Besser als nix

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Besser als nix
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nina pourlak

besser als nix.

roman


Nach einem Einfall von Sebastian Lempe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eISBN 978-3-86506-417-2

© 2009 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Frederick Ring, Stuttgart

Titelfoto: Frederick Ring, Stuttgart

Satz: Satzstudio Winkens, Wegberg

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

1 der anfang vom ende zum anfang

2 schwarzsehen für anfänger

3 ungeahnte perspektiven

4 die nacht des lebenden toten

5 ein ganz schwarzer tag

6 das ziel ist das ziel

7 der erste und der zweite abschied

8 zwei allein zu haus

9 der ernst des sterbens

10 ein mann, ein anzug

11 zwei schritt vor, einer zurück

12 anruf aus dem jenseits

12 es ist, was es ist ...

13 grün hinter den ohren

14 nachtgedanken & tagträume

15 ein hans kein glück

16 hello goodbye

17 kein zurück

18 alles ist anders

fast 19 & wie neugeboren

Danksagung

C.S. Lewis Preis

1 der anfang vom ende zum anfang

Mike trägt jetzt Skinny Jeans. Das sieht so scheiße aus bei ihm, wie ein Muskelmännchen. Oben breit und unten ganz dünn. Madlen steht wohl drauf. Er sagt, es war seine Idee, aber na ja. Mir soll es egal sein. Nur, wenn er sich bückt, seh ich seine Po-Ritze und das ist beileibe echt too much.

Die wissen überhaupt nicht, was diese Jeans bedeuten. Die bedeuten Musik, die bedeuten Gitarren und London und Punkrock und – na ja. Jedenfalls nicht Saufen im Feld, Karstadt und Klingeltöne. Ist egal. Ist vorbei, wie gesagt. Das ist nun mal ein Dorf. Bin ich wenigstens nicht der Einzige, der hier so rumläuft. Ich hatte meine zuerst, die musste ich mit der Kreditkarte von Papa online bestellen. Von Cheap Monday. Er hat das überhaupt nicht verstanden, dass meine Jeans nun unbedingt aus London kommen muss.

Ein Jahr lang haben mich alle damit ausgelacht. Und jetzt das. Jetzt ist es auf einmal cool. Ich frag mich nur – seh ich auch so blöd damit aus? Hier gibt es keine Ganzkörperspiegel, nur so kachelkleine Spiegel-Quadrate über den Waschbecken. Ist halt ‘ne Sportlerkabine.

Wir ziehen uns aus. Es stinkt nach Schweiß hier und das noch vor dem Training. Alter Schweiß, der sich überall reingefressen hat. Nach und nach kommen die anderen Jungs rein. Die meinen das ernst mit dem Sport. Die haben richtig Muskeln und so, weißt Du ja. Ich steh auf Mädchen, O.k. Aber ganz sicher nicht auf die, die es hier gibt.

Ich stell sie mir vor. Mädchen. Mädchen mit schwarz gefärbten Haaren in Vintage-Klamotten. Mädchen mit Bandshirts und Tätowierungen. Mädchen mit bunten Sonnenbrillen aus amerikanischen Indiefilmen. Wilde Mädchen, die nicht Steffi heißen. Ich weiß, dass es sie gibt, irgendwo. Mich hat das Internet verseucht.

Ich hab schon früh gemerkt, dass ich irgendwie nicht hierher gehöre. Dass ich anders bin. Ich hab mir aber am Anfang noch richtig Mühe gegeben, dass das keinem außer mir auffällt. Ganz normal sein, wie die anderen. Aber das hat nicht geklappt. Dann hab ich’s halt gelassen.

Papa ist erst ins Grübeln gekommen, als ich angefangen habe, meine Haare zu färben. Als ich dann auch noch meine Garderobe ganz allmählich auf Schwarz umgestellt habe und nächtelang am Computer saß, ist ihm richtig mulmig geworden. Und als beim Elternabend meine Lehrerin schließlich angemerkt hat, ich sei eher der Außenseiter im Klassenverband, da hat er wohl befürchtet, dass ich demnächst Amok laufe oder so was. Ich weiß, da macht man keine Scherze mit.

Jedenfalls hat er angefangen, seltsame Fragen zu stellen, mich zum Fußball zwangsverpflichtet – und ich glaube, er war auch heimlich an meinem Computer. Aber was sollte er schon groß herausfinden, erstens gab es wirklich nichts Besonderes, und zweitens: Er kann ja noch nicht mal eine E-Mail alleine verschicken ...

Ich hab ihm dann freiwillig verraten, dass ich auf diesen Streetstyle-Seiten surfe, wo man gut gekleidete Menschen in den Metropolen dieser Welt bewundern kann. Nicht, dass hier alle total hinterm Mond wären, aber das ist einfach noch mal was ganz anderes. Fernweh, sag ich nur. Hab dann eben gleich noch gefragt, ob ich die Nummer von seiner Kreditkarte haben kann, weil ich mir Klamotten online bestellen wollte. Aus England. Und da war er dann erst richtig geschockt. Als ob das bei ‘nem Jungen total unnatürlich wäre ...

Ich glaube, es wäre ihm fast lieber gewesen, ich hätte doch irgendwelche krassen Ballerspiele gespielt ... Das wäre dann wieder O.k. Ganz normal eben.

Vielleicht sollte ich das gar nicht schreiben hier. Aber es ist schließlich so was Ähnliches wie mein Tagebuch, da muss man ja offen und schonungslos sein, oder?

Außerdem – Du weißt ja, wie er ist ...

Also. Ich wollte Dir erzählen, wie es mir geht. Wie es uns geht. Und wie alles so gekommen ist, wie es jetzt ist. Ich weiß nicht, ob Du das lesen kannst. Ob es Dich erreicht. Aber ich stelle mir das jetzt einfach mal so vor. Ich meine ehrlich, wenn ich 100 % davon ausgehen würde, dass Du das liest, dann würde das bedeuten, dass ich – also – dass ich daran glaube, dass –

Peng.

Der Ball trifft mich mit voller Wucht am Kopf. Immerhin – kein Tor. Jetzt bloß keinen Schmerz zeigen. Ein weißhaariger Mann mit Trillerpfeife im erhitzten Gesicht kommt auf mich zugehastet und fuchtelt mit den Armen: »Du musst dich auch mal bewegen, Junge. In Aktion treten!« Kopfschüttelnd sieht er mich an.

Ja, Papas Haare sind mittlerweile richtig weiß, Du würdest Dich wundern.

Ich konnte mich nicht entscheiden, für welche Seite – denk ich – sag ich aber natürlich nicht, als er schon wieder energisch mit seiner Trillerpfeife zum Angriff bläst. Würde die Lage nicht verbessern. »Das ist genau dein Problem«, wäre seine Antwort. »Du kannst dich nicht entscheiden, was du nach der Schule machen willst. Nicht entscheiden, was du heute Abend essen willst, und nicht einmal als Torwart taugst du was, weil du dich einfach nicht entscheiden kannst, in welche Ecke du springen sollst. Ich verstehe nicht, wie jemand so überhaupt überleben kann, auf dieser Welt. Ich war nie so ...«

Ich weiß ganz genau, dass er das sagen würde.

Meistens antworte ich deswegen gar nicht. Kaltes Wasser lass ich über mein Gesicht laufen. Ich guck mich im Spiegel an, in der Mädchenkabine, die haben einen Größeren.

Auf der einen Seite ist es weiß, auf der anderen ganz rot und über der Augenbraue leicht angeschwollen. Von vorne verläuft die Linie schräg. Gäbe ein gutes Plattencover. Ich sollte morgen ein Foto im Passbildautomaten machen.

Mike klimpert mit dem Autoschlüssel, als ich aus der Tussi-Umkleide komme: »Was machst denn du da drüben ... Aha ... Soso ...«

Witzig, witzig. Ich grinse gequält. Seit ich einmal mit Kajal rumexperimentiert habe, muss ich mir so was von ihm anhören. Mike ist da genau wie Papa. Und das hier ist eben ein Dorf, die verstehen so was nicht.

»Hey, is’ was?«

Ich schüttle den Kopf. »Nee, was soll ’n sein?«

»Wir treffen uns nachher vorne, im Feld. Kannst ja auch kommen. Wenn du deine Gitarre zu Hause lässt.«

 

Schon klar. Ich nicke. Ich seh mich nicken. Schlagfertig wie immer. Ich würde lieber in Mikes alter Karre Autofahren üben. Meine Führerscheinprüfung naht. Aber momentan schiebt er so einen auf Romantik mit Madlen ...

Draußen wartet Papa schon ungeduldig im Auto. Er kann nicht fassen, dass ich wirklich sein Sohn bin, glaub ich. Klein, dünn, blass und immer dieses Schwarz – Ich kann nicht fassen, dass er nur Jogginganzüge trägt. Er ist mir peinlich und ich bin ihm peinlich. Eine echte Enttäuschung. Wie ein komplett falsches Geschenk zu Weihnachten – vom Umtausch ausgeschlossen. Wenn das anders wäre, könnten wir vielleicht sogar zusammen Autofahren üben. Aber wir sind schon aneinandergeraten, als wir vor Jahren noch versucht haben, meine Mathe-Hausaufgaben zusammen zu machen. Und es hat sich in der ganzen Zeit bis jetzt nichts verändert.

Als ich ihm letztens zeigen wollte, wie er seine E-Mails und irgendwelche Fußball-Ergebnisse im Internet abrufen kann – weil er mittlerweile der einzige Trainer im ganzen Landkreis ist, der seine Termine nicht per Mail verschickt und auch die Nachrichten der anderen nicht bekommt –, hat er sich so störrisch geweigert, das auszuprobieren, dass ich beschlossen habe, es aufzugeben.

Er kommt einfach nicht damit klar, etwas von mir zu lernen. Und ich andersrum genauso wenig. Also – egal, wer hier wem was zeigen will – es endet bei uns auf jeden Fall in der Katastrophe.

Daher fahren wir nur um die Ecke. Zum Grillbüdchen. Normalerweise gibt es dann Pommes rotweiß und Rostbratwurst, mein Vater steigt aus und quatscht sich fest. Mit seinen Sportkameraden von früher. Die, die wissen, wie er aussah, als er jung war – wer er war und wer er hätte sein können.

Und was dann passiert ist.

Ich lauf dann irgendwann nach Hause.

Aber heute trägt er die ganze Fuhre Pommes ins Auto und bugsiert den Wagen etwas abseits. Das verheißt nichts Gutes.

Stille.

Schließlich schnauft er beiläufig: »Wie sieht es denn aus mit deiner Lehrstelle?«

Langsam guckt er zu mir rüber. Ich halt mich am Türgriff fest. Das musste ja kommen. Tapfer erwidere ich den väterlichen Blick. Das Problem ist, ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Von dem, was es hier gibt, kann ich mir gar nicht vorstellen, irgendwas zu werden.

Wie soll ich ihm das bloß begreiflich machen? Papa, es gibt hier keinen Beruf für mich. Aber die Schule weitermachen will ich auch nicht. Und ich weiß auch nicht, wie ich hier wegkomme. Weil ich nicht genau weiß, wo ich hingehöre. Soll ich das etwa sagen? Das wäre ehrlich.

»Gut, gut sieht es aus. Wir sind jetzt von der Schule her in der Orientierungsphase. Morgen ist die Berufsberatung in Kiel. Die meinen, das ist alles gar nicht so schlimm mit den Lehrstellen, wie es immer heißt. Wenn die mir erst mal sagen, was ich am besten werde, weißt du, dann hab ich auch ein Ziel.« Ich lächle möchtegernsouverän. Komme mir vor wie ein Versicherungsbetrüger oder so was. Ich weiß, ich bin ihm ein Rätsel.

»Ich wusste immer, was ich werden will. Wie kann man denn das nicht wissen, du musst dich doch für irgendwas begeistern ...«, kommt es auch prompt.

Er mustert mich und meine schwarz gefärbten Strähnen. »Oder willst du etwa Friseur werden oder so was?«

»Nein!«, wehre ich leicht genervt ab.

»Gut!«, Papa öffnet beruhigt die Strippe seiner Jogginghose und atmet durch. Das war anscheinend seine größte Sorge.

Immerhin hat er gefragt.

Von draußen klopft Sportsfreund Jan ans Fenster, mit einer Flasche Bier. Carsten rappelt sich auf. »Also O.k., ja, Tom. Aber wenn es ernst wird, musst du Bescheid geben. Ich kann dich irgendwo unterbringen. Bei der Ulrike im Autohaus oder bei der Post ...«

Klar.

Carsten ist schon weg, vorne am Tresen des Campinganhängerwürstchenbüdchens wird er von seinen Freunden, den übrigen Sportskanonen, begrüßt. Sie sprechen über ihre alten Triumphe, als wären sie erst ein paar Tage her und nicht so lange, wie ihre wuchtigen Bäuche mittlerweile schon in die Breite gewachsen sind.

Und über Tabellenstände, Spielergebnisse, irgendwelche Pokale und Lokalderbys. Veränderungen in der Bundesliga, Trainerwechsel oder Abstiegskämpfe werden hier nahezu philosophisch ergründet. Ich brauch mich gar nicht dazuzustellen – das ist für mich wie eine Fremdsprache. Tags darauf berichtet Papa dann seinen Fußballjungs darüber, was er für sie entsprechend daraus ableitet. Wenn er ihnen dann seine neuesten Lebenserkenntnisse in diesem Fußballerlatein verschlüsselt vermittelt, sieht er manchmal wieder so jung aus, als läge nicht dieser graue Schleier über ihm. Dann hat er für Momente so ein strahlendes Gesicht wie früher. Bei mir kriegt er das nie ...

Aber die gucken ja auch alle so andächtig, als ob der liebe Gott persönlich vor ihnen stehen würde ... Weil er hier so was wie eine lebende Legende ist: der Typ, wegen dem Bayern München mal in Schwarzbeck verloren hat. Schon dass die hier antreten mussten, ist seinerzeit schon eine Sensation gewesen. Aber dass sie auch noch zwei zu eins verloren haben – beide Tore geschossen von Papa persönlich – Wahnsinn. Einer von hier – da war Boris Becker mit seiner Hechtrolle auf dem Rasen von Wimbledon nix dagegen. Deswegen haben sie Carsten hier auch auf Lebenszeit verpflichtet. Und selbst Uwe Seeler war zu Besuch da.

Das ist zwar schon über zwanzig Jahre her. Und die Bayern sind damals auch mit ihrer B-Mannschaft angetreten, aber daran erinnert sich ja jetzt sowieso keiner mehr: Was zählt, ist das Ergebnis. Auch so ein Spruch von meinem Vater.

Ich beschließe, quer durchs Feld zu laufen.

Es wird langsam dunkel. Sonnenblumen säumen meinen Weg.

Autohaus – ich hab noch nicht mal meinen Führerschein bis jetzt ... oder bei der Post ... Jeden Morgen auf dem Fahrrad unterwegs, gejagt von Schäferhunden und einsame Hausfrauen, und zur Weihnachtszeit Tausende Online-Bestellpakete durchs Dorf karren. Oder hinterm Schalter, Briefmarken abzählen mit Kundenkontakt: »Haben Sie sich denn schon mal Gedanken über das Postbankkonto gemacht?«

Bin ich das? Ist es das? Vierzig, fünfzig Jahre?

Und dann ein Platz hier, auf dem Friedhof, und ein Spruch auf dem Grabstein: I did it my way.

Seit Du nicht mehr da bist, gibt es keine Blumenbeete mehr vor der Tür. Man kann alles überall liegen lassen. Es gibt keine Abendbrotzeit oder Frühstückszeit, kein zusammen am Tisch sitzen bleiben oder Brote für die Pause mitnehmen. Freunde, die vorbeikommen, finden das sogar cool ... Ich vermisse insgeheim, wie es früher war. Zu Weihnachten hab ich sogar Plätzchen gebacken, deswegen. Ziemlich mädchenmäßig, ich weiß. Kam auch nicht so gut an.

Ich kann mich gar nicht an die großen Sachen mit Dir erinnern. Z. B. »meine Einschulung«. Oder der letzte Geburtstag, als Du noch da warst. Ich habe eher lauter kleine Momente im Kopf, Zipfel von Geschichten, Puzzle-Teile, die ich noch festhalten konnte. Ich frage mich, wie das Gedächtnis sich die Sachen aussucht, die es sich merkt. Hoffe, dass ich ein paar Teile für immer in meinem Kopf behalte. Dass ich mit geschlossenen Augen Dein Bild aufrufen kann, in Gedanken.

Aber das fällt mir sogar bei Papa manchmal schwer – obwohl der ja die ganze Zeit da ist und auch immer gleich aussieht. Wahrscheinlich Verdrängungsmechanismus. O.k., das ist gemein, aber die einzige gemeinsame Unternehmung mit ihm ist mittlerweile das Fußballtraining mit zwanzig sportlicheren Typen und der Moment vor dem Imbiss danach. Bestimmt bring ich es deswegen nicht übers Herz, da auszusteigen. Wenn er heimkommt, ist es längst nach zwölf, und sportlich war vor allem sein Trinkrekord. Der Wagen bleibt stehen, kurz hinter dem Bolzplatz.

Ich geb’s zu. Eigentlich fehlt mir was anderes.

Morgens ist mein Gesicht lilablau angelaufen auf einer Seite, ums Auge herum sieht es wie geschminkt aus – Tokio Hotel ist gar nix dagegen. Wirkt ziemlich verwegen. Die Berufsberatung wird es hoffentlich nicht stören. Oder sie empfehlen mir gleich einen Job als Türsteher oder Erschrecker in der Geisterbahn. Was soll’s – Opa hat immer gesagt: »Der Gesamteindruck zählt.« Ein schwarzes T-Shirt und die schwarzen Wildlederschnürer zur engen Jeans, wenn ich nicht etwas für den Style in diesem Ort tun würde, dann würde echt alles vor die Hunde gehen.

Es reicht schließlich, dass einer in der Familie mit der Jogginganzuguniform unterwegs ist. Das ist meine Form der Rebellion. Irgendwann werden sie mich hier vielleicht verstehen, aber dann bin ich wahrscheinlich schon ganz weit weg. Über alle Berge ...

Ach ja ... Noch nicht mal die gibt es hier. Berge.

2 schwarzsehen für anfänger

Fahrradfahren ist was Tolles, eine der wenigen Tätigkeiten auf der Welt, über die ich sagen würde: Das macht mich richtig glücklich. Zum Beispiel da, wo man ganz nah am Meer langfahren kann, sodass man es schon richtig riecht. Wenn dann der Gegenwind pustet und ich voll in die Pedale treten muss, kann ich meine Gedanken fliegen lassen. Dann ist es genau hier perfekt.

Von Schwarzbeck nach Kiel ist es ‘ne ganz schöne Strecke. Genauer gesagt 20,4 km – laut Navigationsgerät. Trotzdem – besser frei auf dem Fahrrad, als im vollgestopften Bus gleich zu Beginn des Tages den ganzen Mutanten zu begegnen.

Draußen vor dem grauen Klotz von Gebäude warten sie schon: die Menschen, mit denen ich den bisher wichtigsten Abschnitt meines Lebens verbracht habe, meine Mitschüler. Aber nur die, die immer noch keinen Ausbildungsplatz ergattert haben, die absolut keinen Plan haben, so wie ich. Freakshow.

Manchmal würde ich mich gerne hinter einer dicken, schwarzen Sonnenbrille verschanzen wie ein Hollywoodstar. Zum Beispiel jetzt.

Dann meine gute, alte, immer um alles und jeden besorgte Klassenlehrerin, Frau Frevert, nur echt mit brauner Ledertasche unterm Arm und Hosenröcken an den Beinen. Hässlich und hinreißend zugleich. Und wer ist das da neben ihr? Bestimmt die neue Referendarin – die eigentlich erst mit dem nächsten Schuljahr anfängt, aber jetzt anscheinend trotzdem schon mal da ist. Wahrscheinlich wurde ihr das empfohlen, zum »Reinschnuppern« ...

Ich weiß, ich sollte nicht so zynisch sein. Ich kann nichts gegen diese Menschen hier sagen. Sie haben mich nie gemobbt, unterdrückt oder ungerecht behandelt. Ich habe ihnen nichts vorzuwerfen. Trotzdem: Am liebsten würde ich weiterfahren. Immer weiter. Und dann einfach beschließen irgendwo zu bleiben, spontan. In einem Dorf mit einem lustigen Namen. Oder einer Stadt mit einem blauen Haus neben einem See.

Ob das ginge – einfach einen Ort zu suchen, der einem gefällt, und dann dortzubleiben? Und wenn ich einfach so abhauen würde?

»Tooooom!«

Zu spät. Entdeckt. Stehen bleiben.

»Na, träumst du etwa?«

Die neue Referendarin schmunzelt mich an und trägt dabei Chucks. Na so was. Wie heißt sie noch mal? Bestimmt Steffi. Das war so, früher. Steffi Graf. Jetzt heißen die Mädchen Anna, Lea und Sarah. Und die Typen Lukas, Paul und Tom, so wie ich. Hab ich bei www.beliebte-vornamen.de nachgeguckt. Da kann man sich die Vornamens-Hitlisten bis 1890 oder so reinziehen. Aber hier bei uns auf dem Dorf sieht’s nicht so aus wie in der aktuellen Top Ten, da stehen auch die größten Namens-Hits der Achtziger und Neunziger noch ganz vorne mit dabei – die Olivers, Stefans und Markusse dieser Welt.

Wir haben sogar einen Mike. Aber der ist nicht da. Der hat schon einen Ausbildungsplatz. Der hatte immer schon einen Plan. Mike wird KFZ-Mechaniker.

Papa wäre froh, wenn ich Mike wäre.

Mike der Mittelstürmer.

Vielleicht hätte er mich einfach anders nennen müssen, von vornherein. Vielleicht wurden da schon die Weichen gestellt ...

»O.k. Also: jeder erhält jetzt von mir einen Fragebogen, den er bitte gewissenhaft ausfüllt und sich dabei Gedanken zu seinen Interessen macht. Wir gehen die Antworten dann direkt hier durch und sprechen Empfehlungen aus. Und dann könnt ihr euch vor Ort über die passenden Berufe informieren und gleich im Computer gucken, ob ihr vielleicht Adressen findet zum bewerben. Bitte seid bei euren Wünschen und der Einschätzung eurer Talente ehrlich und realistisch, damit es auch was bringt«, sagt Steffi, die eigentlich Sarah heißt. Sie verteilt die Bögen.

Finden Sie heraus, wo Ihre Stärken und Schwächen liegen!

Was macht mir Spaß?

Was kann ich besonders gut?

 

Was interessiert mich?

Überlegen Sie, welche Berufe zu Ihren Interessen und Fähigkeiten passen könnten!

Welche Tätigkeiten interessieren mich?

Wo möchte ich gerne arbeiten?

Womit möchte ich arbeiten?

Was möchte ich beruflich erreichen?

Einige meiner Mitschüler kichern und schreiben witzige Antworten auf. »Ich möchte Germany’s Next Topmodel werden« und so. Hilfe. Man darf auch nicht vergessen, dass ich ein Jahr älter bin als die anderen, fast zwei.

Sowieso, warum sollte man unbedingt dazugehören? Wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, bitte, dass sich von allen Menschen auf der Welt ausgerechnet in der eigenen Schulklasse die aufhalten, die am besten zu einem passen? Das wäre doch ein bisschen zu einfach, oder?

Als ich noch klein war, da war irgendwie alles ganz selbstverständlich, und ich hab nicht mal ein bisschen über so was nachgedacht. Da hab ich einfach dazugehört. Aber seit ich einmal sitzen geblieben bin, noch in der Grundschule, kurz nachdem das mit Dir war, hab ich irgendwie den Faden verloren ...

In der neuen Klasse war ich auf einmal der Loser. Von da an hab ich mich dann irgendwie bewusst ins Abseits gestellt, damit ich meine Ruhe hatte ... Und jetzt ist das eben meine Position geworden. Wie beim Fußballspiel. Da steh ich ja auch immer im Abseits – nee, kleiner Scherz. Aber da hat ja auch jeder Spieler seinen Bereich. Und ich steh eben im Tor. Falls ich überhaupt eingewechselt werde.

Ich hoffe, Du machst Dir keine Sorgen, wenn ich das alles so schreibe, und denkst, ich bin hier total alleine. Ich weiß sowieso – Du machst Dir immer gleich Sorgen. Ich erinnere mich noch daran, wie wir zusammen Fernsehen geguckt haben: Du warst immer ganz aufgeregt, sogar bei irgendwelchen Kinderfilmen, die wir schon zigmal zusammen gesehen haben. So aufgeregt, dass ich Dir manchmal vorher ins Ohr geflüstert habe, wie es ausgeht, damit Du kein Nasenbluten kriegst oder so.

Deswegen sage ich das jetzt lieber auch gleich: Mach Dir keine Sorgen, wenn Du das hier liest. Wenn ich das hier an Dich schreibe, dann bin ich ja schließlich noch da, und außerdem bin ich ja die Hauptfigur der Geschichte – ich will jetzt nicht sagen der Held oder so. Aber die Hauptfigur, die bleibt der Geschichte ja meist bis zum Schluss erhalten.

Also. Ich schreib einfach in den Fragebogen, was mir in den Kopf kommt. Mal sehen, ob mir noch zu helfen ist ... Glaub ich zwar nicht, aber O.k. An mir soll’s nicht scheitern ...

»Ich will Anzüge tragen, das stell ich mir irgendwie vor, aber nicht in der Bank arbeiten. Ich würde gerne auch handwerklich tätig sein, etwas richtig bauen oder herstellen, aber nicht nur rackern. Im Büro sitzen, aber auch draußen unterwegs sein. Manchmal habe ich gerne mit Menschen zu tun, wenn sie nicht so viel reden und ich auch mal meine Ruhe haben kann. Ich will etwas tun, woran ich glaube, etwas, das für die Menschen wichtig ist, und einen sicheren Arbeitsplatz, nix, was nächstes Jahr abgeschafft wird. Und ich will immer gerne einen Abschluss. Etwas, das auch Mal zu Ende geht, wo man sich das Ergebnis angucken kann.«

So. Gibt es das?

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