieder erschien Kramer in der Tür, nur stürmte er diesmal nicht vorbei, sondern herein und warf dem Hauptkommissar einen Zettel auf den Tisch. »Hier. Kannst du mal anrufen, sie herbestellen oder einen Termin ausmachen?«

Stahnke starrte Kramers schmalem Rücken hinterher, auch noch einige Sekunden, nachdem dieser wieder um die Ecke verschwunden war. Dann senkte er den Blick. Alina Thormählen, aha, die Ex-Freundin des Ermordeten, mutmaßliche Komplizin beim Versicherungsbetrug. Und eine Handynummer. Sehr gut. Bisher waren ihre Kontaktversuche erfolglos geblieben. An Frau Thormählens Festnetzanschluss auf Langeoog ging niemand ran. Stahnke setzte sich in Positur, schob sich den Zettel zurecht und begann, die Nummer einzutippen.

Es war ihm klar, dass er hier einer von drei vagen Hypothesen nachging, und zwar nicht unbedingt der fundiertesten. Rivalitäten in der Zeitarbeitsszene, wo man einander nicht gerade mit Samthandschuhen anfasste, standen derzeit am höchsten im Spekulationskurs, knapp gefolgt von der vermuteten Verzweiflungstat eines in die Enge getriebenen Bootsdiebes. Traf eine dieser beiden Thesen zu, konnte man vielleicht mit viel Fleiß zum Erfolg kommen, so wie seinerzeit bei dem beschaffungskriminellen Drogensüchtigen. Dass der Mord an Wallmann irgendwas mit dem gemeinsam mit seiner damaligen Lebensgefährtin begangenen Versicherungsbetrug zu tun haben könnte, galt als weniger wahrscheinlich. Am ehesten noch erhoffte man sich von Alina Thormählen Hinweise auf den Hehler – und damit auf die möglicherweise organisierten Bootsdiebe. Vielleicht hatte man es ja mit einer Racheaktion eines geprellten Komplizen aus genau diesem Milieu zu tun.

Stahnke aber erhoffte sich von dieser Befragung noch etwas ganz anderes. Nämlich die Gelegenheit, wieder einmal dienstlich nach Langeoog fahren und Sina treffen zu können. Und er wurde nicht einmal rot dabei.

Der Ruf ging raus und wurde sofort angenommen. »Hallo?«

»Mein Name ist Stahnke, Kripo Leer. Frau Thormählen?«

»Ja?« Fragend, aber nicht zögernd. »Was … wünschen Sie?«

»Können Sie sich das nicht denken?« Eigentlich hasste er solche Spielchen, aber manchmal konnte er einfach nicht anders. Sie schwieg, also schwieg er auch. Was man angefangen hatte, musste man auch durchziehen.

»Waldemar Wallmann«, sagte sie dann. Ihre jugendliche Stimme klang überraschend fest. »Ich habe gehört, dass er tot ist. Und weil ich ja mal … mit ihm befreundet war, dachte ich mir schon, dass Sie irgendwann auf mich zukommen.«

»Von wem haben Sie das denn gehört?«

»Von einem seiner früheren Mitarbeiter. Unter denen ist es schon rum.« Im Hintergrund war lautes Hupen zu hören; sie sprach für einen Moment lauter. »Stand ja auch schon in der Zeitung. Natürlich ohne Namen, aber wer ihn kannte …«

Lautes Hupen? Auf Langeoog? »Wo sind Sie gerade?«, fragte Stahnke.

Sie lachte kurz auf. »In Leer. Multi Süd, genauer gesagt. Auf dem Parkplatz. Wollte eigentlich gerade losfahren, aber weil mein Handy klingelte, bin ich brav stehen geblieben.«

Langeoog-Trip ade, dachte der Hauptkommissar. »Würde es Ihnen dann etwas ausmachen, kurz bei mir in der Polizeiinspektion vorbeizuschauen? Dauert auch nicht lange. Nur ein paar Fragen.«

»Okay, kein Problem. Muss nur noch eben tanken, dauert auch nur ein paar Minuten. Bis gleich dann.« Das Gespräch brach ab.

Eine souveräne Frau, überlegte Stahnke. Fast schon cool. Auf jeden Fall routiniert im Umgang mit Menschen. Und weder erschrocken über den Tod ihres Ex-Lovers noch eingeschüchtert durch den Anruf eines Kriminalpolizisten. Was bedeutete das? Er zuckte die Achseln; das blieb abzuwarten. Der unmittelbare Eindruck war es, der zählte.

Er hatte den Telefonhörer in der Hand behalten. In den wenigen Minuten, bis Alina Thormählen hier sein würde, lohnte es sich nicht, irgendetwas Neues in Angriff zu nehmen. Da konnte er ebenso gut Sina anrufen. Kurz plauschen, Sozialgeräusche absondern, Stimmfühlungslaute aufnehmen. Was alle Verliebten eben so machten. Hauptsache, Kramer belauschte ihn nicht dabei.

Während das Rufzeichen ertönte, kam ihm Marian Godehau in den Sinn. Dass der jetzt auf der Insel arbeitete! Vielleicht konnte man sich bei Gelegenheit ja mal treffen, alte Erinnerungen austauschen, wie zwei alte Kumpel. Obwohl … so ganz unbelastet war ihrer beider Verhältnis ja nicht. Es gab da ein paar Dinge, an die Stahnke nicht unbedingt erinnert werden wollte. Und es gab, natürlich, Marians Zeit mit Sina. Vorbei, vergangen, von Sina beendet. Aber trotzdem. Bei Licht besehen, wollte er Marian doch eher nicht treffen. Marian Godehau, der sich auf Langeoog umtat, während er hier in Leer hockte und nicht weg konnte.

Er spürte einen Stich. Was war denn das jetzt – Eifersucht? Also wirklich. Wie kindisch konnte er denn noch werden?

Eine Frage, die er sich besser nicht stellen sollte. Dazu kannte er sich zu gut.

Das dauerte aber lange, ehe Sina an ihr Handy ging. Hatte sie es womöglich stumm geschaltet? War sie bei der Arbeit und durfte nicht gestört werden? Na ja, gleich musste sich ja die Mailbox … nein, jetzt ging doch noch jemand ran. Hoffentlich hatte er sie nicht …

»Hier Godehau, Inselbote. Hallo?«

Stahnke knallte den Hörer auf die Gabel und starrte entsetzt geradeaus. Kramer, dessen staubgraues Gesicht gerade im Türrahmen auftauchte, starrte verständnislos zurück.

12.

»Weitergehen.« Lüppo Buss verschränkte die Arme und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass seine Unterarmmuskeln hervorquollen wie Schiffstaue. Seine Mundwinkel senkten sich, als wären sie neugierig auf diesen Anblick. »Weitergehen, verdammt!«

Das angeschnauzte Touristenpärchen machte einen synchronen Satz nach hinten und trollte sich, ebenso erschrocken wie verständnislos.

»Mensch, Lüppo, übertreib’s nicht«, zischte Insa Ukena ihm zu, ohne die Lippen zu bewegen. »Das hier ist immer noch eine Urlaubsinsel und kein Kriegsschauplatz.«

»Ach ja? Mehr Bomben gehen an einem Tag in Bagdad auch nicht hoch. Jedenfalls meistens.« Er warf seinen Kopf in den Nacken und reckte das Kinn. Inselpolizist Lüppo Buss bei der Pflichterfüllung, beim weisungsgemäßen Verscheuchen von Schaulustigen. Wieder einmal. Wenn das kein Fotomotiv war! Wo war jetzt dieser Godehau? Immerhin knipsten ein paar Feriengäste. Aus gebührender Entfernung.

 

»Was meinst du, was los ist, wenn die ihre Handyfilmchen von dir als Kinderschreck direkt an de Beer schicken, verbunden mit einer fetten Dienstaufsichtsbeschwerde?«, warnte Insa Ukena. »So etwas könnte er jetzt am wenigsten brauchen, und das würde er dich auch ganz schön spüren lassen.«

»Dedo de Beer.« Der Inselpolizist spuckte den verhassten Namen förmlich aus, Silbe für Silbe. »Der interessiert sich doch einen Dreck für uns. Vor allem für mich! Guck dir doch an, wie er uns einsetzt. Schon wieder Tatortsicherung! Ist das eine Art? Zeugt das von Respekt? Ganz im Gegenteil, das weißt du doch selber.« Trotzdem ließ Lüppo Buss ein wenig Luft ab und lockerte seine bedrohliche Armschranke. »Sind wir nicht die einzigen Polizeibeamten auf der ganzen Insel, die überhaupt nicht in die Ermittlungen einbezogen werden? Und das, obwohl wir uns hier am besten auskennen? Nach dem zweiten Anschlag in kürzester Zeit steppt hier doch endgültig der Bär. Und de Beer braucht jeden Mann, das heißt, er braucht auch uns! Und was ist? Platzordner dürfen wir spielen. Das sagt doch wohl alles über diesen Mann.«

Insa Ukena fixierte ihren Kollegen und stemmte beide Hände in die Hüften: »In Wahrheit sagt es nur etwas über dich aus! Wenn du dich nicht so stieselig anstellen würdest, wenn du nur etwas kooperativer wärst, dann würde man uns vielleicht auch mehr in eines der Teams einbeziehen. Aber so abweisend, wie du dich aufführst, erscheint das doch von vornherein zwecklos! Also lässt man dich lieber außen vor, lässt dich Tätigkeiten verrichten, bei denen du nicht nerven kannst.« Sie schluckte: »Und mich immer gleich mit. Hast du darüber schon einmal nachgedacht?«

Lüppo Buss öffnete den Mund, aber schloss ihn gleich wieder. Brennende Röte stieg ihm in die Wangen. Hatte seine Kollegin etwa recht? War er, war sein eigenes Benehmen wirklich schuld an seiner momentanen Außenseitersituation? Und hatte er in seiner gedankenlosen Ichbezogenheit wirklich übersehen, dass er seine Kollegin mit in die dienstliche Isolation gezogen hatte? War er, knapp zusammengefasst, wirklich der Stinkstiefel, als den sie ihn soeben bezeichnet hatte, durch die Blume natürlich, aber doch unmissverständlich?

Er schaute Insa an. Auch sie war leicht rot im Gesicht, aber ihre Miene war entschieden. Sie meinte, was sie gesagt hatte.

Lüppo Buss dachte an das Gespräch, das er am Mittag mit diesem Marian Godehau geführt hatte. Informationsgrundlage für das versprochene Porträt. Der Journalist hatte sich im Knurrhahn mit ihm getroffen und während des Essens – zweimal Kutterscholle, sehr lecker – ein paar Notizen auf seinen Block gekritzelt. Dann hatte er noch zwei Fotos geschossen und sich nach einem Handygespräch eilig verabschiedet. Ohne zu bezahlen, wie der Inselpolizist wenig später vom Wirt erfuhr. Zähneknirschend hatte er die Zeche mit übernommen, aus Sorge, Godehau sonst zu verärgern.

Was für eine Meinung hatte der Journalist wohl von ihm? Und was würde morgen über ihn in der Zeitung stehen?

Lüppo Buss wurde bewusst, dass er Insa Ukena sekundenlang angestarrt hatte, ohne sie zu sehen, geschweige denn auf ihre Worte zu reagieren. Sie wandte sich ab und verschränkte ihrerseits die Arme. Na toll, jetzt war sie endgültig sauer auf ihn.

Die Menge der Schaulustigen war derweil weiter angewachsen und drängte wieder näher heran. Eine füllige Dame, die in verschiedenen Rottönen leuchtete, stellte sich auf die Zehenspitzen, um nur ja nichts zu verpassen. Lüppo Buss erkannte sie sofort und schaltete wieder um auf grimmig. Die Marmeladentante mit ihrer Vergiftungstheorie und ihrem undichten Gatten! Die hatte ihm gerade noch gefehlt.

Ein vierschrötiger, etwa 50-jähriger Mann mit einem Rucksack über der Schulter drängte die Frau rüde beiseite und baute sich mit wichtiger Miene vor dem Inselpolizisten auf. »Moin, Lüppo! Muss ich meinen Ausweis zücken, oder lässt du mich auch so durch?«

Lüppo Buss tippte sich grüßend an den Mützenschirm. »Weder noch«, erwiderte er bedauernd. »Absolut kein Durchgang hier, nicht einmal für die Presse.« Er grinste: »Und für Aushilfsschreiberlinge wie dich schon gar nicht. Was machst du überhaupt hier? Warum kommt denn dein neuer Chef aus der großen Stadt nicht selbst?«

Der Vierschrötige, dessen Dreitagebart mindestens eine Woche alt war, winkte ab. »Lass mal stecken. Mein Chef, der hat gerade ein gaaanz wichtiges Kaffeetrinken, das hätte er nicht einmal abgesagt, wenn die halbe Insel in Flammen stünde. Jedenfalls klang er so. Tja, jetzt bin ich also hier der wichtige Paparazzo. Und muss nicht in der Gegend rumstehen wie ein Hiwi – ganz im Gegensatz zu dir.« Er wandte Lüppo Buss, der an dieser Kröte zu schlucken hatte, den Rücken zu und begrüßte Insa Ukena. »Und? Wie beurteilt ihr Kriminalisten die Lage? Haben wir es hier mit der jüngsten Aktion von Al-Qaida zu tun?«

Die Oberkommissarin lachte. »Auch nicht wahrscheinlicher als irische Protestanten oder baskische Katholiken, Keno! Tatsache ist, wir haben noch nicht die leiseste Ahnung, wer hinter den beiden Anschlägen steckt.« Sie senkte die Stimme: »Aber das hast du im Zweifelsfall nicht von mir, klar?«

»Sonnenklar.« Keno Gautier, freier Mitarbeiter des Inselboten, zwinkerte der Polizistin verschwörerisch zu. »Auf jeden Fall sind hier aber Profis am Werk, oder? Ich meine, zwei Sprengungen, meine Fresse! Das erfordert Sachverstand. Und Verbindungen, um an die notwendigen Materialien zu kommen. Das waren doch sicher organisierte Spezialisten.«

Insa Ukena schüttelte lächelnd den Kopf. »Was du dir so vorstellst! Nee, Keno, so hoch hängt das vielleicht gar nicht. Im Hotel heute früh, das waren Propangas und Schwarzpulver, und so etwas ist ziemlich leicht zu besorgen beziehungsweise anzumischen. Und das hier …« Sie schaute sich um. Alles starrte auf das Ferienhaus, in dessen Dach ein riesiges Loch klaffte, und Lüppo Buss war eindeutig mit sich selbst beschäftigt. »Das war ebenfalls Propangas. Eine ganze Flasche! Jemand hat eine Glühbirne im ersten Stock präpariert, also das Glas entfernt, ohne den Glühfaden zu beschädigen, und dann das Gas ausströmen lassen«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. »Als die Gäste eintrafen und das Licht anknipsen wollten, erfolgte die Explosion. Derselbe Trick kam auch heute früh zur Anwendung. Ganz simpel, oder? Dazu brauchst du keine Russenmafia.«

Keno Gautier guckte richtig enttäuscht. Offenbar hatte er mit einer anderen Auskunft gerechnet. »Aber Know-how brauchst du schon«, erwiderte er. »Gab es denn Opfer?«

»Ein Verletzter«, antwortete die Oberkommissarin. »Der Feriengast, der den Schalter betätigt hat. Mittlere Verbrennungen. Müsste schon per Flieger unterwegs zum Festland sein, ins Krankenhaus.« Natürlich war sie zu solchen Auskünften überhaupt nicht befugt, und das war ihr auch klar. Aber da die Ermittlungsgruppe aus Wittmund so tat, als gehöre sie, Insa Ukena, nicht dazu, hatte sie beschlossen, auch ihrerseits so zu tun. Manchmal, dachte sie, kann ich nämlich auch ganz schön stieselig sein. Wie um das zu bekräftigen, ergänzte sie: »Es handelt sich übrigens um den Vater von Jannik Bartels, unserem neuen Koch.«

»Ach.« Keno Gautier rieb sich das kantige Kinn, dass die Bartstoppeln knisterten. »Dann war die Familie Bartels in beiden Fällen das Ziel der Anschläge! Warum denn das? Weiß man schon einen möglichen Grund?«

»Gar nichts weiß man, das sagte ich doch schon.« Jetzt ärgerte sich Insa Ukena doch über ihre eigene Geschwätzigkeit. Natürlich war auch ihr nicht entgangen, dass die Opfer der beiden Explosionen Vater und Sohn waren. Aber waren sie auch tatsächlich die Ziele gewesen? Dass Jannik Bartels heute früh als Erster den präparierten Kühlschrank öffnen würde, konnte doch niemand wissen. Niemand außer Thormählen, dem Hotelbesitzer, der den kleinen Koch zum Frühdienst eingeteilt hatte. Und wer konnte ahnen, dass Bartels Senior heute anreisen und ausgerechnet hier Quartier nehmen würde?

Hm. Jannik, klar. Und der Vermieter natürlich.

Insa Ukena stupste Lüppo Buss an, der leicht zusammenzuckte. »Wem gehört das Ferienhaus hier eigentlich?«

»Dies hier?« Der Oberkommissar musste sich kurz besinnen. »Einem gewissen Overbeck, Thomas Overbeck. Wohnt irgendwo auf dem Festland. Musste ihn mal anrufen, weil hier eingebrochen worden war, vor zwei oder drei Monaten. Ich glaube, der ist nicht einmal hergekommen. Warum fragst du?«

»Nur so.« Insa Ukena zuckte die Achseln. Der Name sagte ihr nichts.

Keno Gautier entfernte sich seitlich, die Digitalkamera in Vorhalte, auf der Suche nach dem optimalen Winkel zum Motiv, dem Haus mit dem Krater im Dach. Lüppo Buss und Insa Ukena blickten ihm nach. »Was findest du eigentlich an diesem Typ, dass du so angeregt mit ihm plauderst?«, fragte der Inselpolizist abfällig. »Ziemlich abgerissene Erscheinung, wenn du mich fragst. Noch ein Fleck mehr auf dem Hemd, und er könnte als Penner durchgehen.«

»Was willst du? Ist doch ein netter Kerl«, protestierte Insa Ukena. »Und ’ne arme Socke außerdem. Schlägt sich mit allerhand Gelegenheitsarbeiten durch. Dass Marian Godehau ihn für den Inselboten schreiben lässt, ist für ihn bestimmt ein Geschenk des Himmels. Und es beweist ja auch, dass Keno ganz schön was auf dem Kasten hat.«

Lüppo Buss schnaubte leise; seine Meinung von journalistischer Intelligenz war nicht sonderlich hoch angesetzt. Er hatte schon seinen Mund zu einer weiteren abfälligen Bemerkung geöffnet, als er plötzlich innehielt. »Siehst du den da?«, fragte er leise.

Insa Ukenas Blick war dem ihres Kollegen gefolgt. Keno Gautier hatte sich gerade an einem alten Mann mit Schiffermütze vorbeigedrängt, der leicht gebückt in der Menge stand, auf einen stabilen Stock gestützt, das kantige Kinn vorgestreckt und den faltigen, zahnlosen Mund zu einem Lächeln verzogen. »Meinst du den Methusalem?«, fragte sie ebenso leise zurück.

»Ja, genau. Das ist doch einer von dieser Viererbande, du weißt doch, einer von den vier alten Säcken, die immer am Bahnhof hocken und über die Touristen herziehen. Hat doch gerade erst in der Zeitung gestanden.«

»Stimmt.« Insa Ukena nickte. »Und?«

»Na, guck ihn dir doch an!« Der Inselpolizist musste sich sehr beherrschen, um nicht mit dem Finger auf den alten Mann zu zeigen. »Steht da, glotzt das zerstörte Haus an und grinst.«

»Na und? Die halbe Insel steht hier und glotzt«, sagte Insa Ukena ungerührt. »Von den geschmähten Touristen ganz zu schweigen. Denen wird hier doch mal richtig was geboten.«

»Stimmt«, sagte Lüppo Buss. »Sie stehen und glotzen. Aber grinsen sie etwa?«

Die Oberkommissarin starrte ihren Kollegen einen Moment lang mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Du meinst …« Dann wandte sie ihren Blick ab, zurück zu dem Punkt, wo der alte Mann gestanden hatte.

Er war verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.

»Wie macht man den Touristen Langeoog madig?«, murmelte Lüppo Buss. »Eine Explosion in einem Hotel, eine zweite in einem Ferienhaus. So dass man sich nirgends mehr sicher fühlen kann. Wo geht die nächste hoch? Im Haus der Insel, während eines Konzerts oder einer Lesung?«

»Da wohl kaum«, erwiderte Insa Ukena nachdenklich, »da hat doch Dedo de Beer sein Hauptquartier aufgeschlagen, mitsamt seinem Gefolge. Dort wimmelt es nur so von Polizei.«

»Na und? Dann fliegt als Nächstes eben eine Pension in die Luft. Oder ein Restaurant. Oder ein paar Strandkörbe gehen in Flammen auf.« Der Inselpolizist redete sich regelrecht in Hitze. »Wenn die vier alten Miesepeter tatsächlich hinter diesen beiden Attentaten stecken, dann lassen sie es damit bestimmt noch nicht gut sein. Läuft doch prächtig für sie!« Er ballte die Fäuste: »Ich möchte nur zu gerne wissen, wo sie beim nächsten Mal zuschlagen.«

»Warum? Um es brühwarm dem Ermittlungsleiter zu erzählen?«, fragte Insa Ukena.

Ihr Kollege verschränkte wieder seine muskulösen Arme. »Noch wissen wir ja gar nichts. Gibt nichts zu berichten. Denk’ ja gar nicht dran. Ich mach mich doch nicht lächerlich.«

Wenn er nur wüsste, wie lächerlich er jetzt gerade aussieht, dachte Insa Ukena. Irgendwann sage ich ihm das mal. Aber nicht jetzt. »Weißt du«, sagte sie stattdessen, »es muss ja nicht unbedingt eine Bombe sein.«

»Was? Du meinst, der nächste Anschlag könnte …«

»Der nächste Anschlag«, unterbrach ihn die Oberkommissarin, »könnte doch bereits geschehen sein.«

 

Sie schwiegen beide, und sie konnte sehen, wie es in ihm arbeitete.

Dann sagte er: »Du hast recht. Ich sollte diese Marmelade doch einschicken. Zur Laboruntersuchung.«

»Nicht mehr nötig«, sagte sie. »Habe ich schon erledigt.«

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