Ein Jahr aus irgendeinem Leben

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Ein Jahr aus irgendeinem Leben
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Pat Oliver

Ein Jahr aus irgendeinem Leben

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

1 – Lisa

2 – Steffi

3 – Adolf

4 – Ina

5 – Neo

6 – Manfred

7 – Mademoiselle Juli

8 – Absolute Giganten

9 – Sam

10 – Lisa II

11 – Bär und Boje

12 – Exfreundin

13 – Fragezeichen

14 – Marlene

15 – Bahn fahren

16 – Bob

17 – Ausgehzwang

18 – London by Bus

19 – Ach...

20 – Lisa III

21 – Leila

21 ½ – Leila II

22 – Hans

23

24 – Noch mal eben zu dem, was Hans gesagt hat

25 – Komm’ mein Mädchen

26 – Heiratsplanung

27 – Leila III

28 – Conny

29 – Conny und Tina

30 – Lisa IV

31 – Hamburg

32 – Lisa V

33 – Hans II

34 – Hochzeit

35 – Leonie

36 – Lagerfeuerromantik

37 – Was jetzt noch kommt...

Impressum neobooks

Widmung

Für das,

Was mir in meinem Leben auch hätte passieren können...

Für all die Menschen, die mir begegnet sind...

Für die, die mir noch begegnen...

Für „Für und wider“...

Für euch, Leute!

1 – Lisa

Der Film beginnt. Standard-Intro. Die Kamera zoomt ganz nah auf ein Gesicht. Natürlich, der Hauptdarsteller. Die gepeinigte Person, die sich immer in ausgerechnet die Mädchen verknallt, die unerreichbar sind. Und natürlich wird er am Ende des Filmes das Mädchen bekommen. Es ist immer das Gleiche. Im richtigen Leben hat er ein großes Haus und alle halbe Jahr mal eine andere Kollegin als Freundin. Er hat zwei Kinder aus zwei verschiedenen Ehen, ein dickes Bankkonto und einen Porsche vor der Tür.

Wie ich Hollywoodfilme hasse. Immer der gleiche Scheiß! Trotzdem bin ich natürlich rein gegangen. Nicht wegen dem Film. Der liegt sowieso schon sicher verstaut auf irgendeiner der vielen Video-CDs, die sich bei mir im Regal finden. Dank meiner neuen DSL-Anbindung gehen die Downloads jetzt noch schneller. Allerdings habe ich mir dieses cineastische Meisterwerk auch noch nicht angesehen, weiß aber trotzdem, wie es ungefähr ablaufen wird. Es ist reine Sammlerfreude, solche Filme zu besitzen. Zumal ich sie meistens schon eine Woche vor Filmstart beruhigt ins Regal legen kann.

Der Großteil der Filme findet sich bei mir allerdings in der englischen Originalfassung, was dazu führt, dass ich jedes Mal aufs Neue überrascht bin, wenn ich dann ein Kino betrete und die Synchronisation bewundere, die immer so nette Umschreibungen wie „böser Bube“ für das simple Wort „Motherfucker“ oder andere Skurrilität bietet.

Das hier ist allerdings äußerst brutal. Es ist eine dieser Fließband-Liebes-Komödien, die jeden Monat auftauchen. Man hört dann etwa ein Jahr lang nichts mehr davon. Irgendwann läuft das Ganze schließlich auf RTL oder Pro Sieben. Ein Jahr später auf Kabel 1 oder RTL II und dann nie wieder.

Der Grund, den ich habe, um mir diesen Film hier anzugucken, ist das Mädchen, das gerade neben mir an ihrer überteuerten Cola schlürft und gleich zum Popcorn greift. Sie heißt Lisa.

20 Jahre, erstes Semester Soziologie, blond, braune Augen, mittelmäßige Figur, mittelmäßige Kleidung, Mittelmaß. So wie ich. Wir würden vielleicht zusammen passen, wenn sie kluge Filme mögen, gute Bücher lesen würde oder sonst irgendwie interessant wäre. Sie könnte ja in einer Band spielen, oder eine tolle Malerin sein, aber das ist Lisa nicht. Sie ist gesundes Mittelmaß und die einzige Motivation, die ich im Moment habe, diesen Film zu sehen, ist die Option auf lange ersehnten Sex.

Ich stelle mir vor, wie Lisa wohl nackt aussieht und bin froh, dass ich keine romantische Beleuchtung zuhause habe, geschweige denn Kerzen. Ich gebe ihr eine Woche Zeit, sich die Sache zu überlegen, falls denn wenigstens so etwas wie ein Kuss heute Abend herausspringen sollte. Natürlich sage ich ihr das nicht. Das würde mich in ein schlechtes Licht rücken. Meine Chancen wären gleich null. Natürlich ist das hinterhältig, ja sogar gemein, aber ich werde mich deswegen nicht schlecht fühlen. Ich werde Sex haben und sie wird Sex haben und dann werde ich ihr erklären, dass ich sie nicht liebe und dass ich das eben erst so richtig begriffen habe.

Wir werden keinen Sex haben. Lisa ist so langweilig. Hin und wieder mache ich eine scherzhafte Andeutung, die sie nicht versteht, während sie bei den schlechtesten Slapstick-Einlagen in schallendes Gelächter ausbricht. Ich erkläre ihr, warum der Film einfach nur schlecht ist und sie schüttelt den Kopf. Ich zeige ihr das im Bild hängende Mikrofon und sie sieht es nicht einmal. Ich werde sie nach dem Kino nachhause fahren und ihr sagen, dass es ein schöner Abend war, ich allerdings morgen nach China auswandere. Sie wird sich darüber freuen, denn ich habe sie wirklich sehr gelangweilt, mit meinen Sprüchen und Weisheiten.

Jetzt heult sie. Hauptdarstellerinnen heulen immer in diesen Filmen, kurz bevor sie ihm seine Briefe zurückgeben und die Kassette und den ganzen anderen Plunder. Dann zerreißen sie die Fotos und tun so, als ob sie von einer sehr schweren Last befreit wurden, obwohl sie ganz genau wissen, dass der Mann jetzt alles daran setzen wird, sie wieder zu kriegen. Ihre Freundinnen sagen ihr, dass das jetzt genau das Richtige sei, was sie tut und dass der Kerl sowieso ein Arschloch war. Er wiederum macht natürlich alles, was sie will. Er schickt ihr Blumen und schreibt wieder Briefe und lässt sich später etwas atemberaubend Schönes einfallen, was sie aber trotzdem nicht dazu bringen wird, ihn zurück zu wollen. Im Gegenteil. Sie entfernt sich immer mehr von ihm. Irgendwann passiert dann etwas richtig Schlimmes und er rettet sie vor irgendetwas. Ein Kuss. Ein Happy End. So läuft das immer. Insgeheim glaube ich, diese Filme sind der Grund dafür, dass die Emanzipation der Frau niemals in den Köpfen der weiblichen Bevölkerung dieses Planeten Einzug halten wird. Es rührt sie zu Tränen zu sehen, wie der Hauptdarsteller seine Liebe zurückerobert. Eine Frau hat so etwas auf der Leinwand noch nie getan. Nie.

Auch Lisa ist im Moment zu Tränen gerührt und ich tue so, als ob ich die letzte Viertelstunde vergessen habe. Ich sitze da und frage mich, warum diese Frau auf der Leinwand heult. Ich denke mir, dass sie Krebs haben muss und dass der Typ auf den Bildern, die sie gerade zerreißt, daran schuld ist. Das wäre zumindest eine Variante, die ich verstehen könnte.

Lisa sieht mich an und hält kurz meine Hand, weil sie denkt, ich fände es auch traurig, dass dieses perfekte Liebespaar so auseinander gehen musste. Dabei findet in meinem Kopf gerade eine wilde Schießerei statt, die daraus resultiert, dass der Vater der heulenden Frau ein finsterer Mafia-Boss ist, der den Hauptdarsteller soeben erschossen hat. Solche Szenen lassen mich wohl immer etwas bedächtig erscheinen.

 

Ich sehe Lisa kurz, aber entschlossen in die Augen und sage: „Schade um die zwei, findest du nicht?“

Sie sagt „ja“ und dreht sich wieder der Leinwand zu. Kurz darauf lässt sie meine Hand wieder los. Sie hatte das nicht erwartet. Sie wollte nicht den einfühlsamen Kerl, der gleich anfängt zu weinen. Keine Frau will das. Sie wollen alle nur diese Typen, die statt „Schade um die zwei“ zu sagen, aufrichtig gegähnt hätten. Sie wollen, dass man ihnen sagt, dass das ein Film für Mädchen ist und dass das nächste Mal bitte wieder in einen Horrorfilm gegangen wird. Klar, ich hätte das tun können, aber irgendwie bin ich nicht mehr scharf auf Sex mit Lisa. Ich will nicht mal mehr einen Kuss von ihr. Ich will, dass dieser Abend schnellstmöglich vorbei ist, damit ich nach China auswandern kann.

Jetzt folgt der Anflug einer Spannungsspitze. Die Protagonistin läuft nach einem Streit auf die Straße. Er springt ihr hinterher und wirft sie zu Boden, bevor der Bus sie überfahren konnte... Wieso müssen es eigentlich immer Busse sein? Fast immer versuchen irgendwelche Busse die Protagonistinnen zu überfahren. Das ist ganz schön seltsam, vor allem dann, wenn man „Speed“ gesehen hat. Ich glaube, es gibt tatsächlich einen Bus, den sie ursprünglich für den Dreh von „Speed“ benutzt haben, der aber aufgrund einer Fehlplanung jetzt immer ständig im Kreis auf Hollywoods Straßen fahren muss und aus Nostalgiegründen ab und an mal für einen Film eingesetzt wird.

Lisa ist jetzt ganz und gar gefesselt von dem Film. Es ist geradezu schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie sie sich in den Kinosessel krallt. Sie ist sichtlich beeindruckt von der Einstellung. Sie wünscht sich, dass jemand auch einmal so etwas für sie tut.

Die Ballade setzt ein. Die zentrale Ballade des Films. Jetzt wird’s wirklich schmalzig. Sie sehen sich tief in die Augen und jeder weiß, was gleich kommt. Ich hoffe immer noch, dass etwas anderes passieren wird. Vielleicht steht im Drehbuch ja, dass John die Schlampe jetzt erwürgt. Natürlich steht das nicht da. Da steht: Kuss. Closeup. Happy End.

Und so passiert es auch. Lisa schaut mich hoffnungsvoll an, so als müsste ich jetzt etwas wundervoll Geistreiches sagen. Ich sage: „Und? Was machen wir jetzt?“, gucke dabei so desinteressiert wie möglich und reiße sie aus ihrer romantischen Vorstellung. Sie braucht einen Moment, um sich daran zu gewöhnen, dass ich auf einmal herzlos geworden bin und meint: „Wie wär’s mit was zum Essen?“

Ich sehe immer noch keinen Sinn darin, dass man, wenn man sich schon den ganzen Abend lang mit Popcorn und Nachos den Magen verdorben hat, noch mal etwas essen geht und frage deswegen, ob wir nicht lieber noch etwas trinken gehen wollen.

Ob trinken oder essen ist für Lisa egal. Hauptsache ist, dass wir noch etwas unternehmen, damit sie mich richtig kennen lernen kann. Sie spielt wohl immer noch mit dem Gedanken an Romantik und Liebe. Mit dem Thema bin ich allerdings durch. Und das mit dem Trinken gehen ist auch nur ein Vorwand, um mich nach allen Regeln der Kunst zu besaufen. Das werde ich jetzt brauchen. Außerdem weiß ich von einer Party, auf die ich jetzt gehen werde. Ob es ihr gefallen wird, ist mir egal. Vielleicht betrinkt sie sich auch und einer meiner Freunde wird es mit ihr treiben. Scheißegal. Sie ist nicht mein Typ. Sie ist nur jemand, der seit langer Zeit mal wieder mit mir ausgegangen ist. Gesundes Mittelmaß.

2 – Steffi

Ich bin eben erst heimgekommen von besagter Party. Natürlich gab es reichlich Bier, Schnaps und THC in der Luft. Ich hatte leider das Pech, nicht betrunken genug zu werden, um mit dem Joint klar zu kommen und jetzt sitze ich auf meinem Balkon und habe Angst.

Lisa ist vorzeitig gegangen. Da hatte sie wohl Recht. WG-Partys und erste Dates verstehen sich nun mal einfach nicht. Sie hat die Nase gerümpft, über rüpelhafte Freunde, deren liebstes Diskussionsthema das Kacken an sich ist. Sie hat sich nicht an Gesprächen über politisch wichtige Details beteiligt. Scheiße, sie hat nicht einmal etwas, wie „Danke für den schönen Abend“ verlauten lassen. Als ob es mir irgendwas ausmachen würde. Na klar, der Abend war nicht schön für sie. Aber wer diese Jungs nicht übersteht, der hat es auch nicht verdient, einen zweiten Abend mit mir zu verbringen. Was ich eigentlich suche, dass ist diese Mischung aus Ironie, Charme, Witz und gutem Aussehen und der Fähigkeit, von jetzt auf gleich völligen Schwachsinn von sich geben zu können. Ich will ein Mädchen, das rülpst, ein Mädchen, das romantisch ist, ein Mädchen, das es versteht zu leben. Mit Alkohol und Zigaretten, tendenziell rockorientiert, aber durchaus für Ansätze des alten Swings, neuer Popbands und der großen Giganten der 60er empfänglich. Ich will Lisa einfach nicht. Sie hört wahrscheinlich den ganzen Tag nichts anderes als Radio und währenddessen sieht sie sich Filme an!

Damit ist es wohl raus. Meine zwei Schwächen. Musik und Filme. Die richtige Musik, der richtige Film, die richtige Musik in einem Film – damit kriegt man mich immer. So ist das nun mal mit mir. Da bin ich ziemlich einfach zu befriedigen. Damit kriegt man mich eben immer klein, jeden Morgen ein neues Album von „The Who“ oder „Pink Floyd“, deutscher Philosophenrock, oder alte Jazz-Platten und dann abends einen komplizierten Film, den man erst am Ende, oder nach zweimaligem Sehen begreift. Dann bin ich glücklich.

Allerdings sollte man mich wirklich nicht auf Partys lassen, auf denen gerade der letzte Joint geraucht und das letzte Sixpack Bier angebrochen wird. Ich trinke zwei Bier und rauche mit. Ich habe in meinem Leben noch niemals Gras gekauft. Ich käme nicht auf die Idee. Aber wenn ich pegeltechnisch im Rückstand bin, dann versuche ich zumindest schnellstmöglich auf ein vergleichbares Level zu kommen. Das allerdings endet, nach zwei Zügen auf Lunge und zwei Flaschen auf Ex, meist in einer Art Paranoia, die ich mir nicht erklären kann. Ich laufe den gleichen Weg, den ich schon auf dem Hinweg genommen habe zurück, aber ich drehe mich ziemlich häufig um und gehe definitiv schneller. Wenn ich den Schlüssel in die Tür stecke, dann schaue ich mich noch drei- bis viermal um, um zu sehen, ob mir jemand gefolgt ist. Die meisten Büsche sehen bei Laternenlicht plötzlich aus wie fiese Verbrecher, die mein Geld wollen und mein Handy und ich stelle mir zwischenzeitlich vor, wie ich um Gnade winsele, oder versuche ihnen zu erklären, dass ich wirklich pleite bin und dass der PIN von meinem Konto nichts nützt, weil es mit 30 Euro im Soll steht.

Und jetzt gerade beobachte ich ein paar Einbrecher, die es sich im Haus gegenüber bequem gemacht haben. Der eine steht seit einer Viertelstunde gebeugt vor einem Schrank und langsam sollte er sich mal bewegen, sonst rufe ich vielleicht tatsächlich noch die Bullen. Ernsthaft, ich überlege im Moment, welche Waffe in diesem Haushalt am effektivsten für die Verteidigung wäre. Bisher sind mir das große Küchenmesser, der kleine Hammer und mein Kinder-Baseball-Schläger eingefallen, mit dem ich bisher exakt sieben Bälle getroffen habe. Es werden auch niemals mehr werden.

Scheiße, natürlich können die Einbrecher sehen, dass sie jemand beobachtet. Ich habe mir eben noch eine Zigarette angezündet, die ich jetzt wohl besser hinter vorgehaltener Hand rauchen werde.

Ich sollte schlafen gehen. Kann ich natürlich nicht. Sie würden mich im Schlaf erwürgen, aber so, dass ich es merke – davon aufwache. Im Moment sitze ich in diesem Zimmer und höre, wie die Tür mit irgendeinem Werkzeug geöffnet wird. Ich bin hinein gegangen, als das Sturmgewehr auf mich zielte. Verdammt.

Ich weiß, den Drogenkonsumenten unter den Lesern mag das jetzt lächerlich vorkommen. Von Marihuana bekommt man doch keine Halluzinationen. Und vor allem nicht solche Horrortrips. Aber genau genommen ist es das auch nicht. Kein Horrortrip. Was ich da nämlich die ganze Zeit höre, sind Geräusche, die mein Kühlschrank macht und was ich da sehe, sind entweder Pflanzen oder diverse andere Gartendekorationen. Das Problem ist wohl nur, dass ich mir durch den Gedanken, eine in Deutschland zurzeit illegale Substanz eingeatmet zu haben, einbilde, dass man mich dafür dran kriegen könnte. Das alleine reicht für den ersten Kick, schlägt aber dann in Furcht um, wenn sich durch die Wirkung der Substanz (auch das könnte ich mir einbilden) meine Sinne verschärfen und ich Bewegungen verfolge, die es gar nicht gibt und Geräusche einfach falsch interpretiere.

Jetzt bin ich wieder langsam unten. Wurde ja auch Zeit. Die Einbrecher vom Haus gegenüber haben endlich das Licht ausgemacht und sind schlafen gegangen. Es würde auch nicht mal für eine Täterbeschreibung reichen. Ich bin also fein raus aus der Sache.

Irgendwie ist es beruhigend, der Spinne in meiner Badewanne zuzusehen, die übrigens wirklich echt ist. Sie sitzt seit einer Woche da und versucht hin und wieder raus zu kommen. Wäre sie kleiner, dann wäre das wirklich kein Problem, aber ihr Körper, ohne Beine, misst exakt 1,8 Zentimeter. Es ist ein Männchen. Das habe ich kürzlich im Internet recherchiert, nachdem dieses Exemplar das zweite war, das sich innerhalb von zwei Tagen bei mir verirrte. Ich habe sogar überlegt, das Vieh zu füttern, weil ich irgendwie Mitleid mit dem Tier entwickele. Es war wohl auf der Suche nach einem Weibchen, als es zufällig in die Badewanne fiel. Spinnweben kann es auch nicht machen und überleben tut es, indem es der Beute auflauert, bevor es sie blitzschnell mit den Greifarmen, oder wie man die kleineren Beine am Kopf nennt, schnappt. Allerdings wird das schwer sein, denn auf diesem Untergrund ist das Vieh schlecht getarnt. Irgendwann wird es sterben.

Ich kann es einfach nicht über mich bringen, den kleinen Kerl zu töten. Sein Vorgänger hat eine ziemlich große Spur hinterlassen. Aber anfassen werde ich die Spinne auch nicht. Klar, es gibt diesen Trick mit dem Glas und dem Blatt Papier. Aber wie sicher ist das? Wenn mir der Junge abhauen sollte, dann lebe ich Tag und Nacht mit dem Gedanken, dass er mir in den Mund krabbelt, während ich schlafe und so was muss doch nicht sein. Aus der Wanne kommt er jedenfalls nicht raus und außerdem geht duschen sowieso schneller.

Jetzt ist es fast drei Uhr. Im Fernsehen fangen bald wieder die Wiederholungen des Vortages an und ich spiele mit dem Gedanken, bis sieben Uhr wach zu bleiben und ein psychologisches Profil jedes einzelnen Fernsehrichters anzufertigen. Im Moment habe ich ja nun wirklich nicht viel zu tun. Meine Studienarbeiten sind alle fein säuberlich abgegeben und werden gerade bewertet. Ich hasse diese Phasen, in denen man sich so sinnlos vorkommt, weil man wieder nur den halben Tag im Bett gelegen und die andere Hälfte gekocht oder gegessen hat. Was anderes kann man aber wohl kaum anstellen. Der 400-Euro-Job in dem Café am Marktplatz verplant auch nur etwa 14 Stunden meiner Woche und ich kann schließlich nicht den ganzen Tag in der Stadt hängen wie ein paar Jugendliche, die die Schule schwänzen. In diesen Zeiten hilft einem das Fernsehen. Egal was läuft, es gaukelt einem immer vor, dass man gerade beschäftigt ist. Ich habe mich sogar schon dabei ertappt, dass ich das manchmal am Telefon sage, nur weil ich diese oder jene Sitcom noch sehen wollte.

Ein Blick in den Spiegel verrät mir jetzt, dass ich formvollendet im Eimer bin und dass ich bald einfach umfallen werde. Mir ist das egal. Ich schnappe mir ein Bier aus meinem einbruchs­geräuscheimitierenden Kühlschrank und setze mich aufs Sofa. Irgendwo in diesem Raum klingelt es.

Um diese Zeit rufen mich höchstens zwei Personen an. Eine davon arbeitet in einem Krankenhaus und muss mir erklären, dass meine Eltern einen schrecklichen Autounfall hatten. Die andere heißt Steffi und war in der achten Klasse mal mit mir zusammen. Sie meint, ich könnte gut zuhören und ich habe bei unserer Trennung irgendwas von „immer für dich da“ verlauten lassen. Verfluchte Phrasen. Es scheint irgendwie bezeichnend für Steffi zu sein, dass sie so etwas total ernst nimmt.

Ich nehme ab und sage „Hallo, Steffi“, während ich erschreckt zusammenzucke und den Hörer gleich wieder einen halben Meter von meinem Ohr weg halten muss. So laut heult sie. Nach ca. zwei Minuten versuche ich es erneut und sage etwas wie: „Was ist denn?“

Ich verstehe nicht ein Wort. Gar nichts. Man kann sich das ungefähr so vorstellen:

 

„Heul...Freund...ich...schnief...getrennt...heul...schnief...10 Minuten...bei dir.“

Leicht genervt, etwas verstört und immer noch ziemlich im Eimer ziehe ich mir meine Hose wieder an und mache mir einen Kaffee. Die Lage ist ernst. Steffi ist nicht besonders stabil in solchen Situationen. Ich hole eine Box Taschentücher, stelle eine Flasche Wein bereit und prüfe meinen Zigarettenbestand. Der wiederum reicht nie im Leben, aber ich weiß schon, warum ich gegenüber von einer 24-Stunden-Tankstelle wohne.

Zwei Minuten nach meinem nächtlichen Einkauf sitze ich noch ein wenig gehetzt neben Steffi auf dem Sofa und obwohl ich Taschentücher hingestellt habe, ist meine Schulter jetzt nass. Aber das ist okay. Wenn ich morgen arbeiten müsste, wäre ich jetzt extrem gereizt, aber Steffis Heulkrampf ist doch mal eine gelungene Abwechslung und in angetrunkenem Zustand gibt man ja gerne auch mal Ratschläge. Dazu allerdings braucht man zunächst die ungefähre Situation und den Tatbestand.

Nach einer Stunde habe ich aus Steffi zumindest die Situation rausgekriegt. Sie hat mit ihm Schluss gemacht. Sie mit ihm. Richtig. Wenn ich Steffi nicht kennen würde, dann würde ich jetzt auch lauter Fragezeichen über dem Kopf haben. Wenn man allerdings weiß, dass ihre Bewältigungsstrategien im Prinzip alle mit übermäßiger Tränendrüsenaktivität zu tun haben, wundert man sich irgendwann nicht mehr. Allerdings ist eine Stunde Heulkrampf auch für dieses Mädchen eine lange Zeit, was mich zum zweiten Teil der Entschlüsselung ihrer Mitteilungen führt – dem Tatbestand.

Im Moment nehme ich an, dass er sie betrogen hat. Mit ihrer besten Freundin. Allerdings sind das nur vage Mutmaßungen, die einer weiteren Prüfung und weitergehenden Analysen bedürfen. Ihre Augen sind ziemlich geschwollen und man merkt ihr an, wie müde sie im Moment ist, also umarme ich sie erst einmal noch freundschaftlich, bevor ich ihr eine Zigarette anbiete und ihr ein Glas Wein einschenke.

„Du machst das richtige, wenn du mich fragst“, höre ich mich sagen.

„Meinst du?“ Ihre Stimme zittert noch, aber sie zündet die Zigarette an und wischt sich ein paar Tränen aus dem Gesicht.

„Ich meine, der Kerl ist doch ein Arsch.“ (Hollywood lässt grüßen)

„Ja, aber ich liebe ihn doch noch, irgendwie.“

„Wieso?“

„Na ja, ich weiß auch nicht. Irgendwie will ich das ja auch nicht alles wegschmeißen.“

„Aber du hast doch schon Schluss gemacht. Und jetzt zurück gekrochen kommen ist ja auch irgendwie erbärmlich.“

Vielleicht hätte ich das nicht so drastisch sagen sollen. Jetzt schweigt sie und sieht sich Hilfe suchend im Raum um. Wahrscheinlich wird ihr gerade klar, dass ich Recht habe. Im Begreifen ist sie manchmal ziemlich schnell. Ich frage mich, ob sie aus Rache an ihrem Ex mit mir schlafen wird. Es hätte rein gar nichts zu bedeuten. Sex unter Freunden. Scheiße, jetzt fühle ich mich erbärmlich. Aber eine tolle Figur hat sie schon.

„Weißt du, ich hab geglaubt, Jochen wäre anders als die anderen. Er war immer so liebevoll und wir hatten immer Spaß, wenn wir zusammen waren. Klar, der eine oder andere Streit, aber alles in allem. Und dann fickt er da vor meinen Augen mit dieser Schlampe rum...“

Das war’s. Sie hat sich eingeschossen. Phase zwei. Nach zwei Stunden Heulkrampf folgt der tiefe innige Hass. Ich habe irgendwann einmal etwas über fünf Stufen der Beziehungsbewältigung gelesen. Bei Steffi gibt es, soweit ich das abschätzen kann, aber wohl nur drei. Wenn bei mir was zu Ende ist sind es sogar noch weniger. Zwei oder so. Hass oder Trauer und Akzeptanz. In schätzungsweise einer halben Stunde werden wir zu Steffis Phase drei vorstoßen können: „Akzeptiere den Verlust“. Sie wird mir danken, mich umarmen, nachhause fahren und einen Brandsatz unter Jochens Auto installieren. Bis dahin muss ich jetzt nur noch nicken, hin und wieder ein „Ja, stimmt“ oder ein „Genau“ von mir geben und schon bin ich wieder ihr persönlicher Held. Sie schuldet mir dafür nichts. Immerhin durfte ich in der achten Klasse ihre Brüste berühren. Ich war einer der ersten Jungs, die so etwas Glorreiches getan haben. Aber ich behielt es für mich und musste immer lachen, wenn ich die anderen Geschichten hörte, die so einfach niemals passiert sein konnten.

Ja, für Steffi – für meine ersten Brüste – werde ich immer da sein.