Buch lesen: «Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945»
DR. PAUL SCHMIDT
STATIST
AUF DIPLOMATISCHER BÜHNE
1923 - 1945
ERLEBNISSE DES CHEFDOLMETSCHERS
IM AUSWÄRTIGEN AMT MIT DEN STAATSMÄNNERN EUROPAS
CEP Europäische Verlagsanstalt
© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014
ISBN 978-3-86393-503-0
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INHALT
Einleitung: Weltgeschichte – zunächst ganz privat
1 Auftakt im Haag (1923)
2 Tiefpunkt in Berlin (1923/24)
3 Silberstreifen in London (1924)
4 Morgenröte in Locarno (1925)
5 Trüber Tag in Genf (1926)
6 Rückkehr in die Völkergemeinschaft (1926)
7 Die Wirtschaft hat das Wort (1927)
8 Die Zeit der großen Enttäuschung (1927/28)
9 Stresemann am Ziel (1929)
10 Reparationen, Räumung, Europa-Union (1930)
11 Im Wirbel der Wirtschaftskrise (1931)
12 Reparationsende und Gleichberechtigung (1932)
13 Türen fallen zu (1933)
14 Abseits von der großen Politik (1934)
15 Überraschende Wendungen (1935)
16 Verurteilung und Anerkennung (1936)
17 „Die Epoche der Überraschungen ist abgeschlossen“ (1937)
18 Hart am Kriege vorbei (1938)
19 Der Anfang vom Ende (1939)
20 Blitzkriege und Staatsmännerbegegnungen (1940)
21 Der Osten tritt auf den Plan (1941)
22 Schattenspiele mit düsterem Hintergrund (1942/43)
23 Selbsttäuschung bis zum Schluß (1944/45)
Nachklang (1945/49)
Nachwort Marcus Pyka: Der Dolmetscher als „Statist“? Paul Otto Schmidt und seine Memoiren
Bibliographie
Zeittafel
VORWORT
Dieses Erinnerungsbuch entstand in der alten Inselstadt Ratzeburg, im Schatten des historischen Domes, den Heinrich der Löwe im 12. Jahrhundert dort erbauen ließ. Neben den sagenhaften goldenen Hirschen, die in einem Pfeiler des Gotteshauses eingemauert sein sollen, beherbergte die alte Kirche während des Zweiten Weltkrieges einen wirklichen Schatz und bewahrte ihn vor der Zerstörung durch menschliche Unvernunft. Das war die berühmte Bibliothek des Weltwirtschaftsinstituts der Universität Kiel, die erst jetzt wieder an ihren alten Sitz zurückverlegt wird.
So wurde mir aus den Gewölben des Ratzeburger Domes das Quellenmaterial zur Verfügung gestellt, das ich zur Ergänzung meiner eigenen Aufzeichnungen und Erinnerungen für meine Arbeit benötigte. Von den nachgelassenen Schriften Stresemanns bis zu den jüngsten Memoiren Churchills, Cordell Hulls und anderer Staatsmänner, die in Deutschland an anderer Stelle nicht mehr oder noch nicht verfügbar sind, habe ich alles einsehen können. Ich blätterte in den alten Nummern deutscher Zeitungen, in den Bänden der Times und des Temps, die von 1923 bis 1945 im Archiv vorliegen, und manche Einzelheit aus zurückliegenden Tagen stand mir dadurch wieder lebendig vor Augen.
Mein Dank gilt daher in erster Linie Herrn Professor Dr. Gülich, der als Direktor der Bibliothek durch seine Tatkraft und Umsicht diese unersetzliche Sammlung vor der sicheren Vernichtung in Kiel gerettet hat und mich mit seinen stets hilfsbereiten und sachkundigen Mitarbeiterinnen in großzügigster Weise unterstützte.
Ganz besonderen Dank schulde ich auch meinem Freunde, Dr. Erich Kordt, der bereitwilligst und mit großer Sachkenntnis die Arbeit durchgesehen hat.
Wertvolle Hilfe leistete mein Kollege aus dem Auswärtigen Dienst, Walter Lohmann, der im Auftrage des Verlages gemeinsam mit mir die endgültige Fassung der deutschen Ausgabe besorgte.
Meine eifrigste Mitarbeiterin war meine liebe Frau, die das Manuskript geschrieben und überprüft hat, und die sich in unermüdlicher Arbeit an der Sichtung und Auswahl des reichen Quellenmaterials aus Bibliothek und Zeitungsarchiv beteiligte.
Für solch eine rückschauende Arbeit war die Inselstadt Ratzeburg der geeignete Platz. Heinrich der Löwe, Ziethen, Bismarck, Moltke und die Hohenzollern sind hier durch alle Stürme der Zeiten noch bis in die Firmenschilder des Alltags lebendig geblieben, während die Geschichte der jüngsten Gegenwart durch den nur drei Kilometer entfernten Eisernen Vorhang und die bei Tag und Nacht an der stillen Stadt vorüberdröhnenden Flugzeuge der Luftbrücke eindrucksvoll in Erscheinung trat.
Die Abfassung des Buches war mir nach dem Kriege von vielen Deutschen und Ausländern wiederholt nahegelegt worden. Als ich aus der Nachkriegsdiskussion über die Ereignisse, mit denen ich in so enger Verbindung gestanden hatte, ersah, welch unvollständige und zum Teil irreführende Eindrücke die übriggebliebenen, nüchternen Akten vermittelten, entschloß ich mich, meine Erinnerungen über fast ein Vierteljahrhundert europäischer Geschichte niederzuschreiben.
Nur die persönliche Erfahrung gestattet eine lebendige Beurteilung der Geschehnisse, und ich habe mich daher in den folgenden Kapiteln bemüht, dieses unerläßliche, menschliche Element mit dem reinen Tatsachenmaterial zu verbinden, um dem Leser einen wirklichkeitsnahen Eindruck von den noch vielfach so stark umstrittenen Ereignissen zu geben, die ich in den meisten Fällen als einzig überlebender Zeuge aus allernächster Nähe miterlebt habe.
Ich habe mich darauf beschränkt, die Ereignisse wiederzugeben, an denen ich auf dem außenpolitischen Parkett selbst teilgenommen habe. Die internen Vorgänge, vor allem während des Hitlerregimes, gehen über den Rahmen dieses Buches hinaus, da ich als Statist auf der diplomatischen Bühne mit ihnen nicht in Berührung gekommen bin. Die auftretenden Personen erscheinen dadurch nur in der Beleuchtung, in der sie sich bei den außenpolitischen Verhandlungen zeigten.
Ich habe mich bei meiner Darstellung dieser nunmehr geschichtlichen Vorgänge von der Objektivität leiten lassen, die für einen Dolmetscher als dem Vermittler zwischen Gesprächspartnern verschiedener Nationalitäten und Anschauungen eine selbstverständliche Berufseigenschaft ist. In einem Punkt bin ich nicht neutral: In dem Kampf zwischen Fanatikern jeder Rasse und Nationalität und den Hommes de bonne volonté, den Menschen guten Willens, auf die ich bei meiner ereignisreichen Tätigkeit immer wieder gestoßen bin. Ich will mich als guter Deutscher mit diesem Buch voll und ganz auf die Seite der Hommes de bonne volonté stellen, weil ich aus allem, was ich erlebt habe, und besonders aus der Geschichte des Dritten Reiches, die Überzeugung gewann, daß die wahren Feinde der Menschheit die Fanatiker sind, in welchem Lager sie sich auch finden mögen.
Tegernsee, im Juli 1949.
EINLEITUNG
Weltgeschichte – zunächst ganz privat
„Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo ermordet!“ – mit diesen markanten Worten trat die Weltgeschichte zum ersten Male an mich heran, als Ende Juni 1914 die Extrablätter auf den Straßen Berlins ausgerufen wurden. Ich ging damals noch zur Schule, hatte von Politik keine Ahnung und war in der Geschichte noch nicht weit über Karl V. hinausgelangt. Deshalb hatte ich auch in jenem Augenblick von der Bedeutung des Ereignisses und dem Wendepunkt, den es nicht nur in meinem eigenen Leben, sondern in der Geschichte Deutschlands und Europas, ja der ganzen Welt bedeuten sollte, nicht die geringste Ahnung.
„Erster Mobilmachungstag zweiter August“, rief einige Wochen später in einem kleinen märkischen Dorf, wo ich mich bei Verwandten aufhielt, der Dorfschulze den Bauern zu und kündete damit amtlich den Ausbruch des Ersten Weltkrieges an. Bald danach stand ich, der Fünfzehnjährige, als Hilfspolizist mit einer weißen Binde um den Arm und einem ungeladenen Gewehr über der Schulter unter einer Berliner Eisenbahnbrücke und spielte „Bahnschutz“. Im nächsten Jahr half ich, durch die Verteilung der ersten Lebensmittelkarten, das „Zeitalter der Rationierungen“ zu eröffnen, wie vielleicht spätere Historiker einmal unsere Zeit nennen werden. Wieder ein Jahr danach erarbeitete ich mir als Unterprimaner mein Notabitur im Hilfsdienst bei einer Munitionsfabrik, der „Bamag“, d. h. der Berlin-Anhaltischen Maschinenbau A. G. in der Huttenstraße.
Zwei Monate später wurde ich dann zum Militärdienst eingezogen, und meine „Heldenlaufbahn“ begann. Es war im Jahre 1917, und Berlin hatte bereits die ersten Lebensmittelunruhen hinter sich. Es brodelte unter der Oberfläche; wir Berliner Rekruten wurden deshalb zur Ausbildung in möglichst entfernte Gegenden des Reiches geschickt.
Ich kam in den Schwarzwald und wurde dort mit anderen Landsleuten, von denen die meisten noch nie in ihrem Leben ein höheres Gebirge als den Berliner Kreuzberg gesehen hatten, auf der Hornisgrinde und am Mummelsee zum Gebirgskrieger ausgebildet.
Eines Tages bekamen wir, statt der alten blauen, feldgraue Uniformen verpaßt, so daß wir wie richtige „Krieger“ aussahen, wenn man uns nicht allzu genau in die Milchgesichter blickte. Wir wurden … im Straßenkampf ausgebildet! Wir lernten, wie. man Menschenmassen sanft und energisch mit quer vorgehaltenem Gewehr zurückdrängt, wie man sich dieses Gewehr nicht von den roten Sozis entreißen läßt, wie man Straßen absperrt und Geschäfte schützt. Es war eine eigenartige Vorbereitung auf eine „Heldenlaufbahn“. Wir wurden in Mannheim eingesetzt und zwar zum Straßenabsperren gegen revoltierende, hungernde Menschenmassen. Zu Zwischenfallen kam es dabei nicht. Die Mannheimer Arbeiter verulkten uns höchstens wegen unseres jugendlichen Aussehens, begaben sich aber im übrigen auf Aufforderung unserer Offiziere in aller Ruhe auf den Nachhauseweg, so daß wir unsere „ordnungspolizeiliche“ Ausbildungstaktik sehr schnell wieder vergaßen.
Einige Tage später wurden wir dann in den richtigen Krieg geschickt und kamen gerade noch rechtzeitig, um an den großen Offensiven im Frühjahr 1918 teilzunehmen. Als Maschinengewehrschütze kämpfte ich meistens in der „ersten Welle“, wie es damals hieß, gegen Franzosen Engländer, Amerikaner und … Portugiesen, die an einer Frontstelle, welche von den Alliierten für ruhig gehalten wurde, den Hauptstoß der Märzoffensive von 1918 über sich ergehen lassen mußten.
Am 15. Juli 1918 erlebte ich dann zum ersten Male unmittelbar einen Wendepunkt der Geschichte. Er bildete das erste Glied in der Kette jener geschichtlichen Ereignisse, an denen ich in meiner späteren Laufbahn als Angehöriger des Auswärtigen Amtes genau so aus allernächster Nähe teilnahm wie hier als Gefreiter mit dem Maschinengewehr. An jenem Tage begann nämlich die Gegenoffensive von Foch, die das Schicksal der deutschen Armeen im Ersten Weltkrieg besiegelte.
Als die deutsche Offensive anlief und meine Kompanie auch diesmal wieder in der ersten Welle weit auseinandergezogen hinter dem Feuerschleier der Artillerie durch die Trichterfelder bei Reims vorwärtsstürmte, fiel uns sofort die unheimliche Stille auf der Gegenseite und das lautlose Zurückweichen der uns gegenüberliegenden Franzosen auf. Wir hatten deutlich das Gefühl, daß wir irgendwie ins Leere stießen. Das Ratsel sollte sich in wenigen Stunden aufklären, als Foch mit seiner Reservearmee überraschend zum Gegenstoß ansetzte und uns in dem kritischen Augenblick der eigenen Vorwärtsbewegung durch diesen zeitlich sehr gut überlegten Gegenschlag völlig in Verwirrung brachte.
Als einfacher Soldat wußte ich an jenem Morgen, als ich bei Reims in den Granatlöchern saß, nichts von der entscheidenden Tragweite des Augenblicks. Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich danach immer wieder in ähnlicher Weise an dem wechselvollen Schicksal Deutschlands und Europas unmittelbar persönlich beteiligt sein würde. Ich sollte in späteren Jahren auf den diplomatischen und politischen Schlachtfeldern Europas den allmählichen Aufstieg Deutschlands bis zu seiner größten Machtentfaltung aus nächster Nähe miterleben und das Rad der Geschichte jene volle Drehung vollziehen sehen, die fast ein Vierteljahrhundert später, auch wieder bei Reims, die bedingungslose Kapitulation des Dritten Reiches zur Tatsache werden ließ.
Noch weniger ahnte ich als überzähliger Gefreiter, daß ich eines Tages mit dem geistigen Führer der Alliierten des Ersten Weltkrieges, dem englischen Premierminister Lloyd George, im Jahre 1936 auf dem Obersalzberg persönlich über diese Tage eingehend sprechen und ihm meine Fronterlebnisse schildern würde.
Ebensowenig hätte ich mir träumen lassen, daß ich zweiundzwanzig ſahre später in dem gleichen historischen Speisewagen, in welchem der Waffenstillstand 1918 im Walde von Compiègne abgeschlossen wurde, an demselben Ort einer französischen Delegation zur Unterzeichnung eines anderen Waffenstillstandes gegenübersitzen würde. Ich wußte noch nichts von Locarno und dem Völkerbund, von den Gesprächen zwischen Briand und Stresemann, von den hoffnungsvollen Bemühungen um den Frieden in Europa, an denen ich als Dolmetscher in den 20er Jahren beteiligt sein würde, nichts von Reparationen und Weltwirtschaftskonferenzen, von Brüning und MacDonald, von Hitler und Chamberlain. Damals bei Reims im Jahre 1918 war ich nur froh, daß wir uns mit knapper Not von den vordringenden Alliierten absetzen und einen, an modernen Verhältnissen gemessen, ordnungsmäßigen Rückzug antreten konnten.
Ich wurde dann während der Argonnen-Offensive noch verwundet, als ich, wegen meiner englischen Sprachkenntnisse auf Horchposten verwendet, nachts in den amerikanischen Stellungen saß.
In den Wirren der deutschen Revolution kam ich nach Berlin, erlebte als Verwundeter mit Krückstock die Spartakuskämpfe in der Friedrichstraße und die Front, die sich damals – wie heute – quer durch Berlin zog und den kommunistischen Osten vom antikommunistischen Westen trennte.
Als Kriegsteilnehmer, Verwundeter und Träger des Eisernen Kreuzes genoß ich bei meinem anschließenden Studium der neueren Sprachen mancherlei Vorteile, kam mit vielen Engländern und Amerikanern, die während der Inflation Deutschland bevölkerten, in enge und freundschaftliche Berührung, arbeitete als Student für eine amerikanische Zeitungsagentur in Berlin und kam dadurch zum ersten Male mit der internationalen Politik, und zwar auf sehr intensive amerikanische Weise, in Berührung.
Um diese Zeit, nach der Konferenz von Genua im Jahre 1921, veranstaltete das Auswärtige Amt besondere Kurse zur Ausbildung, von Konferenzdolmetschern. Etwas Derartiges hatte es bisher noch nicht gegeben, da ja in früheren Zeiten der diplomatische Verkehr meist durch Berufsdiplomaten wahrgenommen wurde; diese beherrschten selbstverständlich die französische Sprache, welche vor dem Ersten Weltkrieg allgemein als Diplomatensprache galt. Nach 1918 änderten sich jedoch diese Verhältnisse grundlegend. Die „Geheimdiplomatie“, die man als Hauptursache des Krieges ansah, sollte aufhören. Man verhandelte weniger auf diplomatischem Wege als vielmehr auf großen internationalen Konferenzen. Die einzelnen Länder wurden dabei meist nicht durch Botschafter vertreten, sondern durch die Staatsmänner, die Ministerpräsidenten und Außenminister selbst, da man annahm, daß der direkte, persönliche Kontakt schneller zum Ziele führen würde als die alten Methoden. Diese neuen Repräsentanten der Nationen beherrschten aber fremde Sprachen meistens nur unvollkommen, und so entstand ein ganz neuer Beruf.
Der Dolmetscher, der auf solchen Konferenzen die Reden und Gespräche der Staatsmänner übersetzte, verdankt seine Rolle in der internationalen Politik dieser Demokratisierung der politischen Verhandlungsmethoden. Er nahm notwendigerweise an allem, auch an den geheimsten Zwiesprachen unter vier Augen – die so oft zu Aussprachen unter sechs Augen wurden – teil. Es wurde von ihm erwartet, daß er möglichst unauffällig arbeitete und nicht etwa durch häufiges Dazwischenübersetzen die Atmosphäre der Vertraulichkeit oder den Fluß der Rede bei großen Anlässen unterbrach. Daraus entstand die neue Übersetzungstechnik der Übertragung ganzer Reden oder großer Gesprächsabschnitte in einem Zuge. Auf diese Weise trat der Dolmetscher als störendes Element so gut wie gar nicht mehr in Erscheinung. Er verlängerte natürlich die Zeit, die zur Abwicklung eines Verhandlungsprogramms notwendig war. Dafür aber bot seine Arbeit den Vorteil, daß sich die Verhandlungspartner während seiner Übersetzungen die Fragen und Antworten noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen konnten.
Bei dieser neuen Übertragungstechnik mußte sich der Dolmetscher selbstverständlich stichwortartige Notizen machen, während er die zu übersetzende Rede anhörte. Diese Stichworte eigneten sich gut zur Anfertigung von vertraulichen Aufzeichnungen über den Inhalt. Aus ihnen läßt sich heute noch der Ablauf von Verhandlungen sehr genau rekonstruieren, und sie sind daher ein wertvolles Material für die Historiker, die sich eingehender mit den Zusammenhängen und Hintergründen der verwirrenden Zeiten nach 1918 beschäftigen wollen.
Diese neue Technik wurde auf den Kursen des Auswärtigen Amtes eingehend gelehrt. Die Teilnehmer waren unter den Studenten der Berliner Universität ausgewählt worden. Es waren teils Juristen, teils Neuphilologen. Auch ich erhielt eine Aufforderung und machte die gesamte Ausbildung durch.
Inzwischen hatte ich mein Studium abgeschlossen und befand mich im Juli 1923 gerade bei den letzten, fieberhaften Vorbereitungen zum mündlichen Examen. Eines Abends beschäftigte ich mich, mit angstvollem Blick auf die herannahende romanistische Prüfung, gerade mit einem dicken Wälzer über den altprovenzalischen Minnesang, als das Schicksal im wahrsten Sinne des Wortes an mein Fenster klopfte. Es präsentierte sich mir in Gestalt eines Boten des Auswärtigen Amtes, der mir einen kurzen Eilbrief vom Leiter des Sprachendienstes überbrachte. Dieser teilte mir mit, er müsse mich noch am gleichen Abend in einem kleinen Restaurant am Savignyplatz in Charlottenburg sprechen.
Ich machte mich sofort auf den Weg. Bei einem Glase Weine eröffnete mir mein späterer Chef, Geheimrat Gautier, dann zu meiner grenzenlosen Überraschung, daß bei Verhandlungen vor dem Internationalen Gerichtshof im Haag Schwierigkeiten mit dem Dolmetscher entstanden seien, und daß er beabsichtige, mich versuchsweise dort einzusetzen. „Wenn Sie es gut machen“, sagte er mir zum Abschluß, „können Sie vielleicht in nicht allzu ferner Zeit ins Auswärtige Amt übernommen werden.“
Der Boden schien mir bei diesen Worten leicht zu schwanken, und das war bestimmt nicht dem Wein zuzuschreiben, zu dem mich der allgewaltige Beherrscher der Sprachen aus dem Auswärtigen Amt eingeladen hatte, um mir die Entscheidung leichter zu machen.
Denn ich mußte mich kopfüber in dieses Unternehmen hineinstürzen, das mir natürlich wie ein tolles Abenteuer erschien. Gleich am nächsten Abend sollte ich abreisen. Ich mußte meine Examenstermine verschieben und die Professoren beschwichtigen, die selbstverständlich einem jungen Wissenschaftler eine derartige Tätigkeit in der verpönten Praxis sehr übelnehmen würden.
Aber ich entschloß mich, den Vorschlag des Auswärtigen Amtes anzunehmen, und saß am nächsten Abend mit Pässen, Visen, holländischen Gulden und einer Schlafwagenkarte auf dem Bahnhof Friedrichstraße. Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich einen Schlafwagen bestieg, und als ich in dem schönen Mitropabett lag, kam mir schon aus diesem Grunde alles wie ein Traum vor. Hätte ich damals gewußt, auf welche Reise ich mich begab, so hätte ich wohl kaum ein Auge zugetan. Hätte ich ahnen können, wieviel Tausende von Kilometer ich in den folgenden Jahren kreuz und quer durch Europa reisen würde, wie oft ich später mit immer größer und bequemer werdenden Flugzeugen zwischen Berlin, London, Paris und Rom hin- un herfliegen würde, so daß ich auch heute noch jedem Piloten den Weg zeigen könnte, hätte ich mir an jenem Abend im Schlafwagen auch nur einen Augenblick lang vorgestellt, daß ich in den nächsten fünfundzwanzig Jahren bei fast allen europäischen Gesprächen und Konferenzen in Politik und Wirtschaft die bescheidene, aber nicht unwichtige Rolle eines Dolmetschers zwischen den Großen Europas spielen würde, dann wäre ich bestimmt bis zum Haag hell wach geblieben. „Keine Feier ohne Meyer“ sagten meine boshaften Berliner Freunde in Anlehnung an den Reklamespruch einer bekannten Likörfirma später, wenn sie auf meine Tätigkeit zu sprechen kamen. Sie hatten mit ihrer Charakterisierung nicht unrecht.
Während ich so nichtsahnend meinem Schicksal entgegenfuhr, hörte die Weltgeschichte auf, für mich etwas rein Privates zu sein. Von jenem Abend ab wurde sie zu einem Bestandteil meines Berufes.