Nela Vanadis

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Aus der Reihe: Nela Vanadis #2
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Nela Vanadis
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Nina Lührs

Nela Vanadis

Schicksalsbund

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Landkarten

Prolog

Uralte Winkelschwüre

Die verborgene Höhle

Die Villa Vanadis

Von Falken und Gauklern

Lidam einer Sebjo

Einer gegen alle

Der rebellische Drauger

Botschaft aus Asgard

Der aufdringliche Walkür

Freyas Wunsch, Odins Befehl

Hoch gepokert

Getrübte Wiedersehensfreude

Der Entschluss

Der Schlüssel zur Freiheit

Olf Rollins

Flucht ins Ungewisse

Hoffnungsvolle Suche

Folge den Spuren

Vagabunden, Gaukler und Wegelagerer

Pfade kreuzen sich

Nemida

Abschied von ihrer Samana

Verständnis für die Liebe

Das Schwanenkleid

Das Ritual

Das Erwachen der Talente

Die Kenning beginnt

Das Herbstfest

Die heimtückische Falle

Gesundung

Die Welt unter dem Felsspalt

Epilog

Glossar

Impressum neobooks

Widmung

Für Angela und Hartmut

Landkarten




Prolog

Verbundenheit. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, welches uns zu einer Einheit verbindet, ist die stärkste Schnur des Schicksals.

Die Nornen verknüpfen mit ihren Fäden unauflösliche Bande. Stets spielt es eine Rolle, welche Art des Verbundenseins uns an anderen Individuen schnürt. Die Liebe in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen ist das stärkste Band.

Doch webt das Schicksal auch Bande, die gegensätzlich unserer innigen Gefühle sind. Sie zwingen uns in Bündnisse, denen wir uns fügen müssen.

Stets besitzen die festen Bande die untrügliche Eigenschaft, uns zu schützen, um uns gemeinsam gegen feindliche Pakte zu wehren.

Manchmal schnüren die Nornen mehrere, zuweilen widersprüchliche Bünde. Oftmals handelt es sich dabei um Seelenverwandte, deren Verbundenheit in allen Lebenslagen verknotet sein muss, auch wenn es den Tod des einen bedeuten kann.

Uralte Winkelschwüre

„Oder wir nehmen diese Tür“, lächelte Jarick und zeigte auf das Schicksalstor.

Ein erwartungsvolles Lächeln umspielte ihren Mund, während ein kräftiger Windhauch, begleitet von einem Donnergrollen, in den hinteren Bereich der Höhle drang. Hektisch flackerte das Feuer der Fackel, und Nelas Haare wirbelten haltlos herum. „Worauf warten wir?“, fragte sie gespannt, als sie ihr Gesicht von den verirrten Haarsträhnen befreite.

Bedächtig steckte Jarick die schwach brennende Fackel in den Eisenhalter neben die Tür. „Wenn ich durch mein Schicksalstor gehe, wird Heimdall es erfahren und wissen wollen, warum...“, Jarick stockte, „... ob ich mein Tor als Forseti öffne.“ Eine kräftige Böe und die Fackel erlosch, ließ nur einen lila-gräulichen Lichtschimmer zurück, der durch den Eingang der Höhle drang.

„Spielt es eine Rolle?“, sah Nela ihn fragend an.

„Vielleicht. Nur ich kann die Tür öffnen, denn ich habe sie vor langer Zeit in Asgard versiegelt.“

„Du sorgst dich um deine Auszeit?“

„Im Palast sollte uns niemand sehen“, flüsterte Jarick ihr mit einem Augenzwinkern verschwörerisch zu.

Daraufhin ergriff Nela seine linke Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. „Wollen wir?“, lächelte sie ihn erwartungsvoll an.

Ein Glanz lag in seinen Augen, während er seine freie Hand auf den Türgriff legte. Ein Klacken mit einem leichten Beben war zu spüren, als sein biometrischer Schlüssel das Tor entriegelte.

„In den uralten Schriftrollen steht, wenn ein Paar gemeinsam Hand in Hand durch ein Schicksalstor geht, verweben die Nornen die beiden Stränge unwiderruflich miteinander. Möchtest du an mich gebunden sein, Nela?“ Bei den Worten drückte er kurz ihre Hand.

Mit einem Strahlen versicherte sie ihm: „Ja, das möchte ich.“ Fragend sah sie ihm tief in die Augen und erkannte sogleich seine Entschlossenheit. Sodann drückte er die Klinke nach unten. Ihre Hände haltend, durchschritten sie das Tor, augenblicklich verspürte Nela die Fäden, die sich wie ein Netz sanft um ihren Körper legten, um sie sicher nach Asgard zu begleiten. Rasch dehnte sich das Netz ihrem Arm entlang aus, einzelne Schnüre wanden sich um ihren und Jaricks Arm, verknoteten sich fest darum. Verwundert verstanden beide, dass der Aberglaube der Wahrheit entsprach. Soeben erwirkte das Paar bei den Nornen einen verknüpften Pfad, und unweigerlich beschritten Nela und Jarick jetzt einen verschnürten, gemeinsamen Weg.

Dunkelheit umgab sie, kein Windhauch fuhr ihr durch die Haare. Das Donnern des Gewitters war verstummt, zurückgelassen in Midgard, als sie überwältigt auf die andere Seite gelangten. Unfähig irgendeinen Umriss zu erkennen, blickte Nela zu Jarick. Sanft strich ihr Wikinger mit seinen Daumen über ihren. Neben dieser Zärtlichkeit spürte sie fortwährend die Schicksalsschnüre. Fasziniert betrachtete sie seine hellblau glühenden Augen, die sich unheimlich leuchtend von der Finsternis abhoben.

„Du kannst in dieser Dunkelheit sehen?“, flüsterte sie ihm achtungsvoll zu.

„Ja“, antwortete er ihr leise. „Ich sorge für Licht.“ Sogleich brach der vertraute Kontakt ihrer Hände, entsetzt befürchtete Nela ein Reißen der Schnüre, aber zu ihrem Erstaunen hielten sie. Erleichtert spürte sie den imaginären Druck seiner Hand und die festhaltenden Fäden.

Augenblicke danach hörte sie den Klang aufeinandertreffender Feuersteine. Funken sprühten für einen winzigen Moment in der Dunkelheit. Schließlich entzündete sich das Pech. Zuerst blendete Nela das helle Licht der Fackel, aber blinzelnd gewöhnten sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse und offenbarten ihr den mit Feldsteinen gepflasterten Boden sowie die aus Buntsandstein gemauerten Wände. Beeindruckt betrachtete sie das Mauerwerk, das an die Klippen Helgolands erinnerte.

„Der Schicksalsraum des Palastes Glitnir“, präsentierte Jarick stolz sein Zuhause, während er die Fackel in alle Richtungen schwang, damit Nela die Schönheit der Rotunde wahrnahm. Zwei hölzerne Türen standen zur Wahl, durch die sie das kreisrunde Foyer verlassen konnten. Diese Türen und das Schicksalstor bildeten die Eckpunkte eines gleichschenkligen Dreiecks, dabei entsprach das Tor der Nornen die Spitze.

 

„Die Arkadentür zur linken“, deutete Jarick mit der Flamme auf einen aus Lindenholz gefertigten Ausgang, „führt auf den Korridor. Sie ist von außen verriegelt.“ Galant schwang Jarick die Fackel zur rechten Seite, dabei hinterließ das Feuer eine orange-rote Spur in dem allgegenwärtigen Schwarz. „Diese führt in meine geheimen Gemächer, nur ich kann diesen Eingang öffnen.“

„Geheim?“, hakte Nela neugierig nach.

„Ja, meine Gemächer innerhalb meines Palastes. Nur sehr wenige kennen diese Räumlichkeiten oder sind gar berechtigt, sie zu betreten. Natürlich gibt es auch noch die bekannten, die einem Asengott gebührend entsprechen.“

„Zeigst du mir deine Gemächer?“

„Komm“, reichte er ihr seine Hand, nachdem er die Tür geöffnet hatte, und führte sie in den vorderen Bereich. Ein schwerer, dunkelbrauner Vorhang trennte die Wohnstube von den restlichen Räumlichkeiten. Auch die Fenster waren verhangen. Die Lichtquelle steckte er in einen schlichten Eisenhalter nahe der Tür.

Neugierig betrachtete Nela die gemütliche Wohnstube, die sie auf eine vertraute Art an ihre eigene Stube in ihrer Wohnung erinnerte.

Wandteppiche, die Geschichten aus seinem Leben erzählten, verbargen die kalten Steinwände. Die geschmackvolle, wenn auch altertümliche Einrichtung gefiel Nela. Ein gemütliches Sofa an der Wand, daneben ein Bücherregal, zudem gab es zwei Ledersessel vor einem kleinen Kamin. Ein Spielbrett lag auf dem Tisch. Nela betrachtete es genauer und erkannte das alte Spiel. Die eingebrannten Linien bildeten drei ineinander liegende Quadrate, die mittig mit Linien verbunden waren. Daneben in einem Holzkästchen befanden sich die runden Spielsteine.

Jarick schaute über ihre Schulter. „Es wird schwer, mich zu besiegen.“ Sanft hauchte er ihr einen Kuss in den Nacken.

„Sei nicht zu enttäuscht, wenn du verlierst“, erwiderte Nela siegesgewiss. Schallend lachte Jarick, dabei funkelten seine Augen erwartungsvoll.

„Sch, sonst bemerkt uns jemand“, erinnerte sie ihn, leise zu sein.

„Wollen wir mit der Führung fortfahren?“, erkundigte er sich galant bei ihr. Natürlich wollte sie mehr sehen.

Jarick zog den Vorhang beiseite. Schnell schlüpfte sie durch die Öffnung. Vor ihr breitete sich ein großes Schlafgemach mit riesigen Arkadenfenstern aus. Die offenen Vorhänge ließen das Licht der Abenddämmerung hinein, die den Raum in einen warmen rötlichen Schein tauchte. Gefangen von dem wunderschönen Anblick, verharrte Nela.

Das gigantische Himmelbett mit aufgezogenen Behängen dominierte den Raum. Am Fußende stand eine große Holztruhe. Gegenüber befand sich ein weiterer Kamin, vor dem ein großes Bärenfell lag. Große Kerzenständer sorgten verteilt im Raum des Nachts für ausreichend Helligkeit.

Jarick führte sie zu einer mit Kissen bestückten Sitzbank vor einem Arkadenfenster. In einvernehmlichem Schweigen betrachteten sie den Sonnenuntergang, der die Dächer Asenheims zum Glänzen brachte. Die Zeit des Zwielichts war ein verzauberter Moment, in dem sowohl der Tag als auch die Nacht gleichzeitig verweilten.

„Schön, dass du hier bist.“

Verheißungsvoll sah Nela ihrem Wikinger in die Augen, in denen sich das warme Zwielicht spiegelte. Jedes Mal verlor sie sich in dem Tor zu seiner Seele, nahm sie gefangen, wollte sie nicht mehr gehen lassen. Ist es bei ihm genauso? Verursache auch ich bei ihm diese unbeschreiblichen Gefühle der Zusammengehörigkeit, der Seelenverwandtschaft?

Eine Aura, gesponnen aus unzähligen Schicksalssträngen, erwachsen aus der wahren Liebe zweier Lebewesen, umgab die beiden, nährte sich von der Stärke ihrer innigen Gefühle in dieser magischen Stunde. „Ich liebe dich“, gelobte Nela mit einer Intensität, die sie selbst erschrak. Mit unendlicher Zuneigung betrachtete Jarick sie. „Ich liebe dich, Minamia“, versprach er ihr ebenso gefühlvoll. Mit einem berauschenden Kuss vertieften sie ihren Liebesschwur.

Zum Bett strebend, zogen sie sich stürmisch die Kleider vom Leib, die ihren Weg dorthin säumten. Streichelnd wanderten seine Hände über ihren Körper, erkundeten jeden Zentimeter. Nela genoss die erotischen Sinnesreize, die Jarick bei ihr weckte. Zugleich fuhren ihre Hände über seinen Rücken, erforschten seine Brust und reizten seine erogene Stelle, die Jarick lustvoll aufstöhnen ließ. Von seiner Erregung angetrieben, liebkoste Nela ihren Wikinger hingebungsvoll mit forschen Küssen und frechen Händen.

Doch plötzlich hielt er inne, ergriff rasch ihre Hände, damit sie ihr mitreißendes Liebesspiel unterbrach. Regungslos verharrte er über ihr. Verwundert wanderte Nelas Blick zu seinem Gesicht. Geschlossene Lider, stoßweises Atmen, angespannte Gesichtszüge. Ihr Wikinger kämpfte gegen einen Trieb an, von dem Nela wusste, ihr aber stets fremd bleiben würde, da sie eine Walküre und keine Lysanin war.

„Jarick?“, wisperte sie.

„Nela“, brachte er mit einer gequälten Stimme hervor. Dabei blitzten seine spitzen Eckzähne kurz auf. Willensstark ertrug sie ihre Ungeduld, doch es fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer.

Angespannt beobachtete sie ihn, wie allmählich seine Atmung ruhiger wurde, seine Lider sich langsam öffneten. Vertrauensvoll sah Nela jetzt in seine hellblauen Augen. Sein zweites Gesicht hatte sich noch nicht vollends zurückgezogen, doch das war ihr egal, da sie alles an ihm liebte: seine menschliche und seine lysanische Seite. Beherzt hob Nela den Kopf und küsste ihn innig, dabei spürte sie seine scharfen Fangzähne, die sich langsam zurückzogen. Stockend erwiderte Jarick den Kuss, doch dann ergab er sich ihren Liebkosungen. Schließlich ließ er ihre Arme frei.

Erneut wanderten seine Hände kosend über ihre Haut und ließen ein betörendes Kribbeln zurück. Das fortgesetzte Vorspiel währte nur kurz, da sie beide sich schon sehnlichst die Erfüllung herbeiwünschten, die sie nur miteinander vereint erlangen konnten. Nela keuchte auf, als Jarick ihre Körper verband.

Zuerst bewegten sie sich langsam, fast geduldig im Einklang. Dieser Rhythmus währte aber nicht lange, rasch beschleunigten sie ihn.

Die Wärme der Lust, gebündelt in ihrem Schoß, durch einen Stoß entfesselt, stürmte entflammt durch ihre Adern. Gleich einem Rausch erfasste diese mächtige Hitze ihren gesamten Körper und glühte pulsierend auf Nela ein, daher bemerkte sie Jaricks erneute Veränderung nicht. Für einen winzigen Augenblick fuhr ein stechender Schmerz durch ihren linken Busen, doch sogleich wurde er durch unglaubliche Glücksgefühle abgelöst. Der betörende Sog, den Jarick mit seinem Biss verursachte, brachte sie unweigerlich zum Höhepunkt einer unbekannten Ekstase, den sie nur bewältigen konnte, indem sie ihre gewaltigen Gefühle herausschrie und ihre Finger sich in seine Schultern krallten.

Im Strudel ihres Orgasmus nahm Nela wahr, dass Jarick mit dem lysanischen Kuss und seinem Höhepunkt den uralten Liebesschwur besiegelte.

Erschöpft und heftig atmend, lag Nela überwältigt auf dem Rücken und versuchte das Erlebte zu begreifen, während ein glückseliges Lächeln auf ihren Lippen lag.

Sanft küsste Jarick die Bisswunde und strich behutsam mit seiner Zunge über die zwei Einstichlöcher, während Nelas Lider sich kraftlos schlossen. Ein Ring blauer Vergissmeinnicht legte sich um ihr Herz. Sie wollte nicht einschlafen, aber ihr ermatteter Körper ließ ihr keine Wahl. „Nein“, hörte sie noch Jaricks Stimme, als sie mit nur einem Gedanken einnickte: mein Mann.

Dumpf nahm Nela eine vertraute Stimme wahr. Doch die Worte verloren sich in der Umnachtung ihres aufwachenden Verstandes. Mollig warm lag sie zwischen den Decken und Fellen des bequemen Bettes. Bereits letzte Nacht spürte sie diese außerordentliche Geborgenheit.

„Meine blaue Blüte“, sprach Jarick sie sanft an. „Wach auf!“ Schläfrig verneinte sie seine Bitte, denn sie wollte die Behaglichkeit in seinen Armen noch weiter auskosten. Zärtlich streichelte und küsste Jarick sie, um sie sachte aus ihrem Dämmerzustand zu holen, während er eine Aura spürte, die sich langsam dem Gemach näherte.

„Wir müssen fort“, flüsterte er ihr verwundert zu. „Es kommt jemand.“

Zügig kletterten beide aus dem Bett, sammelten ihre Kleidungsstücke ein, die sie sich dabei hastig übersteiften, und richteten rasch das Bett.

„Wohin?“, formte Nela ihre Frage mehr mit den Lippen, als sie zu artikulieren.

„In die Waschstube.“ Er zeigte auf eine versteckte Tür zwischen der Stube und dem riesigen Bett. Nela eilte darauf zu, dicht gefolgt von Jarick.

Obwohl beide angespannt an der Tür lauschten, herrschte um sie herum eine angenehme Wärme, und die feuchte Luft legte sich klamm auf ihre Kleider und ihre Haut. Plätscherndes Wasser verlieh dem Raum eine entspannte Atmosphäre.

Mit pochendem Herzen hörte Nela die näherkommenden Schritte, die durch das Schlafgemach stapften. Nela hielt die Luft an, als die Schritte vor der Waschstube verharrten. Knirschend drehte die Person sich um seine eigene Achse, sogleich entfernten sich seine Fußschritte mit einem Nachhall.

Zum Henker! Was sucht er in meinem Schlafgemach?, schoss es Jarick verärgert durch den Kopf. Am liebsten hätte er ihn sogleich zur Rede gestellt, aber jetzt war nicht die rechte Zeit. Ein lautes Knarren der Tür verriet, dass sie alleine zurückblieben.

„Meine Tasche“, wisperte Nela erschrocken, als sie ihr Fehlen bemerkte. Sie lag noch neben der Sitzbank. „Was meinst du, kommt er zurück?“

„Hol deine Tasche“, forderte Jarick sie auf. Sofort eilte sie durch das Schlafgemach zu der Sitzbank, neben der die Tasche unverändert lag.

Nach Antworten verlangend, deren Fragen er sich denken konnte, sah sie Jarick eindringlich an. „Wir können nicht hierbleiben, ohne entdeckt zu werden.“

„Schade, ich fühle mich bei dir zuhause“, gestand sie ihm, bevor sie ihn zärtlich küsste.

„Nela, gestern... der Biss... es tut...“ Sofort legte sie ihre Finger auf seinen Mund.

„Entschuldige dich nicht, denn es gibt nichts zu verzeihen“, versicherte sie ihm eindringlich, aber dennoch sah er sie zweifelnd an.

„Nela, es gibt uralte Schwüre, dessen Geheimnisse ich nicht alle kenne“, begann Jarick ernst. „Jeder Ansu verheimlicht seine Minamia vor der Öffentlichkeit, nur wenige Vertraute wissen von der Liebe zwischen dem Ansu und seiner Auserwählten, weil sie seine größte Schwachstelle ist. Jeder Feind würde dich als Druckmittel benutzen, dich quälen und sogar töten, nur damit er mich in die Knie zwingen kann. Nela, ich möchte aus diesem Grund unsere Samana geheim halten.“

„Ja“, stimmte sie dem sofort zu, denn es gab keinen Grund, über seine Bitte lange nachzudenken. Gewiss wollte sie kein Opfer seiner Feinde werden. Gemeinsam konnten sie entscheiden, wer von ihrer Samana erfuhr. Erleichtert über ihre Zustimmung schloss Jarick kurz seine Lider. Bevor er weitersprechen konnte, hörten beide wieder die stapfenden Schritte auf dem Korridor. Hastig sah Nela sich nach einem Fluchtweg um.

Jarick packte behutsam ihren Arm und zog sie mit sich in die Waschstube, vorbei an dem mit warmem Wasser gefüllten Becken und der Sauna auf den kleinen Wasserfall zu. Dort legte Jarick einen verborgenen Hebel um, sogleich öffnete sich ein kleiner Spalt in der Wand, durch den Jarick und Nela sich zwängten. Wieder umgab sie Dunkelheit, doch diesmal konnte Nela Umrisse erkennen, bis sich hinter ihr die Öffnung schloss.

„Ich wünschte, ich könnte im Dunkeln sehen“, seufzte Nela verdrießlich.

„Vertraue mir! Lass dich leiten! Meine Augen werden für uns beide sehen“, versprach er, bevor er sich einen Kuss von ihren Lippen raubte.

Die verborgene Höhle

Erwartungsvoll folgte Nela ihrem Wikinger in den dunklen Tunnel. Es roch nach kühler Erde, nach feuchtem Stein und nach holziger Vertrautheit. Ihre Schritte auf dem harten Stein hallten auf dem Gang, den sie zügig entlangschritten. Schließlich schimmerte schwach am Ende des Tunnels ein warmes Licht.

Bewundernd betrachtete Nela die weißen Schirmpilze, die die heimelige Höhle mit ihren gelb leuchtenden Lamellen erhellten. In kleinen Einheiten gruppiert, sprießten sie auf winzigen Ausbuchtungen der Steinwand, dabei verströmten sie ihren wohlriechenden fruchtigen Pilzduft.

„Eine zweite Stube?“, sah Nela sich in dem gewölbten Hohlraum unter der Erde um, der die bekannte Bequemlichkeit des Baumhauses in Darkmora ausstrahlte. Neben zauberhaften Sitzmöbeln gab es Regale und Schränke, die Kostbarkeiten aufbewahrten, deren Wert nur die Besitzer kannten: alte Holzspielzeuge, vergilbte Bücher und sogar ein getrocknetes Vergissmeinnicht.

 

„Diese Stube ist ein Ort nur für meine Eltern und mich. Hier können wir offen reden, müssen unser wahres Ich nicht verbergen. Niemand kennt diese verborgene Höhle.“

Nela strahlte glücklich über das Vertrauen, das Jarick ihr entgegenbrachte und küsste ihn zärtlich auf den Mund. „Willst du mich jetzt deinen Eltern vorstellen?“, zweifelte sie. Einerseits hätte sie seine Eltern gern kennen gelernt, aber andererseits sah sie dem Moment auch mit gemischten Gefühlen entgegen.

„Nein“, erwiderte Jarick.

„Aus Angst sie wären mit einer Walküre nicht einverstanden?“, zögerte Nela mit einem schelmischen Grinsen.

Sofort antwortete Jarick mit einem glücklichen Lächeln: „Es ist ihnen gleichgültig, zu welcher Art du gehörst, solange du Güte besitzt und mich bedingungslos liebst.“

Bei dem Gedanken Jaricks Eltern zu treffen, wurde sie leicht wehmütig, denn Jarick würde niemals ihre Eltern kennen lernen.

„Nanna würde sich gewiss freuen, wenn wir jetzt zu ihr gingen.“

„Und dein Vater?“

„Balder weilt zurzeit nicht in Asgard. Vor Jahren verbannte Odin, mein Großvater, ihn für seinen Ungehorsam. Der Zeitpunkt seiner Rückkehr ist ungewiss“, entfuhr es Jarick wütend über die harte Bestrafung, die Balder erfuhr.

Für seine Eltern war die erzwungene Trennung unerträglich. Nanna litt sehr darunter, dass sie ihren geliebten Mann weder sprechen noch sehen durfte.

„Er fehlt dir“, stellte Nela mitfühlend fest. „Warum begnadigt Odin ihn nicht nach dieser langen Zeit? Trotz allem ist Balder sein Sohn.“

„Ja, deshalb verbannte Odin Balder und ließ ihn nicht hinrichten. Noch hat der Allvater ihm nicht verziehen. Vielleicht begnadigt er ihn nie“, vertraute er ihr seine Enttäuschung über das grausame Verhalten seines Großvaters an. „Niemals lässt Odin einen Zweifel über seine uneingeschränkte Macht aufkommen, daher sollte jeder es tunlichst vermeiden, den Zorn des Allvaters auf sich zu ziehen.“

Nela schlang ihre Arme fester um seine Mitte. „Vermeide, dass dein Großvater zornig auf dich wird“, verlangte Nela eindringlich. Schweigend genossen sie die Nähe des anderen, während beide ihren Gedanken nachhingen.

„Nela, geht es dir gut?“, sah er sie besorgt an.

„Ja“, versicherte sie ihm.

„Ich habe dich viel zu früh aus deinem erholsamen Schlaf gerissen.“

„Ich bin nicht müde, nicht hungrig oder durstig.“ Bisher verlangte ihr Körper nichts, ausgenommen seine Nähe zu spüren.

„Ich trank deinen Lebenssaft.“

„Vermutlich macht es mir nichts aus.“

„Vermutlich“, nuschelte Jarick in Gedanken versunken, „macht es der wahren Minamia eines Lysanen nichts aus.“

„Hinter dem Wort Minamia versteckt sich mehr als nur ein Kosewort, oder?“

„Ja“, gab Jarick zu. „Es bedeutet, dass du meine wahre Liebe, meine Seelengefährtin bist.“

„Gibt es auch ein Wort für dich, für meinen Seelengefährten?“, wollte Nela wissen.

„Minfridel.“

Mein Wikinger finde ich besser“, lächelte Nela ihn an.

Belustigt schüttelte Jarick seinen Kopf. „Wie kommst du auf Wikinger?“

„Du siehst aus wie ein Wikinger.“

Zweifelnd sah Jarick an sich herunter. Dann schaute er zu Nela. „Ich bin kein Seekrieger.“

„Also...“, suchte Nela angestrengt eine Erklärung. „... für mich sind alle Germanen Wikinger...“

„Ich bin ein Ase und nordischer Friese“, stellte Jarick seine Zugehörigkeit richtig.

„Die Nordmänner waren Wikinger!“, beharrte Nela.

„Aber nicht, als ich geboren wurde“, konterte Jarick verschmitzt.

„Wann genau war das?“ Erwartungsvoll sah sie ihn an.

„Am Midwinter vor 8829 Jahren auf Helgoland.“

Erstaunt starrte Nela ihn an. „Du meinst Tage nicht Jahre.“

„Wenn du es möchtest, sind es Tage. Seit wie vielen lebst du?“, fragte er sie neugierig.

Schnell rechnete Nela nach. „8824 Tage.“

„Dann sind wir ja fast gleich alt“, schmunzelte Jarick.

„Wir streichen die Achten, und schon kennen wir unser biologisches Alter. Mein Geburtstag ist übrigens am Midsommer“, fügte Nela vergnügt hinzu.

„Die Nornen überlassen nichts dem Zufall“, lachte Jarick laut auf.

„Wohin uns wohl das Schicksal als Nächstes führt?“, sann Nela gedankenverloren.

„Wir werden unserer Bestimmung folgen müssen“, seufzte Jarick, als er an seine und auch an Nelas Pflichten dachte.

„Meine Bestimmung sieht vor, dass ich Großpriorin des Ordens Elhaz in Midgard werde. Ich frage mich, warum meine Eltern mich unwissend über die verborgenen Welten aufwachsen ließen und mein Vater mich nicht auf mein Geburtsrecht vorbereitet hat. Als eingeweihte Walküre hätte ich es einfacher.“

„Gewiss, aber dann wären wir uns vielleicht nie begegnet, weil die Nornen unsere Pfade nicht verknüpft hätten“, befürchtete Jarick.

„Mag sein, aber ich bin davon überzeugt, dass die Nornen unsere Liebe wollen, denn unsere Fäden sind seelenverwandt. Durch das Schicksal habe ich viel verloren, aber dich gewonnen. Ich muss bald nach Midgard zurück, nicht nur um meine Ausbildung als Großpriorin zu beginnen, sondern auch um A. F. die Stirn zu bieten. Der Mörder meiner Familie soll wissen, dass ich ihn finden und zur Rechenschaft ziehen werde.“

„Die Alvaren werden den Mörder deiner Familie aufspüren“, war Jarick sich sicher. „Hoffentlich endet meine Auszeit nicht mit unserem Gang durch mein Schicksalstor. Meine Bestimmung ist das hohe Amt des Richtergottes Forseti in Asgard. Doch als Forseti kann ich nicht mit nach Midgard kommen. Deshalb möchte ich meine Auszeit fortsetzen, um mit dir zu gehen. Außerdem darf ich meine Verpflichtung gegenüber meinem zukünftigen Schüler Tristan nicht vergessen. Damit meine Auszeit bestehen bleibt, muss ich unbedingt mit Heimdall sprechen. Da er der Wächter der Schicksalsbrücke Asbru ist, kann er uns anschließend nach Lüneburg zurückschicken.“

„Wie kommen wir unbemerkt zu Heimdall?“

„Eigentlich wollte ich vermeiden, dass uns jemand im Palast bemerkt...“, begann Jarick, wurde aber aufgewühlt von Nela unterbrochen. „Wenn der Eindringling vorhin meine Tasche gesehen hat, dann ...“

Beruhigend nahm Jarick ihre Hand. „Das war Oswin, mein Ambahta. Ich wollte nicht, dass er dich und mich sieht, aber jetzt... Oswin bringt uns in einer Kutsche zu Heimdall.“

„Dein Ambahta?“

„Mein Hauptdiener.“

„Können wir ihm vertrauen?“, brach es besorgt aus Nela heraus, denn sie hatte seine Warnung hinsichtlich der Gefahren ihrer Liebe nicht vergessen.

„Wir können Oswin uneingeschränkt vertrauen. Warte hier.“ Rasch stand er auf.

Neugierig blickte Nela sich um, während sie auf seine Rückkehr wartete. Sie trat an das Regal mit den Spielzeugen. Vorsichtig berührte sie die Holzpferdefigur, die erstaunlich detailliert geschnitzt war. Daneben lagen Murmeln, gefertigt aus rotem Stein, den es nur auf Helgoland gab. Eine Zwille aus edlem Holz und Leder hing an einem Haken der Regalwand.

„Ich hoffe, du magst Wildbret, Tunke und Brot“, kam Jarick schneller als erwartet zurück.

Erfreut über das köstlich duftende Essen nahm sie ihm den Teller aus der Hand, und dann setzten sie sich auf das gemütliche Ledersofa. „Woher wusstest du, dass ich Hunger habe?“

Jarick zuckte schelmisch grinsend mit den Schultern. „Du bist meine Minamia.“ Zärtlich gab er ihr einen Kuss. „Ich habe es aus der Küche stibitzt“, gestand er. Sogleich nahm er einen genüsslichen Biss von dem Bret.

Nachdenklich beobachtete Nela ihren geliebten Lysanen beim Essen. Es störte sie keineswegs, ihr Mahl mit ihm zu teilen, allerdings ließ sie ein Gedanke nicht los. „Du sagtest, dass Lysane nichts essen. Du isst aber. Warum?“, fragte Nela ihn und sah ihn nach einer Antwort verlangend an. Diesmal würde er ihr nicht ausweichen, das wusste sie.

„Ich besitze Fähigkeiten, für die andere Lysane mich mit Neid und Missgunst bestrafen, wenn nicht sogar töten würden. Nur sehr wenige kennen mein Geheimnis.“

„Bei mir ist es sicher“, versprach Nela, bevor er sie sanft küsste und weitersprach.

Nach einer Weile verließen beide die verborgene Stube durch den dunklen Tunnel und betraten wieder Jaricks geheime Gemächer.

Stumm rief Jarick nach seinem Ambahta. Kaum dass der Diener das Gemach betreten hatte, überlegte Nela, wie alt Oswin mit seinen grauen Haaren und den unzähligen Falten im Gesicht war, sich aber wie ein junger Mann bewegte, währenddessen Jarick ihn schneidend fragte: „Oswin, weshalb warst du vorhin in meinem Gemach?“ Augenblicklich schaute der Ambahta seinen Ansu alarmiert an.

„Ansu, Heimdall wünscht, Euch zu sprechen. Ich versicherte, Ihr wäret in Eurer Auszeit, aber sein Bote beteuerte, sein Ansu wüsste, Ihr wäret im Palast Glitnir. Nirgends fand ich Euch, deshalb vermutete ich Euch in diesem Gemach. Doch Ihr wart nicht hier“, begründete Oswin sein Eindringen.

„Alles, was deine Augen in diesem Gemach sehen und deine Ohren hören, bleibt in diesem Raum“, verlangte Jarick kühl. In seiner Stimme schwang eine unmissverständliche Drohung mit.

„Gewiss, Ansu“, verbeugte sich Oswin demütig, beachtete Nela nicht, er tat, als wäre sie gar nicht anwesend. Auch wusste der Ambahta nicht, wer sie war, denn Jarick erwähnte sie mit keinem Wort. Erleichtert atmete Nela durch, als sie erkannte, dass Oswin niemals seinen Herrn verraten oder enttäuschen würde.

In einer schlichten Kutsche brachte Oswin sie unerkannt zu der Himmelsburg. Dort warteten sie in einem Salon mit Wandteppichen, die die neun Welten darstellten. Fasziniert betrachtete Nela die unterschiedlichen Landkarten, von denen sie zwei erkannte: Asgard und Midgard. Eines Tages wollte sie auch zu den anderen Welten reisen.

„Gervarus“, betrat Heimdall, ein großer, stämmiger Lysane mit einem grimmigen Gesicht, den Raum, „es freut mich, dass Ihr so schnell meiner Bitte gefolgt seid.“

„Heimdall, die Nornen zeigten mir den Weg zu meinem verloren geglaubten Tor. Es ist nach wie vor nicht für die Öffentlichkeit zugänglich“, entschied Jarick erhaben.

„So sei es.“ Sodann wandte Heimdall sich Nela zu. „Und Ihr seid?“

„Lunela Vanadis, zukünftige Großpriorin des Ordens Elhaz in Midgard“, stellte Jarick sie schnell vor.

„Ach, die unwissende Walküre, von der ganz Asgard und Midgard spricht. Es ist mir eine Freude, Euch willkommen zu heißen“, begrüßte Heimdall sie.

„Lunela muss zurück nach Midgard“, nannte Jarick den weiteren Grund ihres Besuches, bevor Heimdall eine Frage an Nela stellen konnte. „Ich begleite sie.“