Puzzeln mit Ananas

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Von einem Tag auf den anderen war meine Mutter allein zu Hause. Über Nacht war sie Witwe geworden. Ihre Gefühle behielt sie weitgehend für sich, wie sie es schon früher getan hatte, als sie Verluste ertragen musste. Sie habe natürlich Heimweh nach Bruno, doch es gehe ihr gut, sie dürfe nun bloss nicht krank werden. Es klang traurig und tapfer. Mehr aufgeben als notwendig wollte sie auf keinen Fall, über einen möglichen Umzug vom gemieteten Haus in eine Alterswohnung war mit ihr nicht zu diskutieren. Sie überging jede Andeutung des Themas mit schablonenhaften Sätzen: «Ich bin nicht einsam. Langweilig war mir noch nie.»

Während der Pflege meines Vaters hatte das Spitex-Team auch meine Mutter kennengelernt und ihr nach seinem Tod vorgeschlagen, sie in der neuen Lebenssituation zu unterstützen. Ihre Alzheimerkrankheit hatte begonnen, sich zu zeigen. Die bald achtzigjährige Frau, die kaum je beim Arzt gewesen war, nur wenige Tage krank im Bett verbracht und keinerlei Ansprüche gestellt hatte, fand es freundlich, dass jemand zu Besuch kam und ihr zuhörte, nachdem sich wochenlang alles um ihren Mann gedreht hatte. Sie erzählte gern von ihren Reisen und meinte, es gebe noch vieles zu entdecken. Die regelmässigen Kontaktbesuche ermutigten sie. «Meine Spitex-Frau hat mich gelobt, ich würde mein Leben gut meistern», erzählte sie mir am Telefon freudig, ja stolz.

Tatsächlich ging sie täglich spazieren, achtete auf ihr Äusseres, auf farblich abgestimmte Kleider und frisch gewaschene Haare. Doch mit der Zeit drangen Abweichungen ihres Verhaltens nach aussen. Nachbarn meldeten mir, sie lasse nächtelang im ganzen Haus das Licht brennen. «Hör nicht auf das Geschwätz!», sagte sie unerwartet selbstbewusst. Gab sie früher viel darauf, was die Anderen denken könnten, so kümmerte sie sich jetzt nicht darum. «Ich lebe für mich, ich bin frei.» Als später das Verwirrtsein in ihren dunkelbraunen Augen lesbar wurde, wirkte sie einsam.

Dennoch, meine Mutter hätte nie etwas anderes gewählt, als weiterhin daheim zu leben. Es waren die verschobenen Vorgänge im Kopf, welche ihr die Autonomie nahmen. In den nächsten Monaten bildete sich ein Versorgungsnetz, um meine Betreuung und Hilfe zu erweitern. Die Spitex koordinierte den Mahlzeitendienst, die Haushaltshilfe und freiwillige Besucherinnen von Pro Senectute, die meiner Mutter Gesellschaft leisteten. Verwöhnt fühlte sich meine Mutter von der Podologin, die nicht nur ihre Füsse pflegte, sondern sich auch um orthopädische Schuheinlagen kümmerte. Das Gehen wurde trotzdem schwieriger, nicht der Füsse oder Beine wegen, sondern weil die Gehbewegungen im Kopf vergessen gingen. Manchmal stand sie unten an der Treppe zwischen Wohn- und Schlafräumen und fragte: «Wie komme ich dort hinauf?» Während ich vorausging und ihr die Schritte vorzeigte, hörte ich sie hinter mir, sich halblaut ermunternd: «Ich war schon immer eine gute Läuferin. Es braucht halt Übung.» – «Wir könnten in der Stube ein Schlafzimmer einrichten.» – «Nein.

Ich kann das. Oben ist die Aussicht vielversprechend. Du glaubst es nicht, aber ich schaue immer noch jeden Abend auf den See. Jedes Mal ist die Stimmung neu.» Auch gegen das Anbringen eines längst notwendigen Handlaufs wehrte sie sich vehement, das koste zu viel, zur Not rutsche sie auf dem Gesäss rauf und runter. Während Jahren wusste sich meine Mutter in den meisten, auch unerwarteten Situationen zu helfen und scheute keine Anstrengung, um ihr Bild der willensstarken, gesunden Frau zu wahren.

Lange zu Hause wohnen

Viele Menschen sind auf häusliche Pflege, Behandlung und Betreuung angewiesen. Die Mitarbeitenden der Spitex versuchen vor Ort herauszufinden, was eine sinnvolle Unterstützung beinhalten sollte. Oft stellen sie fest, dass Gespräche am wirksamsten sind. Wer gut umsorgt wird, fühlt sich besser, geht mit Beschwerden gelassener um und kann, falls nötig, mehr Hilfe annehmen. Aus Sicht der Fachleute liesse sich immer etwas optimieren, doch sie sind zurückhaltend und respektieren die Autonomie der Klientinnen und Klienten.

Das Zuhause ist immer ein persönlicher Ort. Keiner wie der andere, einmalig wie das hier stattfindende Leben, ausgeprägter im Alter, wenn die Bewegungen bedächtiger werden und den Radius verkleinern. Die selbst eingerichteten Räume und gewachsenen Gewohnheiten gehören zur eigenen Identität – genauso wie die Bezugspunkte draussen, die Birke vor dem Fenster, die vertraute Nachbarschaft, die Wege, die Läden oder das Café, wo man anderen begegnet. Wer wählen kann, wohnt bis ins hohe Alter und möglichst bis zum Lebensende daheim. Viele befürchten, in einem Spital oder Heim fremdbestimmt zu sein und buchstäblich den vertrauten, sicheren Boden unter den Füssen zu verlieren. Die Spitex nennt das Zuhause den «Ort der Würde».

Eine Studie,13 die auf Befragungen von über achtzigjährigen Spitex-Klientinnen und -Klienten beruht, besagt, dass ältere Menschen eine Bereitschaft zum Risiko zeigen, um wie gewohnt zu leben, selbst wenn sie geschwächt sind. Die Gefahr, zu stürzen, sich zu verletzen oder die eigenen Kräfte zu überfordern, zählt wenig gemessen am Wert der Autonomie und der Angst, nicht mehr sich selbst sein zu können. Lieber ein Risiko eingehen als die Würde aufgeben. In der erwähnten Studie wird von einem alten Mann berichtet, der darauf besteht, seine Kleider selbst zu waschen und zu bügeln, obwohl er unter Schmerzen leidet. Er schildert, wie er sich nach jedem gebügelten Hemd hinsetzen muss, um sich zu erholen. Niemand habe ihm gesagt, er müsse das tun, aber er wolle sich keinesfalls gehen lassen, um nicht so zu werden wie ein Kollege, der schmutzige Hemden trage. Auch wenn die täglichen Aktivitäten viel Energie kosten, bedeutet es Freiheit, sie selbst zu verrichten. Dafür entwickeln vor allem ältere, allein lebende Menschen überraschende Strategien und Tricks.

Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Älterwerden wird in der Schweiz wesentlich unterstützt durch unzählige neuere Wohnformen, beispielsweise Alterssiedlungen oder Mehrgenerationenhäuser, die sich durch eine hindernisfreie Architektur auszeichnen und wo gemeinschaftliche Aktivitäten und gegenseitige Unterstützung stattfinden oder sogar Betreuungs- und Pflegeangebote vorhanden sind.

Das reale Leben findet zu Hause statt, nicht im Heim

Die individuelle Unabhängigkeit zu respektieren und zu stärken, solange die Sicherheit der begleiteten Person nicht ernsthaft gefährdet wird, ist der Spitex ein grosses Anliegen und ein Grundsatz ihrer Arbeit. Wenn jemand seine Medikamente unbedingt selbstständig vorbereiten und einnehmen will, aber offensichtlich mit der Dosierung nicht klarkommt, bemühen sich die Pflegenden, dem Klienten zu erklären, weshalb Hilfe sinnvoll ist. Die betroffene Person zu überzeugen, gelingt am besten, wenn zu ihr bereits eine Beziehung besteht und sie weiss, wie bedeutsam die Spitex für das Leben in der vertrauten Wohnung ist.

Wie viel die Spitex, aber auch Angehörige, Freundinnen und Nachbarn anbieten oder gar übernehmen sollen, bleibt eine heikle Frage, wenn Menschen zwar beeinträchtigt, aber nicht im eigentlichen Sinn pflegebedürftig sind.14 «Wann sollen wir dazwischenfunken? Bei vielen Menschen könnte man einiges aufgleisen: Körperpflege, Haushaltshilfe, Mahlzeitendienst wären von aussen gesehen vielleicht angebracht, aber persönlich nicht erwünscht», stellt Regina Germann fest. «Wenn Leute zufrieden leben, wo sie seit ewig verwurzelt sind und sich trotz gesundheitlicher Einschränkungen gut arrangieren, dann müssen wir die Dinge einfach mal stehen lassen können.» Die diplomierte Pflegefachfrau arbeitet in einem Koordinationsteam der Spitex Zürich. Änderungspotenzial gebe es immer. Doch das Recht auf Selbstbestimmung gelte mehr. «Es kann in einem privaten Zuhause nicht nach unseren Vorstellungen ablaufen. Würden wir alles durchorganisieren und standardisieren, wäre es wie in einer Institution» – was der Aufgabe der Spitex, den Menschen ein gutes Leben in der selbst geschaffenen Umgebung zu ermöglichen, widersprechen würde.

Auszuloten, was jemanden entlasten oder aber überfordern könnte, ist für Regina Germann ein spannender und immer wieder lehrreicher Aspekt der Spitex-Arbeit. Indem sie die Menschen dort erlebe, wo sie sich aufgehoben und am sichersten fühlen, trete sie in ihr reales Leben ein und lerne ihre echten Bedürfnisse, Schwierigkeiten und Ressourcen kennen. Beim Zuhören und beim Beobachten der Gewohnheiten und der Risikobereitschaft lässt sich erkennen, was Würde für das Gegenüber bedeutet. «Von unzähligen Leuten habe ich wichtige Dinge mitgenommen, die ein selbstbestimmtes, gelungenes Leben kennzeichnen mögen.» Sie erzählt von einer Frau, die hundert Jahre alt wurde, viele ihrer Fähigkeiten verloren hatte, nicht aber ihre Lebensfreude. Auch wenn es umständlich, ja beschwerlich war, so ging sie immer noch regelmässig nach Pontresina in die Ferien. Die Bahnreise unternahm sie allein und sagte mehrmals: «Alles, was ich abgebe, kommt nie mehr zurück.» Wenn etwas nicht mehr möglich war, konnte sie es loslassen und sich stattdessen auf etwas anderes konzentrieren.

Der Respekt der individuellen Lebensweise gegenüber, so Regina Germann, stärke die Menschen, damit sie ihren Alltag meistern können. Die Besuche der Spitex sind für viele Menschen, die aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität oft zu Hause sind, der einzige regelmässige Bezug zur Aussenwelt. «Die meisten freuen sich, wenn sie mich sehen. Da wir viele Leute während Jahren begleiten, entstehen starke Beziehungen. Die meisten Klientinnen und Klienten habe ich gern.» Regina Germann spricht an, was für viele Pflegende zur Berufsethik gehört und zweifellos zum Wohl der Leute beiträgt, aber unter Zeitdruck verloren gehen kann: die Bezugspflege. Regina Germann erzählt von einer allein lebenden, älteren Frau, für die sie pflegerisch enorm viel überlegt, geplant, organisiert und ausgeführt hatte. Eines Tages habe die Frau zu ihr gesagt: «Ihr Besuch nützt mir mehr als all die Tabletten, die Sie mir bringen. Wenn ich einen Moment mit Ihnen reden kann, geht es mir nachher besser.» Das war ein Schlüsselerlebnis für Regina Germann. «Manchmal geht es mehr um Menschlichkeit, weniger um ausgeklügelte, wissenschaftlich begründete Pflege. Und ob diese Frau täglich geduscht und perfekt frisiert wird, ist zweitrangig.»

 

Spitex gehört zum Alltag von Einzelpersonen, Paaren und Familien

In vielen privaten Häusern und Wohnungen gehen Mitarbeitende der Spitex über Jahre mehrmals täglich ein und aus. Kinder, Jugendliche, jüngere und ältere Menschen mit einer chronischen Krankheit oder einer Behinderung können daheim leben, wenn die Spitex berät, pflegt, unterstützt. Sei es, weil eine querschnittgelähmte Frau allein lebt und Hilfe braucht für den Transfer zwischen Bett und Rollstuhl, oder weil Angehörige nicht alle Aufgaben übernehmen können und sollten. Manchmal ist es von Aussenstehenden schwer nachvollziehbar, wie jemand mit einem grossen Bedarf an Pflege zu Hause sein kann und vielleicht sogar die meiste Zeit allein verbringt. Besser verstehen lässt sich die Situation, wenn man diese Person und einige ihrer unverzichtbaren, persönlichen Gewohnheiten kennenlernt. Es entsteht eine individuelle Sicherheit durch die alltäglichen Rituale – mögen sie noch so klein sein wie beispielsweise ein Glas Tomatensaft und zimmerlaute Radiomusik zum späten Frühstück. Für viele Personen ist es unvorstellbar, sich in einer Institution, in einem grossen Haus mit identischen Räumen und fremden, nicht selbst gewählten Mitmenschen anpassen zu müssen.

Die Pflegepläne der Spitex sind individuell abgestimmt und werden veränderten Gegebenheiten angepasst. Gut möglich, dass es genügt, beim An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe und manchmal bei der Körperpflege zu helfen, oder jedes Mal vor dem Essen den Blutzucker zu messen und Insulin zu spritzen. Während dieser regelmässigen Einsätze der somatischen Spitex oder auch während sporadischer, sogenannter präventiver Kontaktbesuche zeigen sich im Gespräch und beim Beobachten, wie eine angemessene Unterstützung der Klienten und der Angehörigen einen Spital- oder Heimeintritt verhindern oder hinauszögern kann. Dank der in der Schweiz überall und für alle präsenten öffentlichen Spitex und deren Vernetzung mit weiteren ambulanten Angeboten gelingt es häufig, die Situationen daheim zu beruhigen. Auch sozial nicht integrierte Menschen, die aufgrund einer körperlichen oder seelischen Erkrankung von der Ärztin oder vom Arzt bei der Spitex angemeldet wurden, können so unterstützt werden. Regula Fehr, diplomierte Pflegefachfrau der Spitex Bassersdorf, erzählt: «Wir haben eine sechzigjährige Klientin, bei der wir beim ersten Besuch merkten, dass sie verwahrlost lebt. Sie ist krank, musste deswegen ins Spital und kam nach einer Operation zurück in ihre Wohnung – weil sie es unbedingt so wollte, auch wenn sie allein nicht zurechtkommt. Diese Frau kann wirklich nur dank der Spitex zu Hause sein.»

Für die erwähnte Klientin bildet die Spitex zusammen mit der kommunalen Fachstelle für Altersfragen und der Nachbarschaftshilfe eine stabile Versorgungskette für alle Lebensbereiche. «Wir gehen zwei Mal täglich zu ihr, üben mit ihr Treppensteigen oder helfen dort, wo es gerade notwendig ist», erklärt Regula Fehr. «Solche Fälle sind komplex, und auch diese Menschen wachsen einem ans Herz. Oft denke ich schon morgens bei der Fahrt zur Arbeit an diese Frau.» Regula Fehr schätzt es, Leute über eine längere Zeit begleiten zu können. «Es ist mir wichtig, etwas beizutragen, das tatsächlich hilft, damit Menschen nicht von zu Hause fortmüssen. Von klein auf wollte ich jenen etwas geben, denen es nicht so gut geht. Wenn Anerkennung und Dankbarkeit zurückkommen, freut es mich.»

Wenn das Blumengiessen schwerfällt

Manche Spitex-Basisorganisationen haben ein psychiatrisches oder ein psychosoziales Team für seelisch und sozial belastete Menschen, die manchmal akute Hilfe benötigen, meist jedoch eine langzeitige Begleitung. «Morgens aufzustehen, den Tag zu strukturieren und in eine Handlung zu kommen, ist gerade für schwer depressive Menschen ein grosses Problem», sagt Andrea Hilfiker. Die diplomierte Pflegefachfrau arbeitete lange in psychiatrischen Institutionen und leitet heute bei der Spitex Aarau das psychosoziale Team. Sie erzählt von einer Frau, die sie regelmässig für eine bis anderthalb Stunden besucht, um sie im Alltag zu unterstützen. «Sie hat einen wunderschönen Garten, schafft es aber nicht, hinauszugehen, obwohl sie sagt, es täte ihr gut. Wenn sie weiss, dass ich sie besuche, ist sie motiviert, aufzustehen und sich anzukleiden.» Sie tut dann zwar nichts weiter, als auf dem Sofa sitzend auf die Besucherin zu warten, doch mit ihr zusammen ist es möglich, den Garten zu giessen, Blumen zu schneiden, Unkraut zu jäten. «Indem ich sie in den Alltagsfertigkeiten unterstütze, kommt sie in eine Handlung. In unseren Gesprächen thematisieren wir immer wieder solch kleine, aber mögliche Schritte.»

Andrea Hilfiker sagt, es sei wichtig, die Leute zu Hause zu stützen und durch eine Krise begleiten zu können. Werden sie aus dem vertrauten Umfeld herausgerissen, verlieren sie den seelischen Halt erst recht. «Sie sollen erleben dürfen, dass sie es mit Unterstützung der Spitex und von Therapeutinnen und Therapeuten schaffen, die Krise durchzustehen, und zwar im privaten, wirklichen Leben. Wir übergeben ihnen viel Eigenverantwortung, deshalb braucht es eine vertrauensvolle Beziehung zwischen den Klientinnen, Klienten und uns. Die ambulante Betreuung ist vorwiegend Beziehungsarbeit, die Zeit, Fachwissen, Verständnis, Toleranz und viel Geduld braucht. Klar, manchmal ist der schützende Rahmen einer Institution notwendig, wenn jemand zum Beispiel suizidal ist, einen Drogenentzug machen muss oder eine krank machende Situation verlassen sollte.»

Oft sind es gerade die in einer psychiatrischen Klinik gemachten Erfahrungen, die den Willen stärken, alles daran zu setzen, um nicht wieder eingewiesen zu werden. Die Spitex zu akzeptieren, gehört dazu. «Es gibt Menschen, bei denen es extrem lange dauert, bis eine tragende Beziehung aufgebaut ist. Andere sitzen da wie ein offenes Buch. Beides ist gut. Von der somatischen Pflege sind wir uns gewohnt, dass sich etwas verbessern muss. In der psychosozialen Pflege lässt sich nicht immer etwas bewegen, manchmal geht es einzig darum, den Ist-Zustand aufrechtzuerhalten.» Und vielleicht kann ein jüngerer Mann, der unter Schizophrenie leidet, ermutigt werden, wieder Kontakt zu einem Kollegen aufzunehmen. Die Krankenkasse davon zu überzeugen, dass solche Spitex-Einsätze sehr wohl wirksam sind, wenn auch subtil, kann schwierig sein. Obwohl die Begründung der Pflegefachfrau eigentlich nachvollziehbar ist: «Wir haben erreicht, dass dieser Mann, bei dem Schizophrenie diagnostiziert wurde, seit über drei Jahren nicht mehr in der Klinik war und sich wohnlich eingerichtet hat. Was ebenfalls zu bedenken ist: Ein Klinikaufenthalt kostet x-mal mehr als unsere Arbeit.»

Angehörige zu Hause pflegen, um Geld zu sparen

Die drohenden Kosten für einen Platz in einer Institution sind insbesondere für ältere Menschen und ihre Angehörigen ein Grund, möglichst lange daheim zu wohnen. Es ist selbstverständlich nicht der einzige Grund, aber doch einer, der mehr oder weniger ausgesprochen mitzählt. Wenn Herr Bänziger seine von Demenz betroffene Frau jahrelang pflegt und betreut, will er für sie sorgen, mit ihr zusammenbleiben und sie vor dem Heimleben bewahren. Er möchte aber auch selbst weiterhin in dem schönen Haus wohnen, das er von seinen Eltern geerbt hatte und wo seine eigenen Kinder gross geworden sind. Mit dem Begleichen der hohen Heimrechnungen seiner Frau würde sein Vermögen dahinschmelzen, und er wäre bald einmal gezwungen, das Haus zu verkaufen. In Pflegeheimen übernehmen Krankenversicherungen, Wohngemeinde oder -kanton nur einen Teil der Pflegekosten, die übrigen Kosten für die Pflege sowie die Betreuungs- und Pensionskosten müssen die Privatpersonen grundsätzlich selbst tragen.15 Heute hat Herr Bänziger bedeutend weniger Ausgaben mit seiner eigenen Betreuungsarbeit, mit der Hilfe seiner Töchter und Söhne und den täglichen Spitex-Einsätzen. Er kann sich sogar überlegen, sich weiter zu entlasten und für einzelne Tage eine private Betreuerin zu engagieren, deren Arbeit er allerdings selbst bezahlen müsste.

Im Gegensatz zur Pflege16 wird die ambulante sowie stationäre Betreuung nicht von den Krankenkassen und der öffentlichen Hand mitfinanziert (siehe Kapitel «Die Spitex»). Es gibt in der Schweiz zwar vereinzelte Gemeinden, die Angehörige finanziell entschädigen, wenn sie alte Menschen betreuen. Doch dieser Beitrag ist eher bescheiden und erfordert einen administrativen Aufwand, der manche abschreckt, ein Gesuch zu stellen. Einfacher ist es für die Angehörigen, wenn die lokalen Spitex-Organisationen neue Wege gehen, um Betreuungsleistungen, welche über die ärztlich verordnete Hilfe und Pflege hinausreichen, kostenlos anbieten zu können – beispielsweise dank der Finanzierung durch Spenden.

Eine gemeinnützige, ambulante Betreuungsstruktur, wie sie die Spitex für die Pflege gewährleistet, fehlt in der Schweiz. Heute kommt es vor, dass Menschen, die zwar Betreuung bräuchten, aber keine eigentliche Pflege, ihr Zuhause verlassen und zu früh in ein Heim ziehen müssen: Laut Statistik der sozialmedizinischen Institutionen weist ein Viertel der Pflegeheimbewohnerinnen und Pflegeheimbewohner einen nur geringen Pflegebedarf auf, wobei dieser Anteil in einigen Kantonen niedriger und in anderen weitaus höher ist.17 Erklärbar sind diese Unterschiede mit den regionalen Kapazitäten der Spitex und anderer ambulanter Dienste, mit deren Bekanntheitsgrad und der gesundheitspolitischen Haltung. Im Kanton Basel-Stadt zum Beispiel erfolgt die Anmeldung in ein Heim erst nach der obligatorischen Bedarfsabklärung durch eine Pflegeberaterin, die prüft, ob alle ambulanten Möglichkeiten an Pflege und Betreuung ausgeschöpft wurden.

Eine umfassende Betreuung stärkt nicht nur die Eigenständigkeit, sondern auch die Gesundheit: Wer gut umsorgt wird, fühlt sich besser, bleibt länger aktiv und braucht weniger Pflege. Für die Mitarbeitenden der Spitex ist es selbstverständlich, sich umfassend um ihre Klientinnen und Klienten zu kümmern und die erforderlichen Prioritäten zu setzen. «Erfahrene Pflegepersonen bewegen sich auf der Expertenebene, können innerhalb der Vorgaben und Standards variieren und wissen auch, dies zu begründen», sagt Max Moor, Geschäftsleiter des Spitex Verbands Aargau, und erwähnt ein alltägliches Beispiel: Die Pflegefachfrau kommt für die Körperpflege zu einer Frau, deren Beweglichkeit aufgrund ihres Rheumas eingeschränkt ist. Bei der Begrüssung merkt die Pflegefachfrau, dass es der Klientin allein um das Gespräch geht und entscheidet sich in eigener Verantwortung für das, was heute wichtiger ist. «Nur wenn wir diese Handlungsräume sinnvoll gestalten, können wir tatsächlich und wirtschaftlich effizient dazu beitragen, dass kranke und alte Menschen in ihrem Zuhause bleiben können.»

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