Das Haus

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Das Haus
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Olivia Monti

Das Haus

Kriminalroman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorspiel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Nachspiel

Über die Autorin

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Impressum neobooks

Vorspiel

Das Haus ist eines dieser typischen Mietshäuser mit Wohnungen so klein wie Schuhschachteln. Lediglich im obersten Stock gibt es eine größere Wohnung, ein geräumiges Penthouse.

Lange Zeit lebten wir hier in Ruhe. Es gab die üblichen Streitereien zwischen Nachbarn. Dürfen Schuhe in der gemeinsamen Waschmaschine gewaschen werden? Darf eine wöchentlich gekochte Fischsuppe im gesamten Treppenhaus den Geruch bestimmen? Ab wann ist Musik Lärm? Was ist mit Türenschlagen in der Nacht? Wieviel Hundegebell ist erlaubt? Und so weiter. Der eine hält den anderen für unverschämt, rücksichtslos oder verrückt. Die Mehrzahl versteht sich allerdings einigermaßen. Man duldet einander. Und manchmal entstehen sogar Freundschaften.

Diese verhältnismäßige Ruhe war nach der letzten Party bei Zimmermann für immer dahin. Es passierte etwas Entsetzliches. Und obwohl man sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen kann, war das erst der Anfang.

Einmal im Monat lädt Leonardo Zimmermann alle Einwohner zum Aperitif auf seine Dachterrasse ein. Er bewohnt das große Penthouse. Es ist nicht nur ein Aperitif, Zimmermann bietet uns mit Kanapees, Schinken, Käse, Lachs, Scampi, Salaten, Süßspeisen überhäufte Platten an und fachmännisch gekühlten, besonders feinperligen Champagner. Erstaunlicherweise kommen alle, und wir bleiben meist bis tief in die Nacht, tratschen, scherzen, lachen.

Mit mir unterhält sich Zimmermann meistens über meine paranormalen Forschungen. Er fragt, an was ich gerade arbeite. Ich erzähle ihm dann, wie weit ich mit einem Manuskript über das Gedächtnis von Dingen und Orten bin, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ihn das Thema nicht sonderlich interessiert.

Die Feldner-Schwestern, zwei junge Mädchen, die eine Banklehrling, die andere auf Stellensuche, zieht Zimmermann nur allzu gerne mit Witzen auf. Sie kichern spontan los, und ihr Gekicher steckt alle anderen an. Alle nennen sie die Feldner-Schwestern, als seien sie keine Individuen. Dabei gleichen sie sich gar nicht. Die eine ist eine stämmige Rothaarige, die andere eine zierliche Blondine.

Frau Mooskop, pensionierte Kurzwarenverkäuferin, und Frau Rauhaar, pensionierte Schneiderin, bedient Zimmermann höflich, lässt sie aber während des Abends eher links liegen. Frau Mooskop verkaufte Damenunterwäsche. Damals sagte man noch Damenunterbekleidung. Die Zeit der allgegenwärtigen Dessous hat sie wohl nicht mehr mitgemacht. Frau Rauhaar ist etwas jünger. Ihren Beruf üben hierzulande nicht mehr viele aus. Es gibt kaum noch Scheiderinnen außerhalb der Haute Couture. Sie werden einfach nicht mehr gebraucht. Frau Rauhaar ist ledig. Sie war als junges Mädchen vollauf mit ihrer Schneiderlehre beschäftigt gewesen und hatte angeblich schlicht keine Zeit für Männer gehabt. Im Gegensatz zur Mooskop kleidet sich die Rauhaar modern, sie hat Geschmack und scheut sich nicht vor Farben.

Es ist seltsam, dass Zimmermann die Mooskop und die Rauhaar bedient, aber nicht Ramona Valdes. Ramona ist ebenfalls älter. Wobei ihr Alter schwer einzuschätzen ist. Sie könnte um die siebzig sein. Zimmermann schenkt Ramona kein Glas ein, er zwinkert ihr nur zu. Ramona trägt meistens ein viel zu kurzes Oberteil und eine zu eng anliegende Hose, die den Schritt einschneidet. Sie kleidet sich wie ein Teenager. Vielleicht ist es die Macht der Gewohnheit. Als Bardame war sie Jahrzehnte knapp gekleidet, so hat man es von ihr verlangt, und jetzt stellt sie sich nicht mehr um. Dass Zimmermann Ramona quasi wissend zuzwinkert, stört mich. Ich finde es respektlos.

Während Zimmermann die Frauen eher links liegen lässt, seine Unterhaltung mit uns beschränkt sich meistens auf ein paar wenige Witze, unterhält er sich hauptsächlich und auch ernsthaft mit den Männern, etwa über das politische Tagesgeschehen, über Anlagen oder Sport.

Besonders gut versteht er sich mit Jean Colomb, den böse Zungen im Haus trotz seiner vierzig Jahre als Muttersöhnchen bezeichnen. Ebenso mag er offensichtlich Marco Bentivoglio, eine graue Büromaus, und den Balletttänzer Matt Reynolds, den Oscar Wilde zum Vorbild für Dorian Gray hätte nehmen müssen, wenn er ihn denn kennengelernt hätte.

Die einzige Frau, die sich manchmal zu der Männergruppe gesellt, und von den Männern auch einbezogen wird, ist Marina Dunst. Die Dunst ist groß, dick und launisch. Du musst bei ihr jedes Wort auf die Goldwaage legen. Marina Dunst fühlt sich angegriffen, auch wenn man das nicht im Mindestens beabsichtigt hat, und putzt einen aus heiterem Himmel herunter. Mehr und mehr habe ich den Verdacht, es macht ihr Spaß, sie braucht es.

Priscilla Klein und ich bilden ein Gesprächspaar für sich. Wir sind beide in den Fünfzigern, fühlen uns aber eher wie in den Dreißigern. Wahrscheinlich, weil wir nie verheiratet waren, keine Familien gegründet haben; man altert dann langsamer und bleibt irgendwie unreif, habe ich den Verdacht. Priscilla leitet den Onlineverkauf eines Fitnessgeräteherstellers. Ich fühle mich mit ihr wohl, ohne dass ich wüsste, weshalb. Manche Menschen sind wohltuend entspannend, tolle Kumpel.

Priscilla und Marina sind schon öfters aneinandergeraten. Grund sind Priscillas zwei Chihuahuas. Marina Dunst wohnt im ersten Stock direkt über Priscilla und hört die Chihuahuas bellen. Sie bellen regelmäßig, wenn Priscilla nicht da ist und jemand die Haustüre zuschlägt. Vor einer Woche kam es zwischen Priscilla und Marina beinahe zu Handgreiflichkeiten. Marina bezichtigte Priscilla im Treppenhaus der Tierquälerei. Zwei Hunde dürfe man nicht in so einer kleinen Wohnung halten. Sie drohte Priscilla sogar, sie beim Tierschutz anzuzeigen. Bislang hatte sich Marina nur bei der Verwaltung über das Hundegebell beschwert, mit geringem Erfolg, jetzt wollte sie anscheinend eine Eskalation. Ich hatte Priscilla im Treppenhaus schreien gehört. Sie schreit sonst nie, ist immer beherrscht. Aber da schrie sie aus vollen Lungen, dass Marina sich gefälligst um ihren eigenen Dreck scheren solle.

Fehlen noch die Wistlers. Die Wistlers kommen immer später als alle anderen. Frau Wistler ist eine hübsche Brünette in den Vierzigern und schreibt anscheinend Romane. So ganz genau weiß das niemand. Herr Wistler ist zwanzig Jahre älter, sieht aber aus, als wäre er vierzig Jahre älter. Ich wundere mich, wie die beiden auf so engem Raum zusammenleben können. Bei den Wistlers haben wir nicht den klassischen Fall, bei dem der alte Mann die jüngere Frau aushält. Hier ist es umgekehrt. Er muss den Haushalt machen und einkaufen, sie schreibt und scheint das gemeinsame Leben zu finanzieren. Da noch niemand von uns einen ihrer Romane gefunden oder irgendetwas über sie gelesen hat, frage ich mich, wie sie ihr Geld verdient. Vielleicht hat sie geerbt. Herr Wistler muss schon bessere Tage erlebt haben. Er ist wohlerzogen und umfassend gebildet. Einmal hat er mir erzählt, er sei in seiner Heimat, Kanada, lange beim Militär gewesen und hätte dort später eine Tierfutterfirma mit zweihundert Angestellten geleitet. Schwer zu sagen, ob es stimmt. Ich habe nicht nach dem Namen der Firma gefragt. Manchmal will man eine Lüge nicht herausfinden; Wistler ist mir aufgrund seiner soliden Bildung zu sympathisch.

Bis auf das Schriftstellerpaar, so nennen wir die Wistlers, und die Feldner-Schwestern lebten in allen Wohnungen nur Einzelpersonen. Und bis auf das Schriftstellerpaar waren alle Singles. Ein Singledasein ist für viele unbefriedigend, egal, wie alt man ist. Vielleicht herrschte auch deshalb im Haus eine Stimmung, die leicht ins Ungute kippen konnte, musste ich später denken.

Im Juli lud uns Zimmermann das letzte Mal zum Aperitif ein. An dem Abend war der Himmel sternenklar, und es war warm bis spät in die Nacht. Den Champagner hatte Zimmermann von einem kleinen Gut bei Chamery kommen lassen. Und wie immer war er perfekt gekühlt. Zimmermann hatte Lager- und Weinkühlschränke, wie man sie nur aus einem Restaurant kennt. Und dieser Champagner war etwas ganz Besonderes. Er leuchtete goldgelb. Nach dem zweiten Glas musste ich ständig lachen. Auch die Feldner-Schwestern kicherten unablässig beim kleinsten Anlass. In so einer Laune konnte es nicht ausbleiben, dass bald alle über den einzig nicht Anwesenden, Enis El Agha, zu tratschen und zu lachen begannen.

 

Enis war vor wenigen Monaten ins Haus gezogen. Er hatte das Mini-Penthouse gegenüber von Leonardo Zimmermann gemietet und bislang jede Einladung zum Aperitif ausgeschlagen. Dass Zimmermann uns ständig mit einer Grimasse einschärfte, doch nicht so laut über seinen Nachbarn zu reden, machte das Ganze noch komischer und ließ uns noch mehr lachen. Ich gebe zu, wir waren gemein. Besonders, weil wir Enis kaum kannten und hauptsächlich böse Mutmaßungen anstellten. Aber gemein über andere zu reden ist einfach ein Riesenvergnügen. Tratsch gehört zum gesellschaftlichen Leben, wenn man das hier überhaupt Gesellschaft nennen konnte. Aber selbst ein Mikrokosmos wie unser Haus, und sei er auch von lauter Außenseitern bewohnt, bildet so etwas wie die Grundstruktur einer Gesellschaft heraus, und dazu gehört, dass man sich über deren Mitglieder austauscht und auch, dass Mitglieder hinter dem Rücken anderer Mitglieder tratschen. Es ist ein Prozess der Selbstbespiegelung, der Selbstvergewisserung, der auch schmerzhaft sein kann.

Zimmermann wollte nun herausgefunden haben, dass Enis aus Syrien stammt, aus Damaskus. Seine Eltern hatten ihn, laut Zimmermann, zum Medizinstudium nach Europa geschickt.

Als Zimmermann uns das erzählte, lachte Marina Dunst laut ein extratiefes Lachen: „Der ist doch Asylant.“

Jean verzog sein Gesicht. „Willst du damit sagen, der Staat zahlt ihm die Penthousewohnung?“

„Kluges Bürschchen. Wir, die Steuerzahler, zahlen ihm die Luxusbleibe“, stimmte Marina Dunst ein.

Luxusbleibe konnte man Enis‘ Wohnung kaum nennen. Ich kenne die Wohnung, sie besteht aus einem Zimmer mit winzigem Bad und Kochecke, insgesamt 25 Quadratmetern. Der einzige Luxus ist der kleine Teil der Dachterrasse im fünften Stock, der dazugehört.

„Scht, scht“, Zimmermann versuchte den Ton zu dämpfen. „Wenn er in Damaskus lebt, ist er ja nicht unbedingt ein Flüchtling. Seine Eltern gehören vielleicht zum Asad-Establishment.“

„Na und?“, rief Marina mit tiefer Alkoholstimme. „Der kriegt trotzdem Geld vom Staat. Da verwette ich die Chihuahuas drauf.“

„Unverschämtheit“, zischte Priscilla. Ich zupfte sie am Arm, um Schlimmeres zu verhüten.

„Kommen hierher und lassen sich von uns aushalten, wollen aber nichts mit uns zu tun haben, gucken auf uns herab, weil wir Ungläubige sind“, grollte Marina.

Der mausgraue Bentivoglio regte sich auf einmal. Er hielt sich sonst immer zurück, als wolle er unter gar keinen Umständen auffallen. „Ein Syrer in einer teuren Penthousewohnung wird vom IS bezahlt! Das ist meine Meinung.“ Er wurde ganz rot. Wahrscheinlich, weil er zum ersten Mal eine eigene Meinung vertrat.

Marina sperrte die Augen so weit auf, dass ich schon Angst bekam, die Augäpfel sprängen heraus. „Klar! Genau. Schlaues Kerlchen.“ Sie blies Luft aus der Nase. „Wir können uns auf was gefasst machen hier drin. Ich sag’s euch. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. Am besten, wir geben der Polizei einen Wink.“

Zimmermann versuchte abermals zu beschwichtigen: „Ruhig. Ruhig. Das ist doch ein gut aussehender, ganz freundlicher junger Mann ...“

„Warum will er dann nichts mit uns zu tun haben?“, blaffte Marina dazwischen.

„Er ist vielleicht nur schüchtern.“ Zimmermann zuckte mit den Schultern.

Die Wistlers standen sonst immer beiseite und tranken. Umso mehr war ich überrascht, als Frau Wistler sich einmischte: „Gleich die Polizei holen, nur weil jemand Syrer ist, das ist doch … rechtsradikal!“

Herr Wistler nickte eindringlich.

Als hätte Marina Dunst nur auf diesen Augenblick gewartet, baute sie sich in voller Größe vor den Wistlers auf und hielt schreiend einen Vortrag über das exponentielle Anwachsen der Kriminalität im Land infolge der Straftaten von Migranten.

Spätestens hier war der Abend gekippt. Die Feldner-Schwestern waren mucksmäuschenstill verschwunden. Ich hatte es nicht einmal bemerkt.

Nachdem Marina Dunsts Vortrag, den niemand zu unterbrechen gewagt hatte, endlich beendet war, kam keine gute Stimmung mehr auf. Wir standen noch eine Weile verlegen auf der Terrasse herum. Bald ging einer nach dem anderen unter einem fadenscheinigen Vorwand.

Leonardo Zimmermann tat mir leid. Er gab sich jedes Mal solche Mühe, bewirtete uns großzügig, und jetzt hatte die Dunst ihm den Abend komplett versaut. Vielleicht war das ihre neue Masche, bei einer Party einfach dreinzuschlagen und das Fest zu sprengen, zum Verdruss aller, statt nur eine einzelne Person zur Schnecke zu machen.

Als ich am Tag danach einen Zettel in meinem Briefkasten fand, auf dem Marina Dunst Unterschriften sammelte, um Enis aus dem Haus zu ekeln, angeblich gab es in unserer Hausordnung die Möglichkeit, jemanden loszuwerden, falls alle anderen Mieter unterschrieben, schämte ich mich, dass ich am Abend zuvor nichts gegen das Geschimpfe auf Enis eingewandt hatte.

Kapitel I

Ich kriege das Bild, das ich an dem Morgen sehen musste, einfach nicht mehr aus dem Kopf. Es war früh am Morgen, und es regnete. Der Regen fiel in dichten Schnüren. Zuerst erblickte ich nur einen Schuh. Dann, als ich weiter aus der Haustür trat und um die Ecke bog, sah ich Enis. Ein paar Tauben flogen knatternd hoch. Enis lag auf dem Rücken mit verrenkten Gliedmaßen. Eine klebrige Masse quoll seitlich aus seinem Kopf. Sein Gesicht glänzte vom Regen. Es wirkte wie tränenüberströmt. Um Kopf und Schultern färbte sich die Nässe schwarzrot. Sein weißes Hemd war durchsichtig geworden. Die dunkelblauen Hosen klebten wie Lappen an seinen unförmig gewordenen Beinen.

Ich bin nicht einmal erstarrt. Und ich konnte auch nicht schreien. Ich stürzte zurück ins Haus und wählte den Notruf.

Ich wartete zitternd im Eingang, bis der Krankenwagen mit Sirenengeheul vor dem Haus hielt. Ich kann mich nur noch vage erinnern, was ich ins Telefon gestottert hatte. Wahrscheinlich ging daraus nicht hervor, dass Enis schon tot war. Die Einsatzleute brauchten nicht lange, um das festzustellen, und riefen dann die Polizei.

Es regnete weiter ohne Unterlass. Wasser spritzte mir ins Gesicht, obwohl ich unter dem Vordach des Eingangs stand. Kein anderer Bewohner war zugegen. Dann hörte der Regen plötzlich auf. So abrupt, als sei es nur ein Bühnenregen gewesen. Und ich wünschte mir verrückterweise, dass es nur eine Filmszene sein mochte. Klappe, Enis steht auf, schüttelt sich. Einer der Notfallhelfer reicht ihm ein Handtuch zum Abtrocknen.

Das Eintreffen der Polizei riss mich aus meinem Wahn. Sie wollten alles Mögliche von mir wissen. Ich zeigte zum vierten Stock hoch und sagte: „Da oben hat er gewohnt.“

In der Wohnung darunter bewegte sich ein Vorhang. Es war die Wohnung von Frau Mooskop.

Enis‘ Körper wurde in einem Metallsarg abtransportiert. Auf dem Gehweg blieben nur ein paar verwaschene braune Flecke zurück. Es war fast so, als sei nie etwas geschehen. Dass es aber doch geschehen war, hatte sich dann bis zum Abend im ganzen Haus herumgesprochen.

Priscilla klingelte um sieben Sturm an meiner Tür. „Weißt du schon …?“ Ja, ich wusste schon … leider, und die Bilder gingen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.

„Die Rauhaar sagt, er hat sich von seiner Dachterrasse runtergestürzt. Selbstmord.“

„Aber warum?“ Ich bat Priscilla herein.

Sie ließ sich auf mein Sofa fallen. Ich dachte nicht, was ich sonst gewöhnlich dachte, dass man nachher einen Haufen Hundehaare auf dem dunklen Samt sehen würde. Ich vergaß auch, Priscilla etwas zu trinken anzubieten. Ich vergaß einfach alles. Ich war ziemlich durcheinander.

„Im Treppenhaus hab ich mit Zimmermann geredet. Er war völlig fertig, hatte sogar Tränen in den Augen. Er meinte, der Tod von Enis fiele auf das Haus zurück. Auf uns alle. Niemand habe wahrgenommen, wie unglücklich Enis war, und fast jeder hier drinnen hätte noch ein Leid hinzugefügt. Jeder von uns müsse sich fragen, ob er es nicht hätte verhindern können.“

Ich biss mir auf die Lippe und schwieg. Ich brachte nichts heraus. Ich spürte nur einen Klos im Hals, der immer härter wurde, schon schmerzte. Dann heulte ich los.

Priscilla legte einen Arm um mich.

„Entschuldige“, stammelte ich nur.

„Ruhig. Ganz ruhig. Sogar Zimmermann sind die Tränen gekommen. Und ich wein vielleicht später noch. Ich muss mir nur vorstellen, Boris und Churchill wäre so was passiert. Von der Terrasse runtergefallen ...“ So hießen Priscillas Chihuahuas, Boris war eine Abkürzung für Boris Johnson.

Mein Geheul stoppte. Ich konnte mich gerade noch beherrschen, nicht in irres Gelächter auszubrechen. Ich war mit den Nerven fertig.

Als Priscilla wieder fort war, wünschte ich mir einen Moment lang auch ein Tier in meiner Wohnung. Vielleicht einen Haushasen. Hasen sind Vegetarier und stinken fast nicht. Es hätte jetzt etwas ungemein Beruhigendes gehabt, wenn so ein Wesen hier herumwuselte, das Wärme ausstrahlt, von nichts Schlimmem weiß, unschuldig in den Tag hinein frisst, schläft, lebt.

Bis tief in die Nacht hinein hielten mich Grübeleien wach. Sie hatten mit meiner Arbeit über das Gedächtnis von Orten und Gegenständen zu tun. Es gibt da eine Annahme: Ein Ort, also auch ein Haus wie das unsere, speichert alles, was in ihm geschieht. Nicht nur jede Handlung, auch jedes Gespräch, jeden Gedanken, jedes Gefühl. Und es gibt abenteuerliche Theorien von Physikern, in was für einem physikalischen Feld alle diese Informationen verschlüsselt werden. Durchaus seriöse Hypothesen, vorgebracht von Forschern wie dem berühmten Einsteinschüler David Bohm.

Jeder von uns kann mehr oder weniger das Gespeicherte spüren. Wir haben alle diese Fähigkeit. Heftige Gefühle und Wiederholungen prägen sich einem Ort besonders ein und sind auch von uns stärker wahrnehmbar. Ist an einem Ort etwas Schreckliches geschehen, so kann es gut sein, dass wir uns an dem Ort bedrückt fühlen. Manche haben nur ein ganz undeutliches, mulmiges Gefühl. Ganz wenige sehen sogar im Geist vor sich, was konkret an diesem Ort passierte.

An dem Abend fragte ich mich, ob wir vielleicht in einem Haus wohnten, das die Einwohner bedrückt, und einen von ihnen derart, dass er sich aus dem fünften Stock gestürzt hat.

Im Haus wohnten lauter Singles in kleinen Wohnungen. Ein Teil junge Leute, die in die Berufswelt mussten und Ängste ausstanden. Ein anderer Teil ältere Menschen, die sich nichts Besseres leisten konnten und einsam waren. Das heißt, das Thema der Einsamkeit wiederholte sich Tag für Tag und auch die Ängste, es irgendwo in dieser Welt alleine schaffen zu müssen, wiederholten sich. Diese Gefühle sind sehr aufdringlich. Die Wände saugen sich voll damit und strahlen eine zähe Bedrückung ab, die womöglich manche, mir fiel Marina ein, aggressiv machte und in einem Fall vielleicht sogar einen jungen Menschen in den Tod gestürzt hatte.

Am Samstagmorgen fühlte ich mich stark betäubt. Um doch noch schlafen zu können, hatte ich in der Nacht viel zu spät noch eine Schlaftablette geschluckt.

Ich hatte mich an dem Tag zum Wäschewaschen in einer der zwei Waschküchen im Keller eingetragen. Eigentlich war ich froh, dass ich gleich etwas zu tun hatte, etwas Alltägliches. Alltagsverrichtungen beruhigen; sie machen einem vor, das Leben geht weiter. Sogar nach der schlimmsten Zäsur. Enis‘ Tod war eine brutale Zäsur. Es fiel mir dennoch sehr schwer, gleich wieder zur Tagesordnung überzugehen, so zu tun, als sei nichts passiert. Enis stand mir immer wieder vor Augen. Wenn ich nicht gerade seinen leblosen Körper vor mir sah, musste ich an den lebendigen Enis denken, dessen Weg ich ab und zu im Treppenhaus gekreuzt und der mich immer höflich lächelnd gegrüßt hatte. Er war ein schöner junger Mann gewesen. Was Matt Reynolds in Blond war, war Enis El Agha in Schwarz. Enis war lediglich weniger trainiert als Matt, der im Ballett der Oper tanzte. Und Enis hatte nicht Matts gesunden Teint; er wirkte eher blass und seine Gesichtshaut ein bisschen teigig, so als vertrage er unser nördliches Klima nicht. Enis wollte nicht groß Kontakte im Haus, das war allen aufgefallen. Ich überlegte, an was allem er gelitten haben konnte. Zieht man sich zurück, hat man eventuell eine Depression. Hatte er die Gräuel des Bürgerkriegs erlebt? Wirkten die unauslöschlich nach? War ihm in einem neuen Land alles zu fremd? Hatten seine Eltern für ihn entschieden, dass er sich in dem ihm völlig fremden Land eine Existenz aufbauen sollte? Glaubte er in einer Art Wahn oder Verzweiflung, sich dem nur durch Selbstmord entziehen zu können? War es das?

 

Während ich noch über Enis‘ Tod nachgrübelte, hörte ich Marco Bentivoglio und Marina Dunst in der Waschküche nebenan reden. Wahrscheinlich war es Bentivoglios Waschtag und Marina fragte ihn, ob sie auch waschen konnte. Sie tat das regelmäßig und bat Bentivoglio auch sonst ständig um Gefallen. Bentivoglio sagte nie Nein. Er galt allgemein als hilfsbereit. Vielleicht lehnte er auch nur aus Schwäche kein Ansinnen ab ...

Ich war gerade dabei, die Maschine mit Schmutzwäsche zu füllen, stellte sie aber nicht gleich an, sondern horchte, weil die Stimmen nebenan so alarmierend laut wurden.

„Du spinnst!“, rief Marina. „In unserem Haus wird doch niemand umgebracht!“

„Wenn es ein IS-Mann war, dann haben die ihn vom Dach gestürzt und es wie Selbstmord aussehen lassen.“

Ich hörte etwas wie „Pffffft“ und stellte mir vor, wie Marina Dunst Marco Bentivoglio den Vogel zeigte. „Wer soll das gewesen sein?“, blaffte Marina wieder so laut, dass es geradezu herüberschallte.

„Na, die Geheimdienste, ein westlicher Geheimdienst.“ Bentivoglios Stimme wurde leiser und klang zittrig. „Haben ihn aufgespürt und neutralisiert.“

Marina sprach in einem Schwall, als hätte sie zuerst Luft geholt, und schrie dann los: „So ein Quatsch. Der Staat hier ist doch viel zu zahm. Terroristen kommen hier nicht hinter Schloss und Riegel … die kriegen Bauspardarlehen …“

Den Rest konnte ich nicht verstehen, weil sie auf einmal verschwörerisch leise sprach. Dann wieder laut: „Für mich ist der Fall abgeschlossen. Ich will nichts mehr davon wissen. Enis‘ Tod geht mir so was von am Arsch vorbei.“

Irgendetwas rumpelte, ich hörte Türenschlagen, Schritte. Zum Glück war meine Waschküchentür zu. Ich wartete reglos, wagte kaum zu atmen.

Ich habe die Maschine erst angeschaltet, als alles ganz still war und nur noch die Tauben vor dem Kellerfenster gurrten. Die pickten dort die Krümel auf, die von Frau Mooskops Fenstersims herunterfielen. Die Mooskop fütterte bei sich den ganzen Tag die Tauben.

Was ich gehört hatte, machte mir Angst. Nicht, dass ich Enis für ein IS-Mitglied hielt, mit allen Folgen, die das für uns hier drinnen haben konnte. Es war die Rohheit Marinas, die mich erschreckte. Wäre jemand, der so wenig Empathie für andere empfand, dem, um es genauer zu formulieren, der Tod eines Nachbarn am Arsch vorbeiging, nicht auch irgendwann zu schlimmeren Übergriffen fähig als zu bloßen Verbalattacken?

Und nicht nur das machte mir Angst. Samstags herrschte normalerweise viel Betrieb im Haus, ein Kommen und Gehen. An diesem Samstag war aber das Haus wie ausgestorben. Nicht einmal Boris Johnson und Churchill bellten. Da ich mich wie gesagt mit Paranormalem und nebenbei auch mit Geistern beschäftige, drängte sich mir die Vorstellung auf, dass Enis nach seinem Tod – in welcher Form auch immer – noch im Haus umherwandelte, die Einwohner das diffus spürten und sich so jeder vor dem Unheimlichen, dem Unbegreiflichen in seinen eigenen vier Wänden verschanzte. Auf jeden Fall waren die Verzweiflung und die Ängste noch gegenwärtig, die Enis ausgestanden haben musste, um eine so schwerwiegende Entscheidung zu treffen. Sie hingen in der Luft, sie hüllten das Haus in eine Todeswolke, machten es zu einem Totenhaus. Und zumindest das konnte wohl jeder spüren.

Am Sonntag stellte sich dann heraus, dass Enis vor seinem Tod ganz andere als die von mir angenommenen Ängste ausgestanden haben musste.

Die Polizei kam ins Haus, klingelte an jeder Tür, befragte uns alle.

Enis El Agha hatte Prellungen am ganzen Körper und Würgemale am Hals gehabt, die er sich nicht selbst hätte beibringen können. Es sah nach einem Kampf aus. Jemand hatte ihn aller Wahrscheinlichkeit nach übers Geländer seiner Terrasse gestürzt, oder es war im Handgemenge einfach passiert.

Wir waren von einem Totenhaus, wie es aussah, zu einem Mörderhaus avanciert. Und das Verbrechen hinge hier nach meinen Annahmen fortan in der Luft, würde sich nicht mehr aus den Mauern lösen.

Das war noch schlimmer. Neben dem Tod haftete dem Haus nun auch noch etwas Böses an.

Die zwei Polizisten, die mich im Treppenhaus vor meiner Wohnung befragten, waren freundlich. Sie wollten wissen, ob ich Enis gekannt und irgendetwas Ungewöhnliches im Haus beobachtet hatte. Als ich beides verneinte, wollten sie nicht mehr viel von mir. Ich hatte den Eindruck, sie hielten mich für unverdächtig. Sie fragten mich noch, ob ich wisse, wann Herr Zimmermann da sei. Ich sagte ihnen, dass Leonardo Zimmermann das Wochenende bei seiner geschiedenen Frau und seinen beiden Söhnen im Westend verbrachte.

Zimmermann hatte die Penthousewohnung schon lange vor seiner Scheidung gemietet. Es wurde im Haus gemunkelt, dass er dort seine Geliebte traf. Niemand hat aber je diese Geliebte gesehen. Entweder war sie ungemein diskret oder es gab keine Geliebte und Zimmermann wollte einfach irgendwo Ruhe vor seiner Familie haben. Nach der Scheidung hatte Zimmermann die Villa im Westend seiner Familie überlassen und war ganz in unser Haus gezogen. Er lebte hier nun schon ein Jahr fest, und es schien ihm zu gefallen. Seine monatlichen Aperitif-Einladungen haben das Haus-Klima bedeutend verbessert. Die Abende bei Zimmermann waren nicht nur ausgelassen, sie hatten etwas Familiäres. Man fühlte sich nach einer Einladung bei ihm mehr zu Hause im Haus, zugehörig. Das Haus erhielt etwas Heimeliges, zumindest für eine kurze Zeitspanne danach. Ich hoffte, diese Einladungen würden nach dem erschreckenden Tod von Enis nicht ausgesetzt. Ich gebe zu, es war taktlos von mir, das zu hoffen. So ist der Mensch, er kann ohne Weiteres in einer Schreckens-, einer Trauersituation an ein Vergnügen denken; vielleicht nur, um nicht unterzugehen.

Im Hintergrund ging Matt Reynolds vorbei, die Treppe hinunter. Er nahm nie den Aufzug. Die Polizisten drehten sich um. Matt hob die Hand zum Gruß und ging weiter. Anscheinend hatten die Polizisten Matt schon befragt.

Die Polizisten verabschiedeten sich von mir und gaben mir eine Karte mit einer Nummer, die ich anrufen sollte, wenn mir etwas einfiele, etwas, das ich gesehen oder gehört hätte und das hilfreich für die Aufklärung des Verbrechens sein könnte.

Als ich wieder alleine in meiner Wohnung war, fragte ich mich, ob Matt wirklich so bleich gewesen war, mit so dunklen Ringen um die Augen, oder ob die Neonbeleuchtung im Treppenhaus ihn so ungesund aussehen ließ.

Matt hatte es eilig gehabt. Als wollte er nur raus aus dem Haus. So fühlte ich mich jetzt auch. Ein Verbrechen war im Haus geschehen. Das Haus war noch nie ein kuscheliges Heim gewesen und nun schon gar nicht mehr. Klar, dass man sich an einem solchen Ort nicht mehr wohlfühlte und schon gar nicht mehr alleine wohlfühlte. Ich rief deshalb gleich Priscilla an. Ich musste mit jemandem reden, und ich wollte auch wissen, was die Polizei sie gefragt hatte.

Die Polizei hatte Priscilla unter anderem Fragen über die restlichen Bewohner gestellt. Priscilla hatte geantwortet, dass man im Haus nicht viele Kontakte untereinander hatte, sie engeren Kontakt eigentlich nur zu mir pflegte. Und dass man sich ansonsten privat nur bei Zimmermann einmal im Monat zum Aperitif traf. Dass wir einander im Haus nur flüchtig kannten, wunderte die Polizisten nicht. Das war in den meisten Mietshäusern so. Alle waren so mit sich selbst beschäftigt, dass Einladungen von Nachbarn eine Seltenheit waren. Man lud ja nicht einmal mehr Arbeitskollegen oder Freunde ein. Gewundert hat sie allerdings Zimmermanns Gastfreundschaft. Die fiel aus dem Rahmen in unserer müden Zeit.

Als Priscilla vorschlug, zu mir zu kommen, um das schreckliche Vorkommnis zu bereden, war ich erleichtert. Unter normalen Umständen hätte ich an meinem Manuskript über das Gedächtnis von Dingen und Orten weitergeschrieben. Daran war aber heute nicht zu denken. Ich konnte mich nicht konzentrieren, konnte nicht zur Tagesordnung übergehen. Ich war verstört, verängstigt.

Priscilla kam nicht alleine, sie war in Begleitung der Rauhaar. Was mir sonst aufdringlich erschienen wäre, einfach ohne Anmeldung bei mir hereinzuschneien, kam mir heute gelegen. Je mehr Personen zu mir kamen, umso sicherer fühlte ich mich. Ich freute mich sogar, dass Priscilla an die Rauhaar gedacht hatte; die Rauhaar war bekannt dafür, dass sie überall im Haus herumschnüffelte, wahrscheinlich ungemein viel Zeit hinter dem Spion ihrer Wohnungstür verbrachte und womöglich unverhohlen im Treppenhaus an den Türen horchte. Sie arbeitete zwar hier und da noch, nahm Verbesserungsarbeiten an, um ihre Rente aufzubessern, ihr war aber häufig langweilig ... Wenn wir uns im Treppenhaus über den Weg liefen, erzählte sie mir sofort den neuesten Klatsch aus dem Haus. Sie wusste einfach alles, was hier drin los war.