Übungen im Fremdsein

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Übungen im Fremdsein
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Olga Tokarczuk

Übungen im Fremdsein

Essays und Reden

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein

Kampa

Ognosie
Der Wanderer

Den Anfang machen möchte ich mit einem Holzstich unbekannter Urheberschaft, den der französische Astronom Camille Flammarion im Jahr 1888 veröffentlichte: Er zeigt einen Wanderer, der an die Grenzen der Welt gelangt ist, der seinen Kopf über die irdische Sphäre hinausstreckt und sich am Anblick eines geordneten und überaus harmonischen Kosmos freut. Seit meiner Kindheit bewundere ich dieses herrlich metaphorische Bild, das mir bei jeder Betrachtung neue Bedeutungen enthüllt. Es definiert das menschliche Wesen vollkommen anders als Leonardo da Vincis weithin bekannte Zeichnung des statischen und triumphalen vitruvianischen Menschen als Maßstab des Universums und seiner selbst.

Bei Flammarion handelt es sich nämlich um einen Menschen in Bewegung, einen Wanderer mit Pilgerstab, Reisemantel und Haube. Und auch wenn wir sein Gesicht nicht sehen, können wir uns doch dessen Ausdruck vorstellen – Faszination wird sich darauf malen, Bewunderung, Staunen über die Harmonie und unfassbare Größe der außerhalb unserer Sichtweite liegenden Welt. Aus unserer Perspektive sind wir lediglich in der Lage, einen Bruchteil der Welt wahrzunehmen, doch jener Wanderer sieht offensichtlich um vieles mehr. Auch haben wir hier deutlich umrissene Sphären, Himmelskörper, Umlaufbahnen, Wolken und Strahlen – die schwer darstellbaren Dimensionen des Universums, die sich gewiss weiter und weiter komplizieren, bis in die Unendlichkeit. Ausdruck des Unbegreiflichen sind auch die ineinandergreifenden Räder; solche Räderwerke begleiteten früher häufig die Engelswesen auf den Illustrationen zur Vision des Ezechiel. Auf der anderen Seite, hinter dem Rücken des Wanderers, befindet sich die Welt mit ihrer Natur, dargestellt durch einen mächtigen Baum und einige andere Pflanzen, und ihrer Kultur, symbolisiert durch die Türme von Städten. Diese Welt erscheint recht konventionell und banal, um nicht zu sagen – langweilig. Der Holzstich beschreibt, wie man sich denken kann, den Endpunkt einer langen Wanderung – dem Wanderer ist gelungen, was nicht vielen vor ihm gelang: Er hat den Rand der Welt erreicht. Und was jetzt?

Mir scheint der geheimnisvolle Holzschnitt unbekannter Provenienz eine ausgezeichnete Metapher für ebenjenen Moment zu sein, an den wir nun alle gelangt sind.

Die Welt ist klein

— im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist sie stark geschrumpft.

Wir haben zahlreiche Pfade ausgetreten, haben uns Wälder und Flüsse angeeignet, Ozeane überquert. Viele von uns haben den subjektiven Eindruck einer Endlichkeit der Welt erlangt. Dieses Gefühl hängt gewiss damit zusammen, dass sich dank der Globalisierung die Distanzen verringern und man jeden Ort auf Erden erreichen kann, vorausgesetzt, man hat die Mittel dazu. Und es hängt mit der leichteren Erkundbarkeit der Welt zusammen – schließlich kann man so gut wie alles im Internet nachschlagen, mit jeder beliebigen Person rasch in Kontakt treten.

Ganz sicher haben wir es hier mit einer neuen historischen Erfahrung des Menschen zu tun – und ich frage mich, wer wohl als Erster dieses Gefühl empfunden hat: dass die Welt im Grunde eher klein und gänzlich erfassbar sei. Vielleicht war es ein Geschäftsmann der neuen Generation, einer derjenigen, die gebakken lucht verkopen, wie die Niederländer sagen – »heiße Luft verkaufen«. Ein Herr Buy-Low-Sell-High, der immer auf Achse ist, der von Kontinent zu Kontinent jettet, einen Pass aus irgendeinem »guten Staat« in der Tasche. Morgens Zürich, abends New York. Und am Wochenende ein Abstecher auf eine warme Insel, wo der Herr ozeanische Träume träumt und seine Sinne mit Kokain schärft. Oder ist es im Gegenteil jemand gewesen, der nie die Grenzen seines Landkreises verlässt und nun seinem Kind Spielzeug aus fernen Landen kauft, gefertigt von Menschen, deren Existenz ihm bis vor Kurzem nicht einmal bekannt war? Das Spielzeug aber wirkt dennoch ganz vertraut und harmlos, es verbirgt seine Exotik hinter einer universalisierten und neutralen Form.

Eine Rolle bei dieser neuen Erfahrung der Kleinheit der Welt spielt gewiss das triste post iterum, die Nachreisetrauer, die uns befällt, wenn wir nach den intensiven Erfahrungen des weiten Reisens nach Hause zurückkehren. Wir meinen, bestimmte Grenzen erreicht oder etwas erlebt zu haben, das uns verwehrt geblieben wäre, wenn wir nicht in ein Zeitalter hineingeboren wären, in dem Reisen mehr bedeutet als Privileg oder Fluch – ein Abenteuer nämlich. Und wenn wir dann unseren Koffer wieder daheim in der Wohnung abgestellt haben, fragen wir uns: War das alles? Ist es das jetzt gewesen? Das ist es also, worum sich alles dreht?

Wir haben den Louvre besucht und die Mona Lisa mit eigenen Augen gesehen. Haben die Pyramiden der Maya bestiegen und versucht, das Drama der verrinnenden Zeit zu erspüren, die erbarmungslos vernichtet, was im Laufe von Jahrtausenden entstand. Haben in tunesischen oder ägyptischen Badeorten unsere Bäuche von der Sonne bescheinen lassen und einen Einheitsbrei von Ethnofood genossen, der ausnahmslos allen schmeckte. Die Steppen der Mongolei, die überfüllten Städte Indiens, der Blick auf den himmelhohen Himalaya …

Selbst wenn wir den einen oder anderen Ort noch nicht besichtigt haben sollten, so lebten wir doch bis zur Pandemie im Bewusstsein der realen Möglichkeit, dies jederzeit zu tun – Prospekte von Reisebüros verzeichneten die sogenannten Destinationen. Die ganze Welt lag fußläufig vor uns, überall hinzugelangen war möglich, wenn wir nur genügend Geld zusammensparten.

Wohl zum ersten Mal in seiner Geschichte macht der Mensch diese eindringliche Erfahrung der Endlichkeit der Welt. An den Abenden verfolgt er das Leben anderer auf den Bildschirmen und Displays seiner schlauen Geräte, sieht Menschen zu, denen er noch vor hundert Jahren niemals begegnet wäre auf seinem Lebensweg. Und während er sie so von Weitem betrachtet, entdeckt er, dass auch das Repertoire an Rollen und Möglichkeiten endlich ist und dass die Menschen einander stärker ähneln, als unsere Vorfahren es je gedacht hätten. Diese nämlich – wir erinnern uns – ließen ihrer Phantasie freien Lauf und malten sich genüsslich das Erscheinungsbild jener Völker aus, die auf jener anderen Seite der Erdkugel leben mochten, von der frühere Reisende so fasziniert waren.

Heute wissen wir – Fernsehen, Kino und Social Media sei Dank –, dass die Menschen in Übersee weder mehrere Köpfe noch ein einziges Bein mit einem großen Fuß oder aber ihr Gesicht vorn auf der Brust haben. Zwar unterscheiden sich die Menschen tatsächlich in ihrer Hautfarbe, ihrer Körpergröße und in manchen Sitten und Gebräuchen, diese Unterschiede jedoch sind – auch das wissen wir inzwischen – verschwindend gering im Vergleich mit den Ähnlichkeiten. Die anderen Menschen in ihren Städten und Ländern, Sprachen und Kulturen funktionieren ganz ähnlich wie wir. Sie lieben, verspüren Sehnsucht, begehren, sorgen sich um die Zukunft, ringen mit der Erziehung ihrer Kinder. Auf dieser fundamentalen Ähnlichkeit gründet sich die rasante Karriere einer neuen Erfindung – der Streamingportale. Der Reisende sieht, dass es im Grunde überall recht ähnlich ist. Es gibt Hotels, man isst von Geschirr, man wäscht sich mit Wasser, kauft den Daheimgebliebenen Souvenirs und Geschenke, die zwar das regionale Kunsthandwerk imitieren, aber dennoch (fast alle) eines gemeinsam haben: die Aufschrift made in China.

Auch ist bekannt, dass uns von jeder Erdenbürgerin, jedem Erdenbürger nur ungefähr sechs andere Personen trennen (nach dem Prinzip: Ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der X kennt usw.) und von den Zeiten Christi gerade einmal siebzig Generationen.

Früher einmal war die Welt riesig und mit der Vorstellungskraft nicht zu erfassen – jetzt ist nicht einmal mehr Vorstellungskraft vonnöten, denn alles ist zum Greifen nah, so nah wie das Smartphone in unserer Hand. Früher leuchteten auf den sorgsam erstellten Weltkarten weiße Flecken, die die Phantasie anstachelten und vor menschlicher Hybris warnten. Menschen, die auf Reisen gingen, rechneten stets damit, nicht zurückzukommen. Vor einer Reise setzte man vorsorglich sein Testament auf, und die Reise selbst war eine Grenzerfahrung, eröffnete einen Initiationsprozess, einen Prozess des Wandels, dessen Ergebnis weder bekannt sein noch so recht verstanden werden konnte.

Paradoxerweise lebten wir damals in einer Welt, die offen war für Phantasie, einer Welt mit allenfalls skizzierten Grenzen und voller Ungewissheiten. Diese Welt verlangte nach neuen Geschichten und neuen Formen, sie wandelte sich immerfort, entstand vor unseren Augen stets wieder neu.

Heute passt die Welt in unseren Kalender und in unsere Uhr. Wir können sie uns vorstellen, haben ihr tatsächliches Bild vor Augen. Innerhalb von drei Tagen kann man hingelangen, wohin man nur will (mit wenigen, mäßig interessanten Ausnahmen). Die weißen Flecke auf den Landkarten wurden von Google Maps bis zum Rand ausgefüllt, die Karten bilden mit grausamer Genauigkeit selbst die hintersten Winkel ab. Außerdem gibt es überall nur das Gleiche – die gleichen Dinge, Artefakte, Denkweisen, Währungen, Marken, Logotypen. Das Exotische und das Außergewöhnliche sind Mangelware und lassen sich häufig im Alltag gar nicht mehr finden; sie werden zu reinen Gadgets – wie in jenem Ostseebad, in dem ein direkt aus Thailand importiertes komplettes Thai-Restaurant aufgebaut wurde, oder auf dem flachen Land mitten in Europa, wo sich in einer gigantischen Halle eine imitierte Tropenlandschaft erstreckt.

Mit dem mobilen Endgerät in der Hand oder auf dem Schoß lässt sich immer und überall mit der Familie Kontakt halten, und sei sie Tausende von Kilometern entfernt, befinde sich in einer anderen Klimazone, herrsche bei ihr eine andere Tages- oder gar Jahreszeit. Ein Tourist in Tibet kann sich innerhalb von Sekunden mit seinem Zuhause im polnischen Skaryszewo verbinden. Menschen, die früher nie eine Chance gehabt hätten, einander kennenzulernen, können heute über Medien kommunizieren. Für unsere fünf Sinne ist die Welt – ich sage es noch einmal – klein geworden. Nichtsdestoweniger ist der Anblick der Erdkugel auf einem Foto aus dem All, aufgenommen von Menschenhand, atemberaubend und ergreifend. Eine kleine blaugrüne Kugel schwebt über einem unendlichen Abgrund. Zum ersten Mal in der Geschichte nehmen wir unseren Platz planetarisch wahr – als fest umrissen, zerbrechlich und leicht zu zerstören.

 

Hinzu kommt der Eindruck von Überfüllung, begrenztem Raum, Enge, der immerwährenden Anwesenheit anderer Menschen – der Eindruck der Endlichkeit unserer erlebten Welt mündet in ein klaustrophobisches Gefühl. Wen wundert’s, dass neuerdings der Traum vom Reisen ins Weltall wieder erwacht, der Traum, das alte wohlbekannte, enge und vollgestopfte Haus einfach zurückzulassen. Der Eindruck einer schrumpfenden und endlichen Welt verstärkt sich noch durch die Anbindung ans Internet und die allgegenwärtige Überwachung. O ja, denn wir leben bereits in einem Panoptikum – immerfort werden wir gesehen, beobachtet und analysiert. Das Gefühl der Endlichkeit banalisiert alles, denn nur das, was sich unserer Erkenntnis entzieht, kann unsere Begeisterung wecken und sich seinen wundersam geheimnisvollen Status bewahren.

Sesamische Welt

Unendlichkeit aber betrachten wir häufig als Chaos, da sie uns nicht gestattet, unsere bewährten Erkenntnismaßstäbe an sie anzulegen, ihr eine Struktur zu geben. Karten der Unendlichkeit gibt es nicht. Auch den Menschen verwirft sie als Maß aller Dinge.

Wünscht jemand wieder Unendlichkeit zu erfahren, so braucht er sich nur ins Internet einzuloggen. Hier lehrt ihn das starke Gefühl eines Zuviel an Welt eine Art resignierter Zurückhaltung – ich gehe meines Weges und lerne, einen Bogen um die überall winkenden Attraktionen zu machen; wie Lot bin ich, der aus dem brennenden Sodom flieht und dessen Wille stark genug ist, dass er sich – im Gegensatz zu seiner neugierigen Frau – nicht noch einmal umdreht.

Heute wird diese fast mit einer Katatonie vergleichbare Art der Erstarrung vor dem Bildschirm auch als Lot’s Wife Syndrome bezeichnet. Dieses Syndrom betrifft Millionen von Jugendlichen und Incels, die, besonders jetzt, in den Zeiten der Pandemie, allen Warnungen zum Trotz auf die brennenden Städte starren und ihren Blick nicht mehr abwenden können. Wenn ich auf der Suche nach Informationen im Internet surfe, habe ich oft das Gefühl, auf einem riesigen Ozean an Daten zu treiben, die sich zudem ständig selbst neu erschaffen und kommentieren. Derjenige, der das Verb »surfen« für die Internetsuche geprägt hat, verdient es, ein Genie genannt zu werden: Das Bild eines Menschen, der sich, einsam und allein, mit einem schmalen Brett auf den Wellenkämmen eines aufgepeitschten Ozeans zu halten versucht, trifft hier den Nagel auf den Kopf. Der Surfer wird von den Elementen fortgetragen, während er selbst seine Strecke nur in begrenztem Maße beeinflussen kann – er ergibt sich der Energie und der Bewegung der Wellen. Dieses Gefühl, lediglich der Spielball einer vom eigenen Willen unabhängigen Bewegung zu sein und somit gelenkt zu werden, sich einer Kraft von mysteriöser Gleichgültigkeit unterzuordnen, holt den alten Begriff des Fatum aus der Vergessenheit hervor, den wir heute bereits anders verstehen – als ein Netz der Abhängigkeit von anderen, als Übernahme von Verhaltensmustern nicht nur im biologischen, sondern auch im kulturellen Sinne, und die Folge davon ist der lebhafte und sich wohl noch intensivierende Identitätsdiskurs.

Die neue Unendlichkeit trat in die Welt des homo consumens, als diese Welt einem Sesam zu ähneln begann. Wir befahlen: »Sesam, öffne dich!«, und – es geschah! Der Sesam öffnete sich und überschüttete uns mit einer Fülle an Diensten, Waren, Typen, Mustern, Varianten, Arten, Moden, Trends. Ein jeder von uns hat wohl wenigstens einmal diese märchenhafte Vielfalt an Angeboten erlebt – und den beunruhigenden Verdacht, man bräuchte mehrere Leben, um sie auszukosten.

Und so reduzierte sich unser Leben quasi unbemerkt auf die Konsumption – den Erwerb von Waren, die Buchung von Dienstleistungen aus dem unerschöpflichen Angebot. In einer Erzählung des genialen Philip K. Dick können die von einer durchgedrehten Intelligenz gesteuerten Fabriken ihre Produktion nicht mehr stoppen, sodass für eine unendliche Zahl programmierter Waren der ideale Käufer geschaffen werden muss, ein vom Kosmos an Gütern hypnotisierter Superkonsument, ein Kunde, zu dessen Lebenssinn es werden soll, alle erdenklichen Varianten dieses oder jenes Produkts zu probieren, die Güte verschiedener Marken abzuwägen – von Lippenstiften, Gadgets, Parfüms, Kleidung, Autos, Toastern, wobei ihm spezielle Programme und Zeitschriften als Entscheidungshilfen dienen.

Diese Version, so futuristisch sie in den sechziger Jahren auch erscheinen mochte, ist schneller eingetreten als gedacht. Heute ist sie eine Beschreibung unseres Hier und Jetzt.

Dasselbe betrifft auch unsere Konsumption intellektueller Güter. Die Bestände virtueller Bibliotheken sind unendlich geworden – sitzt man am Computer, gewinnt man leicht den Eindruck, sich in einem Sesam zu bewegen, dessen Reichtum sich beim besten Willen nicht mehr erfassen lässt – weder die Fülle an Autoren noch an Titeln noch an Schlagwörtern. Ich finde es erschreckend, mir zu vergegenwärtigen, dass in derselben Zeit, in der ich diese Worte niederschreibe, Hunderte, wenn nicht Tausende anderer Artikel, Gedichte, Romane, Essays, Reportagen und Ähnliches entstehen. Die Unendlichkeit reproduziert sich selbst, sie dehnt sich immer weiter aus – und wir mühen uns, sie mit unseren gebrechlichen Suchmaschinen zu durchmessen, um das Gefühl zu wahren, noch immer die Kontrolle zu besitzen.

Meine Generation kommt damit besonders schlecht zurecht – sind wir doch in Zeiten des Mangels aufgewachsen, und viele von uns häufen Vorräte »für eine Krise«, »für eine Inflation« an. Das ist der Grund, warum mein Mann Zeitungen sammelt und Ausschnitte aufbewahrt, und es ist der Grund, warum er im Gefühl einer Mission, vergleichbar mit der göttlichen Weisung an Noah, Holzregale für Papierbücher zimmert. Unsere und die vorangehenden Generationen sind darauf gepolt, JA, JA, JA zur Welt zu sagen. Wir dachten uns: Ich probiere dies und das, fahre hierhin und dann dorthin, erlebe dies und jenes. Ich nehme dieses hier, und – kann ja nicht schaden – das da nehme ich auch noch.

Und nun taucht eine Generation an unserer Seite auf, die begreift, dass es in der neuen Situation die menschlich und ethisch wertvollste Entscheidung ist, sich im NEIN, NEIN, NEIN zu üben. Ich gebe dies und jenes auf. Beschränke das hier und das. Dies hier brauche ich nicht. Will ich nicht. Lasse ich lieber …

Mein Name ist Million

Eine der wichtigsten Entdeckungen der letzten Jahre – Entdeckungen, die Einfluss hatten auf die Selbstwahrnehmung des Menschen als Wesen – war ganz sicher die Feststellung, dass der menschliche Organismus, dass Organismen allgemein – also auch die von Tieren und Pflanzen – in ihrer Entwicklung und Funktionsweise mit anderen Organismen zusammenwirken, dass die Organismen somit in gegenseitiger Abhängigkeit verbunden sind. Aus der biologischen und medizinischen Forschung – hier ist zuallererst Lynn Margulis’ bahnbrechende Erkenntnis zu nennen, dass Symbiose und die Verbindung von Organismen untereinander als Motor für die Evolution und die Entstehung der Arten fungierten – wissen wir, dass wir eher kollektive als individuelle Wesen sind, eher eine Republik vieler verschiedener Organismen als ein Monolith, als eine hierarchisch strukturierte Monarchie. Dein Körper, das bist nicht nur DU – der Mensch hat lediglich 43 Prozent menschlicher Zellen, verkünden die Boulevardzeitungen und wecken so gewiss die Besorgnis manchen Lesers. Egal, wie oft du dich wäschst, Mensch, deinen Körper besiedeln doch weiterhin deine »Nachbarvölker«: Bakterien, Pilze, Viren und Archäone. Die meisten sind in den dunklen Winkeln unserer Eingeweide zu finden. Die derzeitige Corona-Pandemie bedient genau diese Horrorvorstellung – dass der menschliche Körper von anderen Wesen »kolonisiert« werden kann. Das klingt unfassbar und vollkommen revolutionär, wurden wir doch bislang von Philosophie und Psychologie monadisiert: Der Mensch als Monade, als »ins Sein geworfenes« Einzelwesen thronte einsam als »Krone der Schöpfung« über einem Königreich von Pflanzen und Tieren. Dieses Bild dominierte unsere Vorstellung und Selbstwahrnehmung. Beim Blick in den Spiegel sahen wir den reflektierten, denkenden Eroberer, eine von der Welt isolierte, häufig einsame und tragische Figur. Vor uns erschien das Gesicht eines weißen Mannes, und aus irgendeinem Grund stimmten wir der Aussage »Der Mensch – das klingt stolz« zu. Heute wissen wir, dass jener grandiose Homo sapiens nur zu 43 Prozent er selbst ist. Der Rest besteht aus diesem lächerlichen Kroppzeug, das man sich bisher leicht mit Antibiotika und Pestiziden vom Leib halten konnte. Das langsam entstehende Bewusstsein, dass wir komplex und abhängig von anderen Geschöpfen, ja sogar Teil eines biologischen »Multiorganismus« sind, bringt uns dazu, eher in Kategorien des Schwarms, der Symbiose, der Kooperation zu denken.

Ich denke, die Sünde, für die wir aus dem Paradies vertrieben wurden, war nicht Sex, sie war auch nicht Ungehorsam, ja nicht einmal die Entdeckung göttlicher Geheimnisse – unsere Sünde war ebenjene Selbstwahrnehmung als monolithische, vom Rest der Welt getrennte Einzelwesen. Wir haben uns abgesondert, uns aus dem Zusammenspiel der wechselseitigen Verbindungen ausgeklinkt. Das Paradies verließen wir unter dem gestrengen Blick eines ebenso von der Welt getrennten, monolithischen, monotheistischen Gottes (angesichts der derzeitigen Situation juckt es mich in den Fingern, ihn metaphorisch einen »Gott mit Mund-Nasen-Schutz und Handschuhen« zu nennen), und von da an pflegten wir die Werte jenes Standes: das Streben nach einer mythologisierten Integration, nach Ganzheit, die Egoisierung, den Monolithismus, den Monismus, das analytische, separierende Denken nach dem Entweder-oder-Prinzip (»Du sollst keine anderen Götter neben mir haben«), den Monotheismus, die Unterscheidung, Bewertung, Hierarchie, Abgrenzung, Absonderung, die strikte Schwarz-Weiß-Unterteilung, den Gattungsnarzissmus. Zusammen mit jenem gestrengen Gott gründeten wir eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die die Welt und unser Gewissen monopolisierte und zerstörte. Und infolgedessen war es uns nicht mehr möglich, die faszinierende Komplexität dieser Welt zu verstehen.

Die traditionelle Wahrnehmung des Wesens Mensch unterliegt heute einem drastischen Wandel – nicht nur aufgrund der Klimakrise, der Epidemie und der Entdeckung, dass die wirtschaftliche Entwicklung ihre Grenzen hat, sondern auch wegen unseres neuen Spiegelbildes: Das Bild des weißen Mannes, des Eroberers mit Anzug oder Tropenhelm, verblasst allmählich und verschwindet; stattdessen sehen wir so etwas wie Giuseppe Arcimboldos gemalte Gesichter – organische, vielfach verschachtelte, hybride Antlitze, bei denen man mehrmals hinschauen muss, die eine Synthese aus biologischen Kontexten, Entlehnungen und Bezügen bilden. Wir sind keine Bionten mehr, wir sind ein Holobiont, also ein Komplex verschiedener, miteinander in Symbiose lebender Organismen. Komplexität, Vielheit, Verschiedenartigkeit, gegenseitige Beeinflussung, Metasymbiose – das sind die neuen Perspektiven, aus denen wir die Welt betrachten. Ebenfalls im Verschwinden begriffen ist ein bestimmter, bis vor Kurzem noch fundamental erscheinender Aspekt des alten Systems: die Unterteilung in zwei Geschlechter. Heute erkennt man immer klarer, dass die menschliche Geschlechtlichkeit eine Art Kontinuum mit unterschiedlich stark hervortretenden Eigenschaften ist und nicht deren polare Gegenüberstellung. Jede/r kann hier seinen/ihren individuellen Platz finden. Welche Erleichterung!

Diese neue, komplexitätsbasierte Perspektive betrachtet die Welt nicht als hierarchisch aufgebauten Monolithen, sondern als Vielheit und Verschiedenartigkeit, als eine lockere organische Netzstruktur. Das Wichtigste ist aber, dass wir uns selbst innerhalb dieser Perspektive zum ersten Mal als komplexe und vielschichtige Organismen wahrzunehmen beginnen – dahingehend wirkt auch die Entdeckung von Biom und Mikrobiom mit ihrem überwältigenden Einfluss auf unseren Körper und unsere Psyche, auf die Gesamtheit dessen, was wir »Mensch« nennen. Ich vermute, dass die psychologischen Konsequenzen eines solchen Zustands sich als erstaunlich erweisen werden. Vielleicht kehren wir zur Auffassung von der menschlichen Psyche als einem Gefüge vieler Schichten und Strukturen zurück. Vielleicht fangen wir an, Persönlichkeit als Vielheit wahrzunehmen, und scheuen uns nicht mehr, multiple Persönlichkeiten als völlig normal und natürlich anzuerkennen. Im gesellschaftlichen Raum könnten dezentralisierte, netzartig organisierte Strukturen eine Aufwertung erfahren, während der hierarchische, auf dem ausgrenzenden Nationalgedanken gründende Staat zu etwas völlig Anachronistischem wird. Und vielleicht können irgendwann die monotheistischen Religionen mit ihrer starken Tendenz zu gewalttätigen Fundamentalismen die veränderten Bedürfnisse des Menschen nicht mehr befriedigen und fangen an, sich zu »polytheisieren«. Denn angeblich passt ja der Polytheismus viel besser zur Idee der Demokratie.

 

Heute ist jene traditionelle, raffinierte Konstruktion eines vom Rest der Welt sich abhebenden Menschen im Zerfall begriffen. Ich stelle mir das so vor, wie wenn ein mächtiger, morscher Baum sich langsam zu Boden neigt. Dieser Baum hört schließlich nicht auf zu existieren – lediglich sein Zustand durchläuft eine Veränderung. Von nun an wird er zum Ort noch intensiveren Lebens: andere Pflanzen beginnen auf ihm zu keimen, Pilze und Saprophyten besiedeln ihn, Insekten und Tiere richten sich Höhlen ein. Und auch der Baum selbst wird wiedergeboren aus seinen eigenen Trieben, Samen, Wurzeln.