Puzzeln mit Ananas

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Vielerorts sind die Verantwortlichen der Spitex-Betriebe gefordert, innerhalb des Leistungsrahmens so gut wie möglich die steigende Nachfrage zu decken und sich zugleich für die Erweiterung der Leistungsaufträge zu engagieren. Besonders im Bereich der ambulanten Betreuung, die immer mehr Menschen benötigen. Viele alte Menschen sind nicht auf Pflege angewiesen, sondern auf Betreuung und Unterstützung im Alltag. Mehr als die Hälfte aller Spitex-Klientinnen und -Klienten sind zurzeit über achtzig Jahre alt. Doch der Anteil jener, die Pflegeleistungen beanspruchen, hat in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen – andere Formen der Unterstützung sind gefragter.

Gute Betreuung bedeutet würdevolles Altern

Wer Pflege erhält, wird oft auch betreut – für die Spitex-Mitarbeitenden eine Selbstverständlichkeit und einer der Gründe, weshalb sie ihren Beruf gewählt haben. Die Krankenkassen trennen aber die Pflege von der Betreuung, obwohl die Übergänge gerade bei Menschen mit einer Demenzerkrankung fliessend sind. Die explizite Betreuung ist keine verrechenbare Leistung. Franziska Ryser beschreibt eine alltägliche Situation: Laut Pflegeplanung für eine Frau, die manchmal verwirrt und desorientiert ist, geht es heute darum, sie beim Duschen zu unterstützen. Das will sie aber nicht und besteht darauf, mit der Pflegenden ein Fotoalbum anzuschauen und von Reisen mit ihrem verstorbenen Mann zu erzählen. Die Pflegende verbringt mit der Klientin eine wertvolle Betreuungszeit. Damit sie vergütet wird, trägt sie die Leistung als Grundpflege ein. «Wir werden immer wieder damit konfrontiert, dass die Krankenversicherer sich weigern, eine von uns begründete Leistung zu übernehmen, die sie als nicht kassenpflichtig einstufen», sagt Franziska Ryser. «Gerade mit Demenzbetroffenen sowie in psychiatrischen und onkologischen Situationen ist die Betreuung ein wichtiger Teil unserer Leistungen.»

Die erhöhte Lebenserwartung führt nach heutigem Wissensstand nicht zu längeren Phasen der Pflegebedürftigkeit. Aber es wird erwartet, dass es lange Phasen gibt, in denen der alte Mensch auf Unterstützung und Betreuung angewiesen ist.9 Vielleicht ist es morgens und abends notwendig, dass eine Pflegeperson hilft, die Stützstrümpfe an- und auszuziehen, doch tagsüber geht es in erster Linie um die Alltagsgestaltung mit sozialen Kontakten, Zuwendung, häuslichen Aktivitäten, Naturerlebnissen, mit sinnstiftenden Beschäftigungen. Dies sind nur einige wichtige Aspekte, welche die Betreuung umfassen sollte und die schon mit kleinen Gesten der Aufmerksamkeit beginnt. Familienangehörige leisten hier enorm viel, sind aber häufig ausgelastet. Eine privat bezahlte professionelle Betreuung können sich die meisten Menschen nicht leisten, weshalb viele zu früh und entgegen ihrem Wunsch in ein Alters- oder Pflegeheim ziehen müssen. Gute Betreuung bedeutet würdevolles Altern.10

Für Franziska Ryser und viele ihrer Kolleginnen und Kollegen ist klar, dass in der Betreuung ein grosses Potenzial für die Spitex-Betriebe liegt, die vielerorts schon jetzt innovative Wege gehen und sich selbst um die Finanzierung von Angeboten kümmern, welche nicht im Leistungsvertrag aufgeführt sind. Franziska Ryser sagt: «Wir schaffen Betreuungsangebote, die unverzichtbar werden, und irgendwann ist die Zeit hoffentlich reif und die Politikerinnen und Politiker beschliessen, die Leistungen zu finanzieren.»

Die Spitex in Huttwil betreibt eine Tagesstätte, um Menschen, die während der übrigen Zeit von Angehörigen umsorgt werden, stundenweise professionell betreuen zu können. In der Tagesstätte arbeitet eine Fachfrau Betreuung, deren Beruf bei der Spitex noch selten zu finden ist. Franziska Ryser verdeutlicht mit ihrer Personalpolitik, wie wichtig qualifizierte Betreuungsarbeit ist. Die Geschäftsleiterin hat neben den Pflegepersonen und den hauswirtschaftlichen Mitarbeiterinnen auch zwei Sozialpädagoginnen für Klientinnen und Klienten, die psychiatrische Unterstützung benötigen, angestellt. Die Leistungen der Nichtpflegenden lassen sich bei den Krankenkassen über die Grundpflege abrechnen, weil sie eine pflegerische Ausbildung mitbringen. Nach Möglichkeiten, Betreuungsangebote zu schaffen oder bestehende zu erweitern, suchen in der Schweiz auch andere Spitex-Basisorganisationen.11

Wer arbeitet bei der Spitex?

Alle Frauen und Männer der Spitex benötigen neben ihrer grossen fachlichen Kompetenz eine ausgeprägte Begabung für den Umgang mit den vielen Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen. Bei der öffentlichen Spitex arbeiten vorwiegend diplomierte Pflegefachleute, Pflegehelferinnen, Fachangestellte Gesundheit sowie Haushelferinnen. Hinzu kommen die Fachleute in den Bereichen Betriebsleitung und Administration sowie viele Menschen, die eine Ausbildung oder ein Praktikum absolvieren. Bei einer Zunahme der Betreuungsangebote dürften Fachangestellte Betreuung und sozialpädagogisch qualifizierte Personen vermehrt in den Spitex-Teams zu finden sein.

Pflegende und hauswirtschaftliche Mitarbeiterinnen der Spitex sprechen vielfach von einem sozialen Beruf: Sie werden zu wichtigen Vertrauenspersonen, indem sie die Klientinnen und Klienten in der eigenen Umgebung kennenlernen, viel über ihr Leben und ihre Gewohnheiten erfahren, ihnen nahekommen und sie über eine längere Zeit begleiten. Die sozialen Aspekte machen den Beruf nicht weniger anspruchsvoll, sie bereichern ihn aber mit berührenden Begegnungen und Momenten, von denen die Menschen der Spitex oft erzählen.

Ruth Meyer


Diplomierte Pflegefachfrau HF, Spitex Thal (SO)


Von Weitem ist zu sehen, wo die Frühschicht begonnen hat. Hinter der nachtgrünen Wiese, im dritten Stock des höchsten Gebäudes, leuchtet ein Fensterband. Mitarbeiterinnen der Spitex Thal, einem Amtsbezirk des Kantons Solothurn, stimmen sich auf den Tag und ihre Touren ein. Das Wort «synchronisieren» ist da und dort zu vernehmen, inmitten der Begrüssungen und des munteren Austauschs von Erlebtem und Neuigkeiten. Die Daten von Computer und Tablet werden abgeglichen, unzählige elektronische Informationen müssen à jour sein, vor allem diejenigen der individuellen Pflegeplanung für die Klientinnen und Klienten. Ruth Meyer öffnet auf dem Tablet, ihrem ständigen Begleiter, die Morgentour und sieht, woran sie unbedingt denken muss: Sie hakt den Hausschlüssel von Frau Tobler12 an den Karabiner ihres Rucksacks und holt für Herrn Lanker die gefüllte Medikamentenbox aus dem Schrank. Alles weitere Material ist bereits vor Ort – würde unterwegs etwas fehlen, könnte es die Pflegefachfrau nicht einfach schnell im Büro holen gehen.

Im Tal zwischen den Höhenzügen des Solothurner Juras wohnen manche Menschen, die vorübergehend oder für unbestimmte Zeit auf Unterstützung angewiesen sind, weit auseinander. Die Region heisst Thal, ausgehend von Balsthal, dem Bezirkshauptort und Spitex-Stützpunkt. Der Leistungsauftrag für die ambulante Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner besteht für Balsthal und acht weitere Gemeinden: Aedermannsdorf, Gänsbrunnen, Herbetswil, Holderbank, Laupersdorf, Matzendorf, Mümliswil-Ramiswil und Welschenrohr. Bis zum kleinen Gänsbrunnen, das zuhinterst im Tal, auf der Nordseite des Weissensteinpasses liegt, sind es vom Spitex-Büro aus vierzig Autominuten.

Über dem Taleingang färbt sich der Himmel blaurot, als Ruth Meyer in ihr Auto steigt und zu Frau Tobler, der ersten Klientin, fährt. Sie ist um diese Uhrzeit bestimmt schon wach, kann jedoch nur mit Hilfe aufstehen, zu kraftlos sind ihre Beine. Anna Tobler ist 97 Jahre alt. Dank ambulanter Pflege lebte sie allein in Bern, bis ihre Tochter sie vor zehn Tagen zu sich holte und die Spitex Thal um Unterstützung für ihren Feriengast bat. Vorübergehend. Wie lange dieser Übergang dauern mag und wohin er führt, ist ungewiss. Zurück in die eigene Wohnung oder in ein Heim?

Ruth Meyer begleitet kranke und geschwächte Menschen, die sich aufgrund einer Veränderung neu orientieren müssen. Sie gehört zum spezialisierten, kleinen Übergangsteam, das gebildet wurde, weil einerseits die Spitäler die Aufenthaltszeiten verkürzen und andererseits die Patientinnen und Patienten möglichst bald nach Hause möchten. «Das sind Wechselwirkungen», stellt Ruth Meyer fest. «Die Spitäler entlassen Patienten nur deshalb frühzeitig, weil sie wissen, dass die Spitex die erforderliche Behandlung und Pflege weiterführt. Und wer selbst nach Hause drängt, kann nur gehen, wenn der nahtlose Wechsel zur ambulanten Pflege gewährleistet ist. Solche Überweisungen sind relativ häufig.» Im Übergangsteam arbeiten erfahrene diplomierte Pflegefachfrauen, «die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, wenn es viele Neuanmeldungen hereinschneit». Das bedeutet: Am Morgen meldet das Spital oder ein Hausarzt manchmal mehrere Personen an, die an diesem Tag entlassen werden und bereits am Nachmittag oder am nächsten Tag von der Spitex besucht werden sollen, zum Beispiel, weil die Wunde nach einer Operation versorgt werden muss. Ruth Meyer lernt tagtäglich neue Klientinnen und Klienten kennen. Sie informiert sich im elektronischen Dossier über die Krankheitsgeschichte und die ärztlichen Verordnungen, erfährt Wesentliches jedoch erst vor Ort im persönlichen Gespräch: Was braucht es von der Spitex, damit das Alltagsleben trotz Einschränkungen gut gelingt? Wenn eine jüngere Frau nach einem Unfall die Schulter operieren lassen musste, erfährt Ruth Meyer im Abklärungsgespräch möglicherweise, dass die Klientin mit den Medikamenten problemlos zurechtkommt, für den Haushalt zwei hilfsbereite Nachbarinnen hat, die Spitex jedoch für die Körperpflege und das Lösen und Fixieren der Bandage benötigt. In dieser gut überschaubaren Situation entscheidet Ruth Meyer, die neue Klientin dem Pflegeteam zuzuteilen. Die nun folgenden, regelmässigen Einsätze können ohne Weiteres auch von Pflegehelferinnen oder Fachfrauen Gesundheit geleistet werden.

 

Frau Tobler hingegen wird in den ersten zwei Wochen morgens und abends von den diplomierten Pflegefachfrauen des Übergangsteams besucht, da sich jederzeit etwas verändern könnte und weil sie wenige, vertraute Menschen um sich haben sollte. «Für Demenzbetroffene finde ich das besonders wichtig», sagt Ruth Meyer. «Bei meinen ersten Besuchen wirkte die Klientin stark dement und verwirrt. Frau Tobler behauptete, am Bodensee zu sein und hart arbeiten zu müssen. Sie war missmutig und klagte viel. Es war wohl der Ortswechsel, der ihr zu schaffen gemacht hatte und eine Krise auslöste. Nun ist sie entspannter.» Ruth Meyer parkt vor dem Einfamilienhaus und startet auf dem Tablet die Einsatzzeit für Frau Tobler. «Nicht klingeln, eintreten, sich bemerkbar machen!» ist unter ihrem Namen speziell vermerkt. Vorgesehen sind fünfzig Minuten für die in der Pflegeplanung aufgeführten Leistungen: Ganzkörperpflege, Kompressionsverband, Hilfe beim Gehen vom Bett zum Rollstuhl, Verabreichung der Medikamente inklusive Inhalationstherapie. Wird Ruth Meyer ständig auf die Uhr schauen, um sich an die vorgegebene Zeit für die Pflegeschritte zu halten? «Ein Stück weit habe ich die Zeit im Gefühl, das mir sagt, wann ich bei der nächsten Klientin sein sollte. Doch wenn ich mal länger brauche, ist es begründet. Mit dieser Einstellung beginne ich jeden Einsatz.» Sollte sie mehrere Minuten verspätet sein, gäbe sie telefonisch Bescheid am nächsten Ort.

Anna Tobler liegt auf dem Rücken unter der Federdecke und hebt leicht den Kopf vom Kissen, als sie Ruth Meyers Stimme hört. «Ich bin schon lange wach. Die Sonne ist hinter der Haustüre, wo s’Liechtli brennt.» Im Zimmer ist die Schlafwärme zu spüren. Während Ruth Meyer die Hände desinfiziert und sich im engen Raum für die Arbeit einrichtet, unterhält sie sich mit der Frau.

«Nein, es tut mir nichts weh. Bin halt nicht wehleidig.»

«Das habe ich gemerkt, Frau Tobler.»

«Man muss lachen können. Es gibt sicher Patienten, die heulen. Warum? Sie sind ja hier, um mir zu helfen. Also muss ich es annehmen und das Möglichste daraus machen.»

«Das ist wunderbar», sagt Ruth Meyer.

«Dann bin ich das Wunder, und Sie sind bar», kommt es von Anna Tobler umgehend zurück.

«Eine schöne Antwort. So passt alles zusammen.»

Was die Pflegefachfrau tut, sagt sie vorher der Klientin. «Zuerst leere ich das Säckli. Sie können noch in der Wärme bleiben.» Frau Toblers Blase arbeitet nicht mehr selbstständig, weshalb sie einen Dauerkatheter braucht und morgens der Urinbeutel geleert wird. Als Ruth Meyer ins Badezimmer geht, wird sie von Anna Toblers Tochter angesprochen: «Wie steht es in Ihren Notizen wegen der Frotteewäsche? Sind die gelben Tücher für oben und die blauen für unten oder andersrum? Ach, spielt eigentlich keine Rolle, ich wasche sowieso häufig.» Geduldig erklärt Ruth Meyer, wohl nicht zum ersten Mal, sie verwende die helleren Farben für das Gesicht und den Oberkörper. Beginnen werde sie nun mit Dunkelblau. Sie legt das Frotteetuch über den linken Arm, lässt lauwarmes Wasser in ein Plastikbecken, legt einen dunkelblauen Lappen hinein und geht damit zu Frau Tobler ans Bett. «Ich bringe das Wasser, um Sie zu waschen, aber zuerst binde ich Ihre Beine ein. Dafür nehme ich Ihnen etwas von der Wärme.» Die Pflegefachfrau kniet sich am Fussende hin, schiebt das Duvet leicht zurück, greift blindlings nach rechts, wo sie zuvor die Körperlotion platziert hatte. «Ich massiere Ihnen die Füsse, die sollen Sie heute tragen.» Heute ist ein guter Tag. Die Wolken am Ferienort von Frau Tobler haben sich verzogen, ihre Stimme ist kräftig: «Ich mache alles mit, Sie müssen auch eine Freude haben.»

Nach der Fussmassage erhält sie einen Kompressionsverband, um den Kreislauf und die Gehkraft zu stärken. «Damit Ihnen nicht sturm wird, wenn Sie aufsitzen.» Von den Zehenwurzeln bis unter die Knie legt Ruth Meyer den Verband, nicht zu locker, nicht zu satt, mit routinierten Kreisbewegungen, die in ihrer Sorgsamkeit einmalig wirken. Anna Tobler macht wie versprochen mit, hebt das linke, dann das rechte Bein.

«Damit es ringer geht für Sie. Die Beine kann ich lange in der Luft halten. Ich übe im Bett halt immer.»

«Sie machen das gut. Können Sie die Zehen gut bewegen, drückt es nirgends?»

«Von hier oben aus gesehen, geht es gut.»


Zum Schluss stülpt die Pflegefachfrau erst dünne, beige Kompressionssocken, dann weiche, bunte Wollsocken über die Zehen. So wie es Frau Tobler seit Langem gewohnt ist. «Wichtig ist, jedes Mödeli der Leute zu kennen und beizubehalten», sagt Ruth Meyer. Deshalb berücksichtigt sie auch praktische Ideen von Angehörigen: Um den Kunststoffschlauch des Katheters wickelt die Tochter jeweils ein Leinentüchlein, das Frau Toblers empfindliche Haut schützen soll. Die Pflegefachfrau tut dies nun genauso. Sie hat blaue Einweghandschuhe angezogen und kontrolliert die heikle Eintrittsstelle des Katheters, bevor sie mit der Intimpflege beginnt.

«Ist die Wassertemperatur so recht?»

«Ja, ja, ich bin nicht heikel.»

«Das weiss ich, Frau Tobler. Nun gebe ich Ihnen ein Schüpfli, damit Sie sich auf die Seite drehen und ich das Gesäss waschen kann.»

«Manches möchte ich lieber nicht haben, aber ich reklamiere nicht. Wenn es ganz unangenehm wäre, würde ich es sagen.»

«Frau Tobler, Sie dürfen jederzeit sagen, wenn Sie etwas stört. Ich bin auch nicht heikel.»

«Das merke ich mir.»

Ruth Meyer denkt bereits weiter. Links, leicht oberhalb des Gesässes, hat die Klientin eine Druckstelle, die nicht wund oder gar entzündet werden darf. Um die Stelle zu kontrollieren, dreht sie Frau Tobler auf den Rücken zurück, umrundet das Bett und dreht sie nun auf die andere Seite.

«Das sieht besser aus, auftragen muss ich nichts. Aber diese Stelle müssen wir im Auge behalten.»

«So, so, ich sehe halt nicht um die Ecke.»

«Ich massiere das Gewebe um die gerötete Stelle. Das regt die heilende Durchblutung an.»

«Wovon kommt das denn?»

«Vom Druck. Sie liegen im Bett oft auf dem Rücken und sitzen im Rollstuhl darauf.»

«Aha. Und dann bin ich noch difficile.»

«Auf Druck reagieren wir alle empfindlich.»

Ruth Meyer zieht der liegenden Klientin eine weiche, bequeme Hose an, prüft, ob die Nähte nirgends drücken und bittet Frau Tobler, sich aufzurichten. Das geht heute gut, ohne Hilfe, genauso wie die drei kleinen Schritte bis zum Rollstuhl. «Mir ist nicht sturm, ich bin stark, habe schwer gelebt.» Der Rollstuhl passt knapp durch die Türöffnung des Badezimmers und vor das Lavabo.

«Für das Waschen von Gesicht und Oberkörper habe ich hier das Wasser schon bereit gemacht.»

«Bin ich sehr dreckig?»

«Ich glaube nicht», lacht Ruth Meyer und gibt der sitzenden Frau den feuchten, gelben Waschlappen in die rechte Hand. Anna Tobler schliesst die Augen und fährt sich langsam über das Gesicht. «Das ist schön. Wie wenn mich jemand streicheln würde.» Dann zeigt sie, wie gut sie heute den rechten Arm heben kann, der sie lange Zeit schmerzte. «Ich übe halt immer, und die Hand geht noch gut, das ist die Hauptsache.»

«Sie können noch viel machen, das ist wahr. Wenn Sie sich jetzt nach vorne beugen, wasche ich den Rücken.» Nach dem Abtrocknen reibt die Pflegefachfrau Kampfersalbe ein, weil das Anna Tobler ganz besonders mag.

«Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so verwöhnt worden.»

Während die munter gelaunte Frau in der Küche mit dem Inhalationsgerät ein- und ausatmet, räumt Ruth Meyer in Schlaf- und Badezimmer auf, lässt frische Luft herein und hört aus der Küche: «Das ist nur ein Spiel. Ich bin mich anderes gewohnt, weiss, was schwer arbeiten heisst.» Die Tochter hat die zahlreichen Medikamente auf einen Teller gelegt, und Frau Tobler schluckt sie blitzschnell mit Wasser. Ruth Meyer bringt die gereinigte Brille von Anna Tobler und überrascht damit die Tochter.

«Sie putzen sogar die Brille meiner Mutter? Kürzlich sagte ich zu ihr: Merkwürdig, deine Brille wird nie schmutzig.»

«Das gehört bei mir dazu. Ich sorge für einen klaren Blick.»


Frau Tobler blickt auf ihre Hände:

«Da sehen Sie, wie alt ich bin.»

«Genau, das sind Ihre Lebensspuren. Jetzt muss ich weiter.»

«Schade.»

«Ich komme morgen Früh wieder. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Adieu.»

Ruth Meyer bestätigt auf ihrem Tablet alle aufgelisteten Pflegeschritte, tippt eine Notiz zum Schmerzpflaster am Oberarm, das sie heute entfernt hat, und stoppt den Einsatz. Nach fünfzig Minuten. Erstaunlich, dass nicht mehr Zeit verstrichen ist während der vielen Handlungen, den Zwiegesprächen und ruhigen Zuwendungen. Während all dem, was die betagte Frau erhalten und was zur Entlastung der Tochter beigetragen hat. «Die Tochter hat eine schwierige Aufgabe übernommen», sagt Ruth Meyer. «Ich weiss nicht, wie lange sie das tragen kann. Demnächst findet wieder ein Standortgespräch statt. Im Übergangsteam haben wir den Vorteil, beweglich auf Veränderungen reagieren zu können.» Die Kolleginnen der anderen Pflegeteams haben ihre festen Touren – in der Region Thal sind es täglich 35 –, die Einsätze der Fachfrauen des Übergangsteams variieren aber. «Manchmal ist es anstrengend und die Tage können sehr lang sein.» Ruth Meyer ist für ein Pensum von achtzig Prozent angestellt. «Ich bin flexibel und setze laufend Prioritäten. Mein Pensum ist erreicht, wenn die Arbeit fertig ist. Für mich stimmt es so, aber wir dürfen das nicht allen Mitarbeitenden zumuten.»

Ruth Meyer ist Mutter von fünf nun erwachsenen Kindern und bewirtschaftete bis vor Kurzem mit ihrem Mann einen Bauernhof mit zwanzig Milchkühen und Kälbern, welche sie für die Aufzucht behielten. Den Hof führt heute ein Neffe weiter. Ruth Meyer lebt mit ihrem Mann und drei Kindern, die noch in Ausbildung sind, im Stöckli oberhalb des Hofs. «Nun bin ich Bienenfrau.» Sie imkert und hat eine Hühnerschar, ihr Mann hilft auf dem Hof aus. Als Mutter und Bäuerin gehörte es dazu, sich mit Unerwartetem anzufreunden und den Lebensstufen zu folgen – wie sie es schon von ihrem Beruf her kannte, den sie jung gewählt und an der Schule für Gemeindekrankenpflege in Sarnen erlernt hatte. «Die ambulante Pflege hat mich stärker begeistert als die stationäre. Weshalb, weiss ich eigentlich nicht, ich habe oft aus dem Bauch heraus entschieden.» Schule und Praktika auf verschiedenen medizinischen Gebieten wechselten sich ab, 1986 kam Ruth Meyer nach Balsthal als Praktikantin für Gemeindekrankenpflege, die damals der katholischen Kirche unterstellt war.

Nach der Diplomierung folgte das Pflichtjahr als Angestellte einer Gemeinde. Ruth Meyer wählte Wildhaus im Obertoggenburg und wusste wohl nicht, was auf sie zukommen würde, als einzige Krankenschwester für das weite Gebiet zwischen Säntis und Churfirsten. Sie arbeitete von zu Hause, holte das Pflegematerial bei den Landärzten, fuhr mit dem Auto und bei Schnee auf Skiern zu abgelegenen Häusern und Höfen. «Ich musste zu jeder Tages- und Nachtzeit los, vor allem wenn Menschen daheim starben, oder bei schweren Lawinen- oder Pistenunfällen. Dann musste ich beim Bergen helfen, und falls es Tote gab, sie für die Gerichtsmediziner vorbereiten. Wenn Menschen zu Hause verstorben waren, wurden sie jeweils von der Gemeindeschwester angekleidet – auch jene, die zuvor keine Pflege erhalten hatten. «Wir hatten das in der Schule gelernt. Heute tun wir es nur, wenn wir jemanden vorher gepflegt haben. Ansonsten sind jetzt die Bestattungsbeamten zuständig.»

Damals in Wildhaus war Ruth Meyer erst 21 Jahre alt. Wie kam sie damit zurecht, unbekannte, tote Menschen zu berühren? «Das Lebensende hat für mich schon immer auf positive Weise dazugehört.» Sie wuchs in einem Mehrgenerationenhaus auf, in einem kleinen Thurgauer Dorf. Die Grosseltern starben daheim, die Grossmutter war lange krank gewesen. «Früher sagte man bettlägerig. Sie wurde während Jahren von uns, vorwiegend von meiner Mutter, gepflegt. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, es sei eine Belastung für sie. Vielleicht entschied ich mich deshalb für den Pflegeberuf.»

 

Wenn Ruth Meyer ihre Arbeit von vor dreissig Jahren mit heute vergleicht, stellt sie fest, dass die Leute damals weniger früh Pflege erhielten. «Und wenn sie Hilfe brauchten, waren sie ganz einfach dankbar, dass wir kamen, selbst wenn ich in Wildhaus oft erst am Nachmittag die Zeit fand, eine abseits wohnende Frau zu besuchen, um sie zu waschen. Das ist heute ganz anders. Besonders Leute, die nicht täglich die Spitex brauchen, äussern ihre Ansprüche. Ein Paradebeispiel: Sie wollen exakt um Viertel nach sieben geduscht werden, weil sie den Tag verplant haben, und begreifen nicht, dass wir frühmorgens zu jenen gehen, die ohne uns nicht aufstehen können.» Auch viele Diabetikerinnen und Diabetiker, die nicht selbstständig Insulin spritzen können, erwarten die Spitex: Sie dürfen erst frühstücken, nachdem die Pflegenden den Blutzucker gemessen und das korrekt dosierte Insulin verabreicht haben.


Frau Tobler sitzt inzwischen mit der Tochter beim Frühstück, und die Pflegefachfrau ist im nächsten Dorf angelangt, wo sie bei Frau Baumgartner klingelt. Deren Betreuerin öffnet und bittet sie, eine Viertelstunde zu warten, bis die Klientin fertig geduscht sei. Ruth Meyer bleibt freundlich und beschliesst, nachher direkt mit Frau Baumgartner über das verabredete Zeitfenster zu sprechen. Die sechzigjährige Geschäftsfrau erhielt vor einigen Monaten eine Krebsdiagnose, hat mehrere Spitalaufenthalte hinter sich, wird vom Onkologen und vom Übergangsteam der Spitex eng begleitet, möchte weiterhin im eigenen Haus bleiben, kann aber nicht mehr allein leben. An manchen Tagen fühlt sie sich beim Gehen selbst mit dem Rollator unsicher. Um in dieser veränderten Situation eine gute Lösung zu finden, organisierte Ruth Meyer ein Familiengespräch mit der Klientin und ihren beiden fürsorglichen Söhnen. Die Spitex-Einsätze und die Besuche der Söhne liessen sich intensivieren, doch es genügte nicht: Falls Frau Baumgartner stürzen sollte, wäre in diesem Moment wahrscheinlich niemand bei ihr. Die Söhne wandten sich an eine Vermittlungsstelle für Care-Migrantinnen, da Frau Baumgartner eine offene, kommunikative Persönlichkeit ist und über gute finanzielle sowie räumliche Voraussetzungen verfügt, damit jemand rund um die Uhr für sie da sein kann. Kürzlich traf die jetzige Betreuerin aus Kroatien ein.

Die Spitex kommt zurzeit zwei Mal wöchentlich für die vereinbarten Aufträge. «Was dazwischen geschieht, zählt zur Autonomie der Klientin», sagt Ruth Meyer. Beim heutigen Besuch misst sie den Blutdruck, bereitet die Medikamente für die nächste Woche vor und versorgt zwei offene Wunden, die bei Stolperstürzen entstanden sind. Frau Baumgartner sitzt seitlich am Küchentisch, mit dem rechten Bein auf dem Sitzbrett des Rollators.

«So müssen Sie sich nicht bücken, Frau Meyer. Haben Sie gesehen, es blutet!»

«Das ist gut, Frau Baumgartner. Damit das Wundsekret herauskommt, feuchte ich nochmals die Gaze an.» Dann massiert sie mit drei Fingern das Gewebe rund um die Verletzungen herum.

«Wie geht es Ihnen mit den neuen Tabletten?»

«Ich spüre gar keine Nebenwirkungen.»

«Da bin ich erleichtert. Ich dachte, hoffentlich meinen Sie nicht, es aushalten zu müssen, falls Ihnen übel wird. Dagegen hätten Sie ja Medikamente.»

«Die brauchte ich nicht.»

Aus dem antiken Bauernschrank holt Ruth Meyer die Plastikkiste mit den Medikamenten und stellt sie auf den Tisch. Auf ihren Schoss legt sie das Tablet, nimmt aus der ersten Schachtel eine Blisterreihe, vergleicht mit der Liste im Pflegedossier, öffnet eine Schachtel nach der anderen und ordnet die weissen, gelben, rosa, grün-weissen Pillen und Kapseln in die kleinen Fächer für morgens, mittags, abends, nachts. Es darf kein Fehler passieren. Frau Baumgartner weiss Bescheid, wofür sie welches Medikament nimmt, aber es sind zu viele und zu viele ähnlich aussehende, um sie selbst zu sortieren. Ruth Meyer nennt jedes einzelne mit seiner Dosierung und Wirkung, dazwischen beantwortet sie eine Frage der Klientin zum Antidepressivum, ohne die Konzentration zu verlieren. Nachdem sie das Dosett gefüllt hat, kontrolliert sie ruhig noch einmal jedes Fach, bevor sie die Tagesschieber schliesst. Wäre Frau Baumgartner weniger gut informiert, oder könnte sie die Medikation nicht nachvollziehen, würde am Nachmittag eine zweite diplomierte Pflegefachfrau kommen, um die von Ruth Meyer gerichtete Medikamentenbox nochmals zu kontrollieren. Die grosse Verantwortung und die Sorgfalt im Umgang mit Medikamenten erfordern mehrere Sicherheitsstufen. So dürfen Fachpersonen Gesundheit die Dispenser zwar vorbereiten, aber überprüft werden sie in jedem Fall durch diplomierte Fachpersonen.


Ruth Meyer ist immer in der häuslichen Pflege tätig gewesen, mit einer entscheidenden Ausnahme: Als junge Frau arbeitete sie als Freiwillige während sechs Monaten mit Mutter Teresa im Sterbehaus von Kalkutta. «Fünfzig Frauen und fünfzig Männer lagen auf Pritschen in zwei Räumen. Gesehen habe ich strube Dinge, hervorgegangen aus der Armut und dem indischen Kastensystem, was mich stärker belastete als die Pflege der Sterbenden.» Sie machte wertvolle Lebenserfahrungen: Weil es in ihrer Natur liegt, vorauszudenken, sorgte sie sich abends schon für den nächsten Tag, wenn das Essen auszugehen drohte. «Doch täglich trafen von irgendwoher Spenden ein, auch für Medikamente und Verbandsmaterial. Das war sehr besonders, und mit der Zeit lernte ich, darauf zu vertrauen.» Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz plante Ruth Meyer, bei der Gemeindekrankenpflege in Balsthal zu bleiben, bis sie das nötige Geld hätte, um nach Afrika zu reisen. Als Kind war sie fasziniert gewesen von Albert Schweitzer und seinem Spital in Lambaréné, nun wollte sie ihren eigenen Weg zur Unterstützung von afrikanischen Menschen finden. Der Zufall wollte es anders: Ruth Meyer lernte in Balsthal ihren zukünftigen Ehemann kennen, wurde fünffache Mutter und Bäuerin.

Als die Kinder grösser waren, stieg Ruth Meyer wieder in die ambulante Pflege ein, nun war es die öffentliche Spitex, nicht mehr die katholische Krankenpflege. «Es ist gut, dass ich immer dabeigeblieben bin, abgesehen von der Familienpause, und alle Entwicklungen der Spitex miterlebt habe. Aber als 2015 die elektronische Pflegeplanung eingeführt wurde, musste ich neu starten – obwohl mich der Computer eigentlich nicht abschreckte, da ich für den Hof die Buchhaltung führte.» Es gab Kolleginnen, die kündigten, als das handschriftlich geführte Pflegeheft durch das Tablet ersetzt wurde. Inzwischen ist der elektronische Begleiter genauso selbstverständlich geworden wie die hellgrünen Berufshosen und das dunkelblaue Shirt mit dem Logo. Wie in vielen Spitex-Regionen waren die Pflegenden auch in Thal jahrelang in Privatkleidern unterwegs und zogen bei den Klientinnen und Klienten einfach die Berufsschürze über.

Ruth Meyer arbeitet nicht nur mit grosser Flexibilität im Übergangsteam, sie leitet zudem den Pflegedienst der zur Spitex Thal gehörenden Tagesstätte für Menschen, die Betreuung benötigen. So können betreuende und pflegende Angehörige regelmässig für einige Stunden entlastet werden. «Es hat mich seit Langem beschäftigt, dass es viele und immer mehr Menschen gibt, die zwar keine Spitex-Pflege benötigen und eigentlich auch gut daheim wohnen können, aber im Alltag begleitet und betreut werden sollten. Angehörige können das nicht allein leisten.» In der neuen Tagesstätte arbeiten vorwiegend Personen, die speziell für Betreuungsaufgaben ausgebildet sind.

Als Ruth Meyer von ihrer Morgentour zurückkommt, erwartet sie eine dringende Neuanmeldung: Von einem Hausarzt, der die Spitex bittet, einem Patienten alle sechs Stunden Morphin zu spritzen. Die Pflegefachfrau hat ein mulmiges Gefühl, weil sie den neuen Klienten noch nie gesehen hat. «Ich möchte nicht einfach das Medikament verabreichen und wieder gehen.» Sie wird das Gespräch mit ihm und seiner Familie suchen, um herauszuhören, was die Spitex alles tun kann. Während Ruth Meyer den Rucksack erneut packt, bereitet sie sich innerlich auf eine Situation vor, zu der sie einzig die medizinischen Informationen hat. Vor Ort vertraut sie ihren Erfahrungen, um zu beurteilen, was sie ansprechen darf und wofür heute nicht der richtige Moment ist. Jeder Einsatz verläuft anders. «Schön ist in unserem Beruf, dass sich wesentliche Dinge nicht wiederholen.»