Meerhabilitation

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Meerhabilitation
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Inhalt

Impressum 3

1 Tessa 4

2 Tessa 11

3 Raik 21

4 Tessa 24

5 Raik 31

6 Tessa 34

7 Tessa 43

8 Hannes 51

9 Tessa 54

10 Raik 60

11 Tessa 63

12 Tessa 66

13 Raik 73

14 Hannes 77

15 Tessa 81

16 Raik 90

17 Tessa 93

18 Hannes 99

19 Tessa 103

19 Raik 117

20 Tessa 120

22 Tessa 128

23 Hannes 133

24 Tessa 138

25 Tessa 145

26 Hannes 154

27 Tessa 159

28 Tessa 169

29 Hannes 178

30 Tessa 183

31 Tessa 193

32 Raik 200

33 Hannes 206

34 Tessa 213

35 Hannes 221

36 Tessa 224

37 Tessa und Raik - Vier Jahre später 229

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-027-3

ISBN e-book: 978-3-99131-028-0

Lektorat: Mag. Angelika Mählich

Umschlagfoto: Ivan Kurmyshov | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1 Tessa

»Sehr geehrte Damen und Herren, in wenigen Minuten beginnen wir mit unserem Landeanflug auf Reykjavik. Wir ersuchen Sie, sich hinzusetzen und wieder anzuschnallen. Bitte schalten Sie Ihre elektronischen Geräte aus, bringen Sie Ihren Sitz in eine aufrechte Position und klappen Sie das Tischchen hoch. Wir werden in Kürze landen. Vielen Dank!«

Die Stimme der Stewardess ließ mich augenblicklich hochfahren. Ich hatte fast den gesamten Flug verschlafen. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal so müde gewesen war. Müde und ausgelaugt. Gefühllos. Regungslos. Fast schon betäubt. Ich spürte tief in meinem Inneren eine endlose Leere, gepaart mit unendlicher Müdigkeit und Antriebslosigkeit. Ich hatte diesen gewagten Schritt gehen müssen. Meine Flucht war unausweichlich gewesen. Es war fast schon unglaublich, wie ich es doch letztendlich geschafft hatte, zu entkommen. Ich hatte mich einfach in Luft aufgelöst, keine Spuren hinterlassen. Nichts.

Nun saß ich in der Icelandair Boeing 767 und schaute nachdenklich beim Fenster hinaus. Island, das magische Land meiner Träume. Dieses bezaubernde Land übte auf mich eine unglaubliche Anziehungskraft aus. Tief in meinem Inneren hatte ich schon immer gewusst, dass ich eines Tages hierherziehen würde, deswegen fing ich schon vor etlichen Jahren an, die Landessprache zu erlernen. Ich war nun einigermaßen gut vorbereitet. Kein leichtes Unterfangen, denn Isländisch zu lernen war alles andere als einfach, doch mittlerweile konnte ich mich schon fließend unterhalten.

Nun war es so weit. Ich hatte den Schlussstrich ziehen müssen. Einen Neuanfang wagen. Für mich gab es kein Zurück mehr. Warum hatten nur so viele Menschen Angst, von vorne zu beginnen und alles Erlebte hinter sich zu lassen? Es konnte doch funktionieren, oder etwa nicht? Einfach die Sachen packen und los! Tja, manchmal war das leichter gesagt, als getan. Ich konnte verstehen, dass nicht jeder Mensch den Mut aufbringen konnte, diesen Schritt zu gehen.

In meinem Fall war es allerdings anders. Die verzwickte Lage, in der ich mich befand, hatte mir in den letzten Jahren das Leben nicht gerade leicht gemacht. Ich wollte mich schon viel früher in Luft auflösen, aber das ging nicht. Es war mir einfach nicht möglich gewesen. Das Böse hielt mich gefangen. Es hatte mich so fest in umklammert, dass ich zu ersticken drohte. Ich wunderte mich immer noch, wie lange ich es überhaupt ausgehalten hatte und wie stark ich eigentlich gewesen war.

Die Ohren fielen mir zu und ich merkte den sanften Druckanstieg, als die Maschine mit dem Sinkflug begann. Ich erhaschte einen Blick nach draußen. Die weite, eisige und verschneite Landschaft erstreckte sich in ihrer vollen Pracht vor meinen Augen und huschte wie ein weißer Schatten vorbei. Es war tiefster Winter. Alles weiß. Es schien, als würde die gesamte Insel im Winterschlaf sein. So still und leise. So friedlich.

Da es jetzt kein Zurück mehr gab, lehnte ich mich in meinem Sitz zurück, kuschelte mich fest hinein und versuchte, alles Geschehene wieder aus meinem Gedächtnis zu löschen. Ich hatte den Reset-Knopf gedrückt. Das war meine allerletzte Chance, wieder auf die Beine zu kommen, mich gänzlich aufzurichten. Ganz von vorne anzufangen.

Wer war ich nun eigentlich? Tessa, eine schöne und starke, lebensfrohe junge Frau, doch warum hatte ich es nur so weit kommen lassen? Das Böse hatte sich ganz langsam und unbemerkt in mein Leben geschlichen. Stück für Stück hatte es die Oberhand gewonnen, und bevor ich es merken konnte, war es letztendlich zu spät.

Ich sah beim Fenster raus und erblickte darin mein Spiegelbild. Ich sah mich an und begann mein Äußeres zu durchforsten. Ich hatte mich schon lange nicht mehr richtig im Spiegel angesehen.

Generell gesehen hatte ich mich nicht allzu sehr verändert. Niemand konnte es mir ansehen, dass ich bereits 33 Jahre alt war. Die ersten 30 Jahre musste ich nicht ungeschehen machen, nur die letzten drei. Diese waren die Hölle gewesen. Sanft legte ich meine Hand auf das angelaufene Kabinenfenster und berührte mein Spiegelbild. Große, graublaue Augen blickten mich neugierig an, umrandet von endlos langen Wimpern. Meine Haut war immer noch makellos, einige Sommersprossen, aber kaum eine Falte zu erkennen. Lachfältchen konnte ich nicht viele entdecken, da ich in den letzten Jahren nicht allzu viel zu lachen hatte. Nur die Glabella, die Zornesfalte zwischen meinen Augenbrauen hatte sich ein wenig vertieft. Darüber konnte ich jedoch schmunzelnd hinwegsehen. Ich mochte kleine Schönheitsfehler, sie sind das Salz in der Suppe.

Ich untersuchte weiter mein Gesicht. Wunderschöne volle Lippen. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, öfter geküsst zu werden. Viel zu selten war dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Meine langen, leicht gewellten, kupferroten Haare vervollständigten das Spiegelbild. Ich war eine wahre Schönheit. Zart und schön wie eine wilde Blume, die gerade noch rechtzeitig vor dem Verwelken gerettet werden konnte. Ich mochte, was ich sah; die Liebe zu mir selbst war bis zum heutigen Tag ungebrochen. Ich hatte mich selbst nie aufgegeben, das war für mich keine Option gewesen.

Eine Sportskanone war ich nie gewesen, hatte allerdings in den letzten Jahren eine Vorliebe fürs Joggen entwickelt. Das war auch mein einziger Trost und gleichzeitig ein Ventil, mit meinem Schicksal klarzukommen. Jede Schweißperle stand für eine vergossene Träne. Jeder Laufschritt war ein Hoffnungsschimmer, der mir Kraft gab weiterzumachen, um zu überleben. Kraft zu schöpfen und den Fluchtplan in meinem Kopf wieder und wieder durchzugehen, sodass letztendlich nichts mehr schiefgehen konnte. Die täglichen Laufrunden durch den kleinen verträumten Wald hinter unserem Haus waren meine Heilung gewesen. Damit konnte ich es zwar nicht ungeschehen, jedoch ein wenig erträglicher machen. Ich hatte Gott sei Dank auch noch die Gene meiner Mutter. Ich konnte essen, was ich wollte und war trotzdem gut in Form. Jede andere Frau würde mich für diese Aussage hassen, doch ich konnte nichts dafür. Entweder erbt man die Gene oder nicht, so einfach war das.

 

Mit einem heftigen Ruck setzte das Flugzeug auf. Touchdown.

»Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind soeben in Reykjavik gelandet!«, ertönte es aus den Lautsprechern.

»Wir hoffen, Ihnen hat der Flug mit der Icelandair Boeing 767 gefallen und Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt bei uns an Bord. Bitte bleiben Sie noch so lange angeschnallt sitzen, bis wir unsere endgültige Parkposition erreicht haben. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Island und würden uns freuen, Sie bald wieder an Bord begrüßen zu dürfen. Vielen Dank und auf Wiedersehen!«

Die hübschen Stewardessen machten sich rasch an die Arbeit, die Passagiere zu verabschieden. Ich konnte es kaum erwarten, aus dem Flugzeug auszusteigen. Alles begann zu wuseln, die Fluggäste kramten herum und jeder wollte als Erster Richtung Ausgang. Ich brauchte dringend Frischluft.

»Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch«, verabschiedete mich die Flugbegleiterin und setzte ihr schönstes Zahnpastalächeln auf.

Mit einem »Danke, Ihnen auch«, bedankte ich mich und stieg die Treppe hinunter.

Ich setzte den ersten Schritt auf isländischen Boden. Nun konnte mein neues Leben beginnen. Endlich war es so weit.

Kaum aus dem Flugzeug draußen, hielt ich kurz inne. Ich nahm einen tiefen Zug und sog die eisige Luft in meine Lungen hinein. Der Duft der Freiheit. Es roch nach Meer und Moos, nach Hoffnung und Neubeginn. Eine Woge der Erregung durchflutete plötzlich meinen Körper und all meine Härchen richteten sich auf. Gänsehaut am ganzen Körper! Wow, was für eine Begrüßung!

Unwillkürlich fing ich an zu lächeln, ja ich konnte förmlich den Startschuss meiner Selbstheilung spüren. Ein leichter Rausch floss durch meine Adern. Ich konnte kaum glauben, dass ich es geschafft hatte.

Anschließend holte ich den einzigen Koffer, den ich mitgenommen hatte, um bei der „Abreise“ – oder besser gesagt Flucht – nicht aufzufallen, am Gepäckband ab und winkte das erstbeste Taxi herbei. Ein Koffer musste erst mal reichen. Winterbekleidung, Unterwäsche, Laufhosen und T-Shirts, zwei Paar Schuhe, Kosmetika, meine Canon-Kamera, drei Lieblingsbücher und einige wichtige Dokumente. Kein Handy, kein Tablet, keine Verbindung zur Außenwelt. Das war alles. Das sollte für den Anfang vorerst reichen. Alles andere konnte ich hier besorgen, wenn es unbedingt notwendig sein sollte. Ich wollte auch nicht zu viele Erinnerungen mitnehmen, diese würden mich nur in der Vergangenheit festhalten. Ich konnte es kaum erwarten, mein neues Zuhause zu sehen.

Zuhause … Was für ein wunderschönes Wort, das gleichzeitig so viel bedeutete.

»Guten Morgen! Wohin soll die Fahrt gehen?«, begrüßte mich der Taxifahrer freundlich auf Isländisch, als ich die Autotür öffnete.

»Nordurströnd 17, bitte«, antwortete ich.

Das Taxi setzte sich in Bewegung und rollte fast geräuschlos die verschneite Fahrbahn entlang.

»Aus dem warmen Süden wieder zurück?«, scherzte er.

»Nein«, gab ich schmunzelnd zurück.

»Ich bin das erste Mal in Island.«

Verblüfft sah mich der Taxifahrer mit seinen eisblauen Augen im Rückspiegel an. Er sah leicht irritiert aus.

»Sie scherzen! Sie sprechen ja meine Sprache. Touristen sprechen kein Isländisch, junges Fräulein«, fügte er hinzu.

»Da haben sie wohl recht. Ich bin keine Touristin. Ich werde für immer hierbleiben, das ist mein neues Zuhause«, antwortete ich leicht verträumt, und musste wieder schmunzeln.

Erstaunlich. Ich hätte nie gedacht, dass mein Akzent nicht zu bemerken gewesen wäre. Er hatte mich tatsächlich für eine Isländerin gehalten. Die teuren Sprachkurse mussten sich wohl tatsächlich bezahlt gemacht haben. Der Taxifahrer fing an zu lachen.

»Da haben Sie sich aber ein kühles Plätzchen ausgesucht. Und Sie sind wirklich freiwillig hier?! Haha!«, lachte er laut auf und schüttelte belustigt den Kopf.

»Ja, genauso ist es, ich bin freiwillig hier …«, antwortete ich. Wenn er nur wüsste, welche Mühe und Gefahren ich auf mich genommen hatte, um hier und jetzt in diesem Taxi zu sitzen. Ich wurde sozusagen freiwillig dazu gezwungen. Was für ein lustiges Wortspiel.

Ich blickte aus dem Fenster. Wir fuhren entlang der Küste Richtung Seltjarnarnes, eine wunderschöne Gemeinde direkt an Reykjavik angrenzend. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause hatte ich mich nur anhand von Bildern und Onlinerecherchen sofort in diese Halbinsel verliebt. Was Seltjarnarnes wirklich auszeichnete war, dass die Halbinsel fast gänzlich vom Meer umgeben war. Die malerischen Küstenwanderwege und der unendlich weite Panoramablick auf die Berge luden zum Träumen ein.

Das definitive Highlight war der Grótta-Leuchtturm, der als einer der besten und schönsten Aussichtspunkte Reykjaviks gilt, sowohl für die Beobachtung der Nordlichter im Winter als auch für die Sommernachtssonne in der wärmeren Jahreszeit; Zudem galt er auch als Oase der Vogelvielfalt, da auf Seltjarnarnes bereits über mehr als 110 unterschiedlichen Vogelarten registriert wurden. Viele Touristen berichteten zudem darüber, dass man von den Pfaden aus die gut genährten Robben an den felsigen Stränden liegen sehen und, manchmal auch Wale beobachten konnte. Für eine Naturliebhaberin, wie ich es war, klang das wie ein Märchen. Ich konnte es einfach nicht erwarten, dieses Naturschauspiel mit eigenen Augen zu beobachten.

Von Beruf war ich Meeresbiologin. Ich hatte nicht nur Meeresbiologie studiert, sondern lebte es auch. Mein Beruf war zu Berufung geworden. Der Schutz der Meere – und besonders der Widerstand gegen das brutale Abschlachten von Delfinen und Walen – war für mich inzwischen zum Lebensmittelpunkt geworden. Mein letzter Job im „Haus des Meeres“, inmitten der Großstadt Wien, konnte mir auf Dauer keine Befriedigung verschaffen. Fische gehörten ins Meer, nicht in einen Schaukasten. So viel stand fest. Ein Grund mehr, endlich ans Meer zu ziehen. Die Leidenschaft direkt vor der Nase zu haben und sie jeden Tag aufs Neue erleben zu dürfen.

Wir fuhren weiter. Die weiße, tief verschneite Landschaft zog an uns vorbei. Alles schien so friedlich und verschlafen. Ja, es konnte einfach nur gut werden. Nirgendwo sonst als hier, auf dieser wunderbaren Insel, wäre ein Neubeginn besser denkbar gewesen. Hier würde mich niemand finden, niemand mehr verletzen oder mir mehr wehtun. Hier war ich richtig. Ich würde ganz von vorne anfangen, mich um eine neue Arbeitsstelle kümmern und mein Erspartes wohlüberlegt einteilen. Einen Gang zurückschalten und die Dinge in meinem Kopf neu ordnen, mir mehr Raum zum Atmen geben, um dieses Mal die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich war jetzt auf mich alleine gestellt, stand seit Langem erst mal wieder auf eigenen Beinen. Es fühlte sich verdammt gut an!

»So, wir sind da. Das macht dann 289 Kronen«, riss mich der Taxifahrer aus meinen Tagträumen.

»300, stimmt schon.« Ich reichte ihm das Geld und stieg aus dem Taxi. Mann, oh Mann, ein ganz stolzer Preis. Kein Wunder, dass ich nicht allzu viele Taxis auf dem Weg hierher gesehen hatte. Der Bus wäre sicherlich um einiges günstiger gewesen.

Mit einem »Viel Glück und herzlich willkommen! Auch wenn es sehr kalt und rau aussehen mag, wir Isländer tragen das Feuer immer im Herzen«, verabschiedete er sich.

Das Taxi setzte sich in Bewegung und fuhr langsam davon.

Ich blieb alleine am Gehsteig stehen und sah ihm nach. Es fing an zu schneien. Ich blickte hinauf zum Himmel und schloss entspannt meine Augen. Ich spürte, wie die Schneeflocken mein Gesicht berührten und auf meiner warmen Haut dahinschmolzen. Da ich keine große Eile hatte, genoss ich dieses Gefühl eine Zeit lang. Ich war da. Ich hatte es geschafft. Die gesamte Vorarbeit hatte sich letztendlich gelohnt. Ich schlug ein neues Kapitel auf, die erste Seite eines neuen Buches. Meines Buches.

Tessas Buches.

2 Tessa

Ich hatte mir erst mal für ein ganzes Jahr ein kleines, idyllisches Häuschen direkt an der Nordküste von Seltjarnarnes gemietet. Ich weiß, ganz schön mutig, so nah am Wasser zu leben, wo das Klima hier derart wild und erbarmungslos war, aber für mich war es die einzig richtige Option. Erstens konnte ich so meinem geliebten atlantischen Ozean möglichst nahe sein, zweitens, war ich nicht weit von der Hauptstadt entfernt, wo ich auch Arbeit finden konnte, und drittens hatte ich genug Abstand zu den übrigen Menschen.

Ich musste erst mal alleine sein und zu mir selbst finden. Mich wieder erinnern, wer ich eigentlich war, und wohin mein Weg gehen sollte. Viel zu lange hatte ich mich in der Vergangenheit herumkommandieren und beeinflussen lassen. Mich „besitzen“ lassen. Damit war jetzt Schluss!

Nun konnte ich seit Langem wieder meine eigenen Entscheidungen treffen.

Ich schaute auf die Stadtkarte und versuchte mich zu orientieren. Ohne Google Maps war das eine richtige Herausforderung. Ich blickte in die Richtung, wo sich das Haus hätte befinden sollen.

Üppige, mit Schnee behangene Bäume, die hörbar unter der eisigen Belastung ächzten, versperrten mir den Blick. Ich sah einen schmalen Trampelpfad, der sich zwischen den Bäumen hindurch schlängelte und ging diesen vorsichtig hinab. Ich machte kleine Schritte, versuchte nicht auszurutschen und plötzlich sah ich es.

MEIN kleines Haus!

Ich war endlich an meinem Ziel angekommen. Es war einfach wunderschön. Von der Situation übermannt, blieb ich einfach kurz stehen und genoss den Ausblick.

Ganz einsam und doch so stabil und stolz, stand es einfach nur da. Zirka zweihundert Meter bis zum Wasser und der leicht zum Ozean geneigte Hang, machten den Ausblick auf den Atlantik einfach perfekt. Ich stand mit offenem Mund da und verfiel in eine Art Starre. So schön hatte ich es mir einfach nicht vorgestellt. Klar, ich kannte das Haus von etlichen Fotografien, doch es hier und jetzt mit eigenen Augen zu betrachten, verschlug mir den Atem. Ich wusste, warum ich mich ursprünglich in dieses Haus verliebt hatte. Wenn man am Hang stand und hinuntersah, konnte man die gesamte Schönheit überblicken. Die unendliche Weite bis zum Horizont ließ mich alles vergessen. Die Kraft der Natur überrollte mich mit voller Gewalt und ließ mich sprachlos zurück!

Die Fassade des Hauses war an der dem Hügel zugewandten Seite mit dunkelbraunen, vertikal angebrachten Holzlatten verkleidet, die nordisch angehauchten Fenster waren weiß gestrichen. Die in Richtung des Ozeans ausgerichtete Seite war komplett mit rustikalen Natursteinen bis zum Dach hin zugemauert. Nur in der Mitte dieser Steinmauer befand sich eine Tür, wahrscheinlich konnte man durch diese Tür auf die Terrasse gelangen. Zwischen den Steinen, die aussahen, als hätte man sie einzeln in der freien Natur gesammelt und mit viel Liebe an der Hausmauer angebracht, wuchs dichtes Moos, das teilweise unter dem Schnee hervorblitzte. Das Dach war mit einer dicken Schneedecke bedeckt, was dem Ganzen eine gemütliche Note verlieh. Zum Wasser hin konnte ich eine kleine Steinterrasse erkennen, die weiße Pracht ließ meiner Fantasie noch viel Raum übrig.

Ich konnte es kaum erwarten, das Haus zu betreten. Wie ein Überraschungsei stand es da und wartete darauf ausgepackt zu werden. Rasch ging ich hinunter und suchte den Haustürschlüssel. Wie mit der Vermieterin vereinbart, lag er unter einem großen Stein neben der Eingangstür. Da die Einbruchsrate in Island sehr gering war, wollte die Hausbesitzerin die Tür überhaupt unversperrt lassen, aber ich bestand darauf, trotzdem den Schlüssel zu verstecken.

Als ob ein Einbrecher unser tolles Versteck nicht ohnehin nach einer fünf minütigen Suche gefunden hätte. Ich lachte kurz in mich hinein. Typisch österreichische Mentalität. Ich musste mich langsam davon lösen und freier, wilder werden. Öfter Risiken eingehen … Ja, ich musste unbedingt an mir arbeiten!

Ich schloss die Tür auf und öffnete die aus massivem Holz bestehende, mit Metallbeschlägen und isländischen Ornamenten versehene Eingangstür. In der Mitte war ein schwerer Messingtürklopfer in Form eines Pferdekopfes, dem Nationaltier Islands, angebracht. Mit einem leisen Knarren ging sie auf. Mein Herz machte einen freudigen Satz als ich hineinging. Ich konnte meinen Augen nicht trauen.

 

Der Innenbereich war riesig! Ich blickte auf einen offenen loftähnlichen Wohnbereich und stand plötzlich in einem riesigen Raum, der schöner nicht hätte sein können. Die Wände waren in einem ruhigen, graublauen Ton gestrichen, der untere Wandabschnitt mit marineblauen, vertikalen Holzlatten verziert. Es hatte einen maritimen, skandinavischen Touch. Eine riesige, dunkelbraune Vintage Ledercouch, die auch als ausziehbare Schlafcouch diente, ein massiver Holztisch, ein gemütlicher Schaukelstuhl in der Ecke, ein paar Sitzpölster, geschmackvolle Wandlampen und ein weißes Bücherregal – das war die gesamte Inneneinrichtung. Der Kochbereich bestand aus einer Kochnische mit den nötigsten Geräten, einem stabilen, quadratischen Holzesstisch mit zwei Stühlen und einer dunkelblauen Glasvitrine. Flauschige Tierfelle waren über den graubraunen Parkettboden verteilt. In die Nordwand, die dem Meer zugewandt war, hatte man ein drei mal vier Meter großes Panoramafenster eingebaut, mit einer endlos langen, mit Pölstern verzierten Fensterbank davor. Ich wusste jetzt schon, dass ich an diesem Platz viele Stunden mit Lesen verbringen würde. Die vielen Fenster ließen so viel Licht hinein, dass die Sonnenstrahlen das Haus durchfluteten und den Wohnbereich in einen magischen Ort verwandelten. Ich war überwältigt.

So einfach und doch so hübsch! Das war mein neues Zuhause und ich fühlte mich sofort wohl. Ich war angekommen. Geistig und vor allem körperlich. Ich konnte mir das Grinsen einfach nicht verkneifen, nahm Anlauf und ließ mich quietschend auf die große Couch plumpsen.

Ich schloss die Augen und atmete den neuen Duft der Freiheit ein. Es roch nach Zedernholz mit einem Hauch von Mut und Selbstbewusstsein. Ich wusste, dass alles gut werden würde. Den schwersten Abschnitt hatte ich bereits hinter mir gelassen. Jetzt konnte mein neues Leben beginnen, mit allem, was dazugehört.

An den nächsten Tagen machte ich mir eine Liste mit den nötigsten Sachen, die ich besorgen musste. Essen und Trinken, Gläser und Besteck, Körperpflegeartikel und einige Dekoartikel, um dem neuen Zuhause meine eigene Handschrift zu verleihen. Ja, ich hätte mir nichts Schlimmeres vorstellen können, als im verschneiten Island ohne Tampons festzusitzen. Da ich mein gesamtes Hab und Gut zurücklassen musste, empfand ich es nun als eine riesengroße Erleichterung, mich komplett neu einzurichten und neue Sachen zu kaufen.

In den darauffolgenden Tagen hatte mich schon so gut eingelebt, dass ich beschloss, es endlich mit der Stadt aufzunehmen. Ich war wieder bereit, Menschen um mich zu haben, und mich mit dem einen oder anderen auszutauschen. Isolation funktionierte nur bedingt, es war wieder an der Zeit, meine kleine, schützende Blase zu verlassen. Ich packte mich im Inuit-Style gut ein, streifte mir meine pinken Moonboots über und schon konnte es losgehen!

Dieses Mal nahm ich mutig den Bus. Die Taxifahrten würden meine Ersparnisse auf Dauer deutlich minimieren. Ich kam besser als erwartet zurecht. Kaum im Zentrum Reykjaviks angekommen, führte mich mein allererster Weg zum größten Autohändler, den ich finden konnte. Ich betrat den Laden und kam mir vor wie im Land der Riesen, denn anscheinend fuhren hier alle nur SUVs und riesige Geländewagen, deren Reifen fast so groß waren wie ich selbst. Hier herrschte die Devise »bigger is better«.

»Guten Tag! Kann ich Ihnen behilflich sein?«, begrüßte mich der freundliche Autoverkäufer mit einem gekonnten Perlweißlächeln. In seinem dunkelblauen Anzug sah er eigentlich eher aus wie ein Politiker. Ich mochte keine Politiker. Sein Aftershave machte die Situation nicht besser, denn er roch, als hätte er darin gebadet. Ich versuchte durch den Mund zu atmen.

»Guten Tag, wenn sie mich schon so fragen, ich bin auf der Suche nach einem Auto«, antwortete ich leicht irritiert. Man konnte es mir nur allzu gut ansehen, dass ich mit dem Fahrzeugangebot deutlich überfordert war. Autos zählten für mich zu den Gebrauchsgegenständen, die mich von A nach B beförderten, mehr nicht.

»Zum Kauf oder als Leasing?«, fragte er mich.

Aha, der Kunde wurde anscheinend bereits bei der ersten Frage klassifiziert und in Schubladen gesteckt. Hätte er mich gleich fragen sollen, wie viel Geld ich auf dem Konto hatte?! Irgendwie amüsierte mich die Situation.

»Ich würde gerne ein praktisches, kleines Auto kaufen, wenn geht, gebraucht, nicht älter als drei Jahre. Allerdings bin ich nicht gleich davon ausgegangen, mit einem Truck nach Hause zu fahren«

Der Verkäufer leckte sich kurz die Lippen, als er das Wort „kaufen“ hörte und ich könnte schwören, winzig kleine Dollarscheine in seinen Pupillen erkannt zu haben.

»Ich bin eher auf der Suche nach einem kleineren Wagen, einen VW Polo, oder so?« Ich war mir aber ziemlich sicher, dass ich mit solch einem Auto nicht nach Hause fahren würde.

»Wenn Sie mir eines glauben können, ist es die Tatsache, dass Sie in ganz Island keinen VW Polo finden werden. Bitte vertrauen Sie mir, wenn Sie den Winter hier überleben möchten, dann würde ich Ihnen dazu raten, sich die großen Jungs hier anzusehen«, sagte er stolz und zeigte auf die Ausstellfahrzeuge. Von Jeep, Nissan, Kia, Opel bis BMW, VW und Audi, alles was einen Namen hatte, war hier bunt vertreten und stehts in XXL-Ausführung.

»Na ja, einen Blick kann ich ja mal darauf werfen«, sagte ich verunsichert, wusste aber insgeheim, dass der Verkäufer recht hatte. Die Winter hierzulande waren sehr lang und rau. Ich lebte hier quasi am Nordpol und wollte mich im Straßenverkehr sicher bewegen.

Tja, das waren auch schon meine letzten Worte, bevor ich eine halbe Stunde später in meinem nigelnagelneuen, moosgrünen Jeep das Autohaus verließ. Hoch über dem Boden schwebend und mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht, der mich selbst überraschte, düste ich die Straße hinunter Richtung Mall. Der Autoverkäufer hatte nicht nur einen guten, sondern einen ausgezeichneten Job gemacht. Seine Monatsprovision war ihm jetzt schon sicher. Doch alles in allem hatte ich mich vollkommen richtig entschieden. Der isländische Winter ließ mir keine andere Wahl.

»Carpe diem, Tessa! Carpe diem!«, sagte ich leise zu mir.

»Das hast du dir so was von verdient!«

Das Fahren in diesem Monstrum bereitete mir solch eine Freude, dass ich deutlich spürte, wie meine Wangen zu glühen begannen. Rechte Kurve, linke Kurve, in den Außenspiegeln konnte ich den Pulverschnee in allen Richtungen davonspritzen sehen. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das ins Bällebad hüpfen durfte.

Plötzlich huschte vor meinen Augen ein schwarzes Etwas vorbei! Direkt vor mein Auto!

VOLLBREMSUNG!!!

Ich schrie erschrocken auf, der Jeep geriet ins Wanken, Spurhaltung ade! Wie in Zeitlupe konnte ich erkennen, wie ich mich im Uhrzeigersinn zu drehen begann. Die Umgebung drehte sich im Kreis, weiße Landschaft, Bäume, weiße Landschaft, Bäume … Ich hielt das Lenkrad so fest, dass sich sogar meine kurz geschnittenen Fingernägel ins Leder zu bohren begannen. Das war’s dann wohl mit meinem neuen Wagen, wie gewonnen, so zerronnen. Im Radio lief „At last“ von Etta James. Das Auto drehte sich rhythmisch im Takt zur Musik. Das hatte beinahe schon etwas von einer gefühlvollen Tanzeinlage auf dem Eis, wie im Eiskunstlauf. Was für eine absurde Situation! Ich kam von der Straße ab und landete mit einem lauten Knall im nächstgelegenen Schneehaufen!

Stille.

Ich wagte es nicht mal, mich zu bewegen. War ich verletzt? Gelähmt oder etwa tot?!

»Tessa, jetzt mal tief durchatmen!«, ermahnte ich mich mit einem leicht panischen Unterton. Ich öffnete die Augen, bewegte vorsichtig meine Finger, meine Arme, meine Beine und hob schließlich ganz langsam den Kopf. O. k., soweit ich das beurteilen konnte, war ich o. k. Meine Hände zitterten, ich spürte wie das Adrenalin durch meine Adern zischte.

»Oh, mein Gott, Miss, alles o. k?!«, hörte ich draußen jemanden rufen. Eine männliche Stimme. Warum nannten mich alle nur »Miss«?. Das war auf so vielen Ebenen falsch, aber eigentlich sollte es mir schmeicheln. Er hämmerte gegen meine Fensterscheibe und versuchte den Schnee wegzuwischen.

»Hallo?!! Ja, ich bin hier drinnen!«, rief ich instinktiv zurück.

»Ich hole Sie hier raus! Nur keine Panik!«, antwortete der Fremde.

»Ist gut! Ich warte dann so lange.«

Herrgott, wie peinlich, Tessa! Sehr intelligente Antwort. Na klar, wo sollte ich denn sonst hin? Ich war ja regelrecht im Auto gefangen. Schamesröte stieg mir ins Gesicht.

Der nette Helfer schaffte es irgendwie mit viel Mühe und Not, die Fahrertür mit den Händen vom Schnee freizuschaufeln und öffnete sie mit einem kräftigen Ruck. Da ich mich dagegenstemmte, um ihm zu helfen, plumpste ich im gleichen Moment hinaus und fiel hochkant auf ihn drauf! Gemeinsam fielen wir wie ein Fleischklops in den Pulverschnee.

Er landete rückwärts im Schnee und ich klatschte recht tollpatschig auf ihn drauf.

»Ähm, hallo. Ich meine, danke!«, stammelte ich vor mich hin.

Mit einem breiten und gleichzeitig unwiderstehlichen Lächeln sah er mich an. Unsere Gesichter waren nur fünf Zentimeter voneinander entfernt, ich konnte seinen warmen Atem spüren.

»Gern geschehen«, antwortete er.

Oh, mein Gott! So nah war ich einem männlichen Wesen sage und schreibe seit Jahren nicht mehr gewesen! Er lag einfach nur da und machte keine Anstalten, sich von mir wegzubewegen. Er fand unsere verzwickte Lage sehr amüsant und lächelte mich unentwegt an. Dumpfe, stampfende Geräusche lenkten mich plötzlich ab und mit einem Mal sprang mich wie aus dem Nichts ein schwarzes, nasses Fellknäuel an.

»Schleck!«

Seine feuchte Zunge schlabberte alles ab, was sie erwischen konnte und landete auf meinem Gesicht. Das kitzelte überall und ich konnte nicht anders, als mich zur Seite zu rollen und kichernd den Überfall über mich ergehen zu lassen.