Buch lesen: «Gerechtigkeit über Grenzen»

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Onora O’Neill zählt zu den wichtigsten Stimmen der politischen Philosophie unserer Zeit. Der Kantischen Tradition eng verbunden, sucht sie in ihrem Buch sowohl Gerechtigkeits- als auch Tugendprinzipien zu begründen. Beide nehmen ihren Ausgang beim Handelnden und seinen Pflichten. Gerechtigkeit verlangt die Verhinderung jeglicher Verletzung von Personen, Tugend verbietet Gleichgültigkeit angesichts fremder Not.

In der globalisierten Welt sind alle Akteure nicht mehr nur auf lokaler, sondern auch auf globaler Ebene in der Pflicht. Daraus folgt, dass die Bekämpfung von Armut, Machtmissbrauch und Unterdrückung in allen Teilen der Welt kein Akt der Güte, sondern vielmehr moralische Pflicht ist.

Onora O’Neill wurde 1941 in Nordirland geboren. Sie ist emeritierte Professorin für Philosophie an der Universität Cambridge und als Baroness O’Neill of Bengarve Mitglied des britischen Oberhauses. 2017 wurde sie mit dem Holberg-Preis ausgezeichnet.


Titel der englischen Originalausgabe:

Justice Across Boundaries. Whose Obligations?

© Onora O’Neill 2016

Die Übersetzung erfolgte in Abstimmung mit Cambridge University Press.

Copyright der deutschen Ausgabe © Claudius Verlag, München 2019

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

Layout: Mario Moths

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2019

ISBN 978-3-532-60048-1

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Dank

Einführung

Teil I Grenzüberschreitender Hunger

1 Rettungsboot Erde

2 Rechte, Pflichten und der Hunger in der Welt

3 Recht auf Entschädigung

Teil II Grenzüberschreitende Rechtfertigungen

4 Gerechtigkeit und Grenzen

5 Ethische Überlegungen und ideologischer Pluralismus

6 Begrenzte und kosmopolitische Gerechtigkeit

7 Pluralismus, Positivismus und die Rechtfertigung der Menschenrechte

Teil III Grenzüberschreitendes Handeln

8 Von Edmund Burke bis zu den Menschenrechten im 21. Jahrhundert

9 Von einer staatsorientierten zu einer globalen Konzeption der Gerechtigkeit

10 Globale Gerechtigkeit: Pflichten in der globalisierten Welt

11 Akteure der Gerechtigkeit

12 Die dunkle Seite der Menschenrechte

Teil IV Grenzüberschreitende Gesundheit

13 Gesundheitswesen oder Medizinethik: über Grenzen hinaus gedacht

14 Erweiterung der Bioethik: Medizinethik, öffentliche Gesundheit und globale Gesundheit

Anmerkungen

Namensregister

Dank

Ich bin vielen Freunden, Kollegen und Studenten unendlich dankbar, aber auch meinen Lesern in aller Welt, die mein Nachdenken über Gerechtigkeit und ihre Grenzen in den letzten Jahrzehnten kommentiert und dadurch vertieft haben.

Einführung
Gute Zäune, gute Nachbarn?

In seinem einfachen und doch tiefgründigen Gedicht Mending Wall erzählt uns Robert Frost von einem fiktiven Gespräch, das er mit einem seiner Nachbarn in Neu-England führt. Es geht um die Reparatur der verfallenen Trockenmauer, die ihre beiden Farmen trennt. Farmen, auf denen kein Vieh mehr gehalten wird:

There where it is we do not need the wall:

He is all pine and I am apple orchard.

My apple trees will never get across

And eat the cones under his pines, I tell him.

An diesem Platz bedarf es keiner Mauer:

nur Kiefern er, und ich nur Apfelhain.

Mein Apfelwald wird nie hinübersteigen

Und seine Kiefernzapfen fressen.1

Sein wortkarger Nachbar ist davon nicht überzeugt:

He only says, ‚Good fences make good neighbours.’

Er sagt nur: „Gute Zäune, gute Nachbarn.“

Woraufhin Frost Fragen aufwirft, die für die Diskussion über Gerechtigkeit in einer zunehmend globalisierten Welt bestimmend sind:

Spring is the mischief in me, and I wonder

If I could put a notion in his head:

‚Why do they make good neigbours? Isn’t it

Where there are cows? But here there are no cows.

Before I built a wall I’d ask to know

What I was walling in or walling out,

And to whom I was like to give offence.

Something there is that doesn’t love a wall,

That wants it down.’

Der Frühling weckt den Schalk in mir, vielleicht

setz ich ihm heut mal einen Floh ins Ohr.

„Warum sind Zäune gut für Nachbarn? Gilt das

nicht bloß, wo Kühe sind? Die seh ich nicht.

Bevor ich eine Mauer baue, frag

ich mich, was mauere ich ein, was aus,

und wen ich etwa damit kränke.

Da ist etwas, das mag die Mauern nicht,

das will sie brechen.

Sind Mauern und Zäune, Grenzen und Begrenzungen wirklich notwendig für gute Beziehungen und Gerechtigkeit? Oder zementieren sie nicht vielmehr die Ungerechtigkeit und schreiben sie fort? Was kann denn Unrechtmäßiges geschehen, wenn man sie nicht beibehält? Lässt sich dieses „Einmauern und Ausmauern“, das die Grenze zieht und fixiert, tatsächlich rechtfertigen? Sollte „der Schalk“, der Frost in Versuchung führt, eher abgelehnt oder eher begrüßt werden? Seit unvordenklicher Zeit wurden Mauern gebaut und ausgebessert, um etwas ein- oder auszuschließen: Stadtmauern, Festungsmauern, Gartenzäune und Weidezäune. Die Chinesische Mauer, der Hadrianswall, die Berliner Mauer, die Mauern um die Townships der Apartheid und die West Bank Barrier (die Mauer um das Westjordanland, wo die Ein- und Ausgegrenzten sich nicht einmal über den Namen einig sind). Alle nur zu dem einen Zweck, nämlich „ein- und auszumauern“. Aber wann und wie hat die Ausgrenzung, die sie konkret vornehmen, eine gerechtere bzw. eine ungerechtere Welt zur Folge?

Begrenzungen und Grenzen

Wir leben in einer Welt mit unzähligen Strukturen, die „ein- und ausmauern“, in einer Welt mit unzähligen Grenzen und ebenso unzähligen Grenzüberschreitungen. Die Linienziehungen, die wir als Grenzen bezeichnen, trennen gewöhnlich zwischen Staaten oder anderen Hoheitsbereichen. Meist handelt es sich dabei um eindeutig markierte Grenzverläufe. Andere Grenzen sind weniger greifbar. Dazu gehören die Grenzen innerhalb von Gesellschaften, Kulturen, Öko- und Wirtschaftssystemen.

Wer diese wohldefinierten Grenzverläufe kontrolliert, versucht möglicherweise, deren Überschreitung zu regulieren: Betroffen sind davon Menschen (vor allem Fremde), Güter, Handel und Dienstleistungen, Geld und Waffen, ja selbst Ideen und Information. Üblicherweise besteht die Kontrolle in einer Überprüfung, wer und was über die Grenze darf bzw. wer und was festgehalten und am Überschreiten gehindert wird (mitunter mit durchwachsenem Erfolg). Daher ist es eine ganz wesentliche Aufgabe der politischen Philosophie, Überlegungen anzustellen, ob und wie die verschiedenen Formen von Grenzen und die Ein-bzw. Ausgrenzungen, die sie konkretisieren, gerechtfertigt werden können. Und ob bzw. wie der Rückgriff auf weniger scharf definierte Begrenzungen – nationaler und kultureller, religiöser und ideologischer Natur – zur Rechtfertigung von Staatsgrenzen herangezogen werden kann. Viele Gerechtigkeitstheorien gehen davon aus, dass ihre Prinzipien universell sind, doch damit bleibt die Reichweite der Gerechtigkeit unberücksichtigt: Prinzipien können durchaus universell sein und doch einen genau begrenzten Zweck verfolgen.

Es ist daher nicht überraschend, dass die Frage der Staatsgrenzen wie auch anderer Grenzen für die Diskussionen über Gerechtigkeit tiefgehende und interessante Probleme aufwirft. Grenzen können dazu benutzt werden, um Gerechtigkeit – in je unterschiedlicher Auffassung – sicherzustellen, zu ändern, auszuhöhlen oder gar gänzlich zu beseitigen. Und das hat gewöhnlich nichts damit zu tun, dass ihr Verlauf strittig ist. Die tieferen Probleme haben weniger mit dem Verlauf von Grenzen zu tun als mit ihrer Konfiguration, also damit, welche Art von Handlungen sie erlauben oder unterbinden, und mit der Rechtfertigung des Ein- und Ausschlusssystems, das sie etablieren. Jede Rechtfertigung wirft Fragen auf, doch die Rechtfertigung von Ein- und Ausschlussverfahren zieht besonders schwierige Fragen nach sich: Müssen Argumente, die die Reichweite der Gerechtigkeit untermauern sollen, sowohl für die Inkludierten als auch für Exkludierten gelten? Ist es von Bedeutung, wenn Grenzziehungen für „Außenseiter“2 nicht plausibel sind?

Ambitionierte Versionen eines moralischen Kosmopolitentums fordern, dass Staatsgrenzen durchlässiger sein sollten, offen für mehr Menschen und auch für mehr Aktivitäten. Manche malen das Bild einer stärker institutionalisierten kosmopolitischen Zukunft, in der Unterschiede nicht mehr als Rechtfertigung für Ein- oder Ausgrenzung gelten, also einer Welt weitreichender kosmopolitischer Institutionen. Doch die meisten dieser enthusiastischen Weltbürger sind gleich weniger begeistert, wenn plötzlich die Rede von einem monolithischen Weltstaat ist. Und auch sie sind sich wohl nicht sicher, ob durchlässigere Grenzen mehr oder weniger Stabilität, mehr oder weniger Sicherheit und Gerechtigkeit schaffen würden.

Weniger ehrgeizige und scheinbar bescheidenere, realistischere Theorien globaler Gerechtigkeit gehen ganz im Gegenteil davon aus, dass zumindest einige der Grenzlinien, die durch Staatsgrenzen vorgezeichnet sind, sowie der Ein- und Ausschlussmechanismen, die sie ins Werk setzen, der Gerechtigkeit dienlich sind. Das alte Sprichwort von den guten Zäunen, die gute Nachbarschaft bedeuten, steht für ein vorsichtiges Anti-Kosmopolitentum, das manche Ausgrenzungen als hilfreich, ja notwendig erachtet, wenn Gerechtigkeit verwirklicht und bewahrt werden soll. Dabei geht es um moralischen Kosmopolitismus und um institutionellen Anti-Kosmopolitismus, die für die philosophischen und praxisorientierten Debatten über Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt Bedeutung erlangt haben. In diesem Buch will ich diesen Ansätzen nachgehen mit der Hoffnung, etwas zu den vorgebrachten Argumenten beizutragen, das diese Debatte entscheidend bereichern kann.3

Teil I: Grenzüberschreitender Hunger

Mit hohen Erwartungen beschloss ich Mitte der 1970er-Jahre, dass die Konzentration auf die Rechte Hungernder einen sinnvollen Ansatz darstellte, um in einer Welt, in der einige Menschen unter extremen und doch vermeidbaren Entbehrungen litten, zumindest einige der grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit herauszuarbeiten. In der Nachkriegswelt entwickelte sich die Berufung auf Rechtsansprüche – häufig, aber keineswegs immer auf die Menschenrechtskonvention von 1948 zurückgreifend – zum wichtigsten Teil des ethischen Vokabulars. Da es zu jener Zeit nur wenige philosophische Untersuchungen solcher Rechte gab, glaubte ich, dass hier gute Fortschritte zu erzielen seien.

Ständig gab es Berichte über Hungersnöte und extreme Armut in vielen Teilen der Welt, zum Beispiel in Biafra, in Kambodscha und Äthiopien. (Nur wenige Menschen wussten Bescheid über die dramatische Hungersnot in China zwischen 1958 und 1962). Über das Bevölkerungswachstum, das nicht in den Griff zu bekommen war. Und über die Auswirkungen der Ölkrise von 1973 auf die Ärmsten der Armen. Trotz der landwirtschaftlichen Revolution gab es kaum Anzeichen für eine Bewältigung der demografischen Probleme, keine Anzeichen für ein mögliches Ende des Kalten Krieges oder für ein zu begrüßendes Wirtschaftswachstum in bestimmten (nicht allen) armen Ländern. Oder für die allenthalben aufkeimenden Aktivitäten über alle Grenzen hinweg, die nicht nur vielen Menschen deutlich mehr Wohlstand brachten, sondern auch die Korruption gnadenlos ansteigen ließen und eine neue und rastlose Klasse von Superreichen hervorbrachten. All diese tiefgreifenden Veränderungen lagen noch in weiter Ferne: Tatsächlich wurden einige davon nur möglich aufgrund einer veränderten Effektivität und Wirksamkeit von Grenzkontrollen, die mit dem Ende des Kalten Kriegs einhergingen und mit der Ausweitung verschiedenster Formen ökonomischer Liberalisierung.

Wenig überraschend war hingegen, dass der Großteil der ethischen Überlegungen zum Thema „Armut“ und „Entwicklung“, bevor diese Veränderungen eintraten, sich um die extremen Fälle von Hunger und Hungersnot drehten. Der meistakzeptierte ethische Ansatz war ein utilitaristischer, die meistdiskutierte Darstellung Peter Singers Hunger, Wohlstand und Moral.4 Ich bewunderte sein Werk, fand aber, dass der utilitaristische Ansatz auf ungewöhnlichen Annahmen beruhte, die die erforderliche ethische Überhöhung nicht leisten konnten. Ich wollte mehr mit weniger erreichen und hoffte, dass die Berufung auf Rechte einen ökonomischeren und plausibleren Ausgangspunkt bieten könnte, um ethische Fragen rund um Hunger und Hungersnöte zu lösen. Die ersten drei Kapitel der hier vorliegenden Sammlung beginnen also mit Überlegungen zum Thema „Rechte“. Aber sie zeigen auch auf, wo die Probleme bei diesem Grundgedanken liegen und nennen Gründe dafür, dass es sinnvoll sein könnte, Rechte in einen breiteren Bezugsrahmen zu stellen, bei dem die Grundbegriffe „Pflicht“ und „Akteurschaft“ von entscheidender Bedeutung sind. In diesen Aufsätzen und den meisten, die auf sie folgen, setzte ich auf traditionelle Vorstellungen von Rechten – Naturrecht, moralisches Recht oder Grundrechte –, statt nur und spezifisch auf Menschenrechte. In einigen der späteren Kapitel aber wende ich mich der Rechtfertigung und den praktischen Implikationen der Menschenrechte zu, wie sie in der Menschenrechtskonvention von 1948 dargelegt werden.5

In Kapitel 1, „Rettungsboot Erde“ versuchte ich zu zeigen, dass wir sowohl auf utilitaristische wie auf konsequentialistische Annahmen verzichten können. Stattdessen argumentiere ich, dass man auch mit dem Rechtebegriff an sich zu soliden Schlussfolgerungen kommen kann. Ganz bewusst hingegen habe ich mich nicht auf das verführerisch umfassende und doch amorphe „Recht auf Leben“6 eingelassen, das in so vielen ethischen Debatten angeführt wird, vor allem, soweit es die Bioethik betrifft. Ich hoffte, dass ein bescheidenerer und allgemein akzeptierter Grundgedanke, demzufolge jeder (zumindest!) das Recht hat, nicht unrechtmäßig getötet zu werden, weniger Fragen aufwerfen und mir erlauben würde zu zeigen, dass eine Tätigkeit Rechte verletzt, wenn ihre weiteren Auswirkungen zu mehr Toten führen. „Rettungsboot Erde“ hat vermutlich mehr Leser gefunden als jeder andere Aufsatz, den ich je veröffentlicht habe. Man hat mich überzeugt, ihn hier unverändert in die Sammlung aufzunehmen, obwohl ich recht bald zu der enttäuschenden Schlussfolgerung kam, dass das schlichte Recht, nicht ungerechtfertigt getötet zu werden, kein ausreichendes ethisches Fundament für ein Gedankengebäude bot, das sich mit den ethischen Fragen rund um Hunger und Hungersnöte auseinandersetzte, von einer umfassenderen Sicht auf globale Gerechtigkeit ganz zu schweigen. Die Gründe, die mich zu dieser Schlussfolgerung führten, werden in den anderen Aufsätzen dieser Sammlung dargelegt.

Obwohl ich überzeugt bin, dass utilitaristische Argumente nicht ausreichen, um als Leitfaden für das Handeln zu dienen, gelangte ich zu der Auffassung, dass die Berufung auf Rechte durchaus genug Biss hat, wenn man sie um Argumente erweitert, die klar zeigen, wer etwas tun soll und was. Rechte ließen sich nur dann verwirklichen, wenn die Pflichten des Gegenparts von handlungsfähigen Akteuren übernommen werden. Der zweite Aufsatz, „Rechte, Pflichten und der Hunger in der Welt“, entstand sozusagen als „Manifest“ für diesen Gedankengang, der dort klar und eindeutig entwickelt wird. In den 1980er-Jahren entwickelte ich diesen Ansatz in einigen Aufsätzen und einem Buch weiter.7

Das dritte Kapitel im ersten Teil, „Recht auf Entschädigung“, setzt sich mit einem anderen, dauerhaft populären rechte-basierten Ansatz auseinander. Recht auf Entschädigung heißt, dass man jenen, deren Handeln Hunger und Hungersnöte verursacht hat, die Verpflichtung zuschreibt, Maßnahmen zur Abhilfe zu entwickeln. Der eindeutige Vorteil an diesem Gedanken ist, dass er nicht im Unklaren lässt, wer die Pflichten des Gegenparts übernehmen soll. Ich habe diesen Ansatz mit einigem Bedauern aufgegeben, weil ich zu der Schlussfolgerung gelangte, dass auch er keinen überzeugenden Weg bietet, auf Hunger und Elend in fernen Ländern zu reagieren, weshalb er vom eigentlichen Problem eher ablenkt. Das Recht auf Entschädigung ist dort relevant, wo Hunger und Armut nachweislich auf Fehlverhalten von klar identifizierbaren Akteuren zurückgehen. Es ist zwar durchaus richtig, dass es große historische Ungerechtigkeiten gegeben hat. Doch es ist meist auch höchst ungewiss, wessen ungerechtes Handeln zu wessen aktueller Armut beigetragen hat. Außerdem haben Hunger und Armut in der Gegenwart meist vielfältige Ursachen und sind selten handlungsfähigen Akteuren zuzuschreiben, von denen man Wiedergutmachung einfordern könnte. Die Berufung auf das Recht auf Entschädigung richtet sich an handlungsfähige Akteure, die die Verpflichtung zur Wiedergutmachung tatsächlich auch erfüllen können. Doch hier lässt sich nur selten klar auf einen Verursacher deuten. Daraus schloss ich, dass nur eine klare Ausrichtung auf konkrete Handlungen und Pflichten einen überzeugenden Ansatz für eine umfassende Theorie der Pflichten der Gerechtigkeit bieten kann.

Teil II: Grenzüberschreitende Rechtfertigungen

Schon zu Beginn der 1980er-Jahre wurde mein Verständnis von globaler Armut verändert durch Amartya Sens wunderbaren Aufsatz: Poverty and Famines.8 Sobald ich ganz begriffen hatte, inwieweit Hunger und Not sowohl von institutionellen Strukturen als auch vom alltäglichen wirtschaftlichen Handeln beeinflusst wurden, schien die Idee, dass das Recht auf Entschädigung einen wesentlichen Beitrag zur globalen Gerechtigkeit leisten könnte, wenig überzeugend, obwohl sie bis heute beliebt ist. Von diesem Zeitpunkt an versuchte ich es mit einem streng nach vorne gerichteten und praktischen Blick auf eine gerechte Reaktion auf Hunger und Elend. Ein praxisorientierter Ansatz kann nicht davon ausgehen, dass Schuldige jederzeit identifiziert und zur Wiedergutmachung des von ihnen angerichteten Schadens herangezogen werden können. Doch wenn Gerechtigkeit sichergestellt werden soll, ist es nötig, die Pflichten handlungsfähiger Akteure des Wandels genau zu benennen.

Die Kapitel in Teil II beschäftigen sich mit Fragen, die sich ergeben, wenn Rechtfertigung über Grenzen reichen soll. Die politische Philosophie des Westens wurde geprägt von der Vorstellung, dass Gerechtigkeit etwas ist, was sich auf einzelne Gemeinschaften, Städte oder Staaten bezieht und daher begrenzt werden kann, vielleicht sogar muss. Obwohl Versionen und Elemente eines ius gentium bzw. Formen internationaler Justiz und Rechte schon seit der Antike bekannt sind, galten sie im Allgemeinen als anwendbar nur auf Gerechtigkeitsfragen zwischen klar begrenzten Gemeinschaften, Städten oder Staaten bzw. auf die Art und Weise, wie diese begrenzten Gemeinschaften, Städte oder Staaten mit Außenseitern umgehen. Bis vor kurzem jedenfalls haben nur wenige die institutionellen und praktischen Implikationen durchdacht, die sich ergeben, wenn man diese Begrenzung aufgibt zugunsten institutionalisierter Formen eines Weltbürgertums.

Argumente für solch ein kosmopolitisches Gerechtigkeitssystem über Grenzen hinweg drehen sich nicht nur darum, dass man die Reichweite der Gerechtigkeit ausdehnen sollte, wie es zum Beispiel geschieht, wenn ein Staat sein Territorium vergrößert oder Konzessionen erwirbt. Meist geht es vielmehr darum, dass man Grenzen auf eine spezifische Weise durchlässiger macht – und daher auf andere spezifische Weise weniger effektiv. Interessanterweise beziehen sich viele der politischen Argumente für durchlässigere Grenzen selbst heute, in den Zeiten der Globalisierung, auf staatliche Interessen: Der freie Handel steigert den nationalen (d. h. staatlichen) Wohlstand. Der freie Austausch von Ideen stärkt das gegenseitige Verständnis der Nationen und damit die nationale Sicherheit. Dürfen sich (manche) Personen frei zwischen den Staaten bewegen, trägt dies ebenfalls zum nationalen Wohlstand bei. Solche Argumente waren meiner Ansicht nach nicht ausreichend, um eine vollständigere Öffnung der Grenzen zu rechtfertigen, da diese ja das Konzept nationaler und staatlicher Interessen an sich, auf das solche Argumente sich stützen, auflösen oder unterminieren würden. Also ging ich etwas vorsichtiger zu Werk.

Kapitel 4, „Gerechtigkeit und Grenzen“, nimmt die Frage auf, ob der Anspruch auf universelle Gültigkeit der Gerechtigkeitsprinzipien genug Substanz bietet, um zu zeigen, dass Letztere sich tatsächlich über alle Grenzen hinweg erstrecken sollten. Meine Schlussfolgerung war, dass auch dieser Ansatz wenig überzeugend war, denn universelle Form und universelle Reichweite sind zwei verschiedene Dinge. Die Tatsache, dass die Prinzipien der Gerechtigkeit formal universell sind, liefert keine Aussagen über ihre Reichweite oder über die Vorzüge bzw. Mängel der verschiedenen Formen von institutionalisiertem Kosmopolitismus. In Kapitel 5, „Ethische Überlegungen und ideologischer Pluralismus“, setze ich mich mit Problemen auseinander, die entstehen, wenn sich die Glaubensformen und intellektuellen Fähigkeiten jener Menschen unterscheiden, die von den verschiedensten Grenzen getrennt werden, was zur Folge hätte, dass sie Dingen und abweichenden Meinungen, die den anderen jenseits der Grenze völlig vertraut sind, nicht folgen können oder sich von ihnen nicht durch vernünftige Argumente überzeugen lassen. Kapitel 6, „Begrenzte und kosmopolitische Gerechtigkeit“, spinnt diese Überlegungen fort und vergleicht kommunitaristische Rechtfertigungen, die innerhalb gewisser Grenzen (oder „Sphären“) offensichtlich funktionieren, weshalb man diese auch als Grenzen der Gerechtigkeit betrachten müsse, mit den „semi-kosmopolitischen“ Positionen, die auf die Vorstellung der menschlichen Vernunft abzielen, wie sie John Rawls und viele andere vorgetragen haben.

Das letzte Kapitel in Teil II, „Pluralismus, Positivismus und die Rechtfertigung der Menschenrechte“, untersucht die Möglichkeit der Rechtfertigung der Menschenrechte, wie sie in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg erklärt und weitgehend akzeptiert wurden. Die Menschenrechte sind ja nur eine Version der Idee, dass menschliche Wesen Rechte haben: eine einzigartig erfolgreiche und wirkmächtige Version, die jedoch nicht erhaben ist über philosophische Reflexion, Kritik oder (wenn möglich) Rechtfertigung. Eine Reihe herausragender politischer Philosophen haben umfassende Arbeit im Hinblick auf die Rechtfertigung der Menschenrechte geleistet, vor allem nach der Jahrtausendwende. Doch ein viel zu großer Teil dieser Diskussion bzw. der Verteidigung der Menschenrechte wird immer noch von einer Autoritätsperspektive aus geführt (und akzeptiert). Die Übereinkunft der Staaten, der internationalen Gemeinschaft, der Wohlmeinenden, wird häufig als ausreichend betrachtet, selbst von jenen, die eine autoritative Argumentation in vielen anderen Kontexten ablehnen würden. Hier versuche ich einen Weg aufzuzeigen, die aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte abgeleiteten Rechte zu verteidigen, ohne kontroverse metaphysische oder theoretische Forderungen zu stellen.

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