Nela Vanadis

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Aus der Reihe: Nela Vanadis #2
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Die Villa Vanadis

Das Unwetter auf Helgoland zog sich zurück. Die Sonne hatte den Kampf gewonnen. Mit Ungeduld wartete Tristan am Fenster in der Ferienwohnung auf seine Walküre, die mit dem Lysanen in der verborgenen Höhle verharrte. Noch war es für Nela und Jarick eine brandgefährliche Rutschpartie, den nassen Fels hinaufzuklettern. Besorgt waren Tristans Augen nach draußen gerichtet.

„Wir kehren nach Lüneburg zurück“, verkündete Till, während er versuchte, den wendigen Waldkauz einzufangen. Doch Winifred schlüpfte ihm immer wieder amüsiert durch die Finger.

„Was ist mit Nela und Jarick?“, wollte Tristan wissen, während Till bei dem Versuch, den Kauz zu schnappen, einen Stuhl umriss. Laut schepperte das Holz auf dem Boden der Wohnküche, derweil Till mit den Armen rudernd sein Gleichgewicht hielt.

„Die Zwei sind in Asgard. In ein paar Tagen treffen wir sie in Lüneburg. Bis dahin können wir die Villa mit dem neuesten Sicherheitssystem aufrüsten.“

Abermals griff Till nach Winifred, aber der Waldkauz flatterte mit einem entsetzten Laut in die andere Ecke des Zimmers. „Winifred“, sprach Till sie genervt an, „Jarick möchte, dass ich dich mit nach Lüneburg nehme.“

„Wann hast du das erfahren?“, hakte Tristan aufgewühlt nach.

„Vertrau mir, Nela kommt nach Lüneburg“, antwortete Till, während er erneut mit der Schnelligkeit eines Draugers nach dem flinken Kauz griff. Es war erstaunlich, dass Winifred den schnellen Bewegungen ausweichen konnte. Sie war eben ein ganz besonderer Waldkauz.

„Ich fasse dich nicht an, Winifred. Versprochen! Kommst du dann freiwillig mit zu Nelas Villa?“ Verwundert blickten Amala und Tristan zu dem Drauger und dem Kauz.

„U-huu“, stieß Winifred einverstanden aus, sodann ließ sie sich auf die Lehne des Stuhls nieder, den Amala gerade vom Boden aufgehoben und hingestellt hatte.

***

Nur mit großer Überwindung begab Nela sich auf die überdachte Terrasse. Wilder Wein wucherte über das hölzerne Dachgestell, hing an den Seiten gleich einem Vorhang herunter. Davor erstreckte sich der verwinkelte, parkähnliche Garten, den Nelas Mutter so sehr geliebt hatte. Täglich steckte Insa ihre Liebe und Freizeit in ihren bezaubernden Garten, dessen Charme jeden zum Verweilen einlud.

In mit Feldsteinen eingefassten Beeten blühten die vielfältigsten Blumen. Unkraut wucherte zwischen den verblühten Margeriten. Daneben herrschten uneingeschränkt die prächtigen Hortensien über ihr Hoheitsgebiet. Die edlen Rittersporne welkten mit Spinnennetzen aneinander gebunden, dazwischen wuchs Gras, bedeckte die Erde allmählich mit einem grünen Teppich.

Versteckt hinter hohen Stauden gedieh trotz der Vernachlässigung der Kräutergarten. Besonders Lavendel stach mit seinen blauen Blüten in der großen, steinernen Kräuterschnecke hervor. Lavendel, der Duft erinnerte Nela an ihre Großmutter Elna.

Ein Rosenbogen wies den Weg zu dem märchenhaften Bereich des kleinen Parks. Verwilderte Rosen wuchsen zu hohen Büschen, umrandeten die edlen Rosen, die üppig inmitten ungewollter Pflanzen blühten. Dahinter lag die mit Efeu überrankte Laube: der Mittelpunkt jedes Gartenfestes. Dort standen noch unverändert die Gartenmöbel der letzten, tragischen Feier. Rasch wandte Nela ihren Blick ab, streifte die am Rand stehenden Obstbäume. Jedes Jahr freute Nela sich auf die süßen Kirschen, die saftigen Äpfel und leckeren Zwetschgen. Aber in diesem Jahr war alles anders.

Bedacht schritt Nela an den Rand der erhöhten Terrasse, die stufenweise zur Rasenfläche mit Immergrün und Vergissmeinnicht bepflanzt war. Mit schwitzigen Handinnenflächen ging sie die steinerne Terrassentreppe hinunter, gelangte zu dem kleinen Gartenhain. Im Schutz der Äste stand eine hölzerne Bank.

Plötzlich entdeckte Nela die gut getarnte Winifred in ihrem gesprenkelten Federkleid, die Augen zu schmalen Schlitzen geschlossen, auf dem Ast einer Linde im Hain. Erfreut über die Gesellschaft ging sie zu dem kleinen Kauz und strich sanft über das braun gemusterte Gefieder des zahmen Vogels.

„Dies ist dein Lieblingsplatz, oder?“, flüsterte Nela dem Waldkauz zu. Tatsächlich gab Winifred ihr eine Antwort, indem sie einen zufriedenen Laut ausstieß.

„Ich bin nicht gerne hier, aber ich muss“, fuhr sie beklommen fort, mitfühlend blickte der Kauz sie starr an. „Dies ist der Ort des Schreckens.“ Bedächtig bewegte sich Winifreds Kopf zur Seite, in ihren Augen lag Zuversicht. „Einst war er auch mein Lieblingsplatz“, verriet Nela ihr. „Vielleicht wird er das eines Tages wieder.“

Ein kaum wahrnehmbares Kopfschütteln deutete der Kauz an, dabei schnürte sich Nelas Kehle unwillkürlich zu. Natürlich konnte dieser schreiende Garten nie wieder ihr Lieblingsplatz werden, nicht nach diesem furchtbaren Massaker. Doch sie musste sich ihrer Furcht stellen, damit sie an diesem Ort ein angstfreies Leben führen konnte. Vor ihrem Zuhause durfte sie keine Angst haben, sonst würde es nie ein wirkliches Heim sein, das Geborgenheit und Sicherheit ausstrahlte, die diese Zufluchtsstätte brauchte.

Jaricks mahnende Worte hallten in ihrem Kopf: „Verdamme diesen Garten nicht dazu, ewig ein Ort des Schreckens und des Todes zu sein. Gib diesem Ort die Chance, erneut zu dem zu werden, was er war: ein wunderschöner Garten.“ Nela bezweifelte, je wieder diesen Garten als wunderschön betrachten zu können, denn das Massaker an ihrer Familie und die Flucht vor den Mördern würden an diesem Ort stets gegenwärtig sein.

Uneingeschränkt wollte Nela in Zukunft leben, doch dazu musste sie die grausamen Geschehnisse der Vergangenheit überlassen. Dieses Ziel erschien ihr im Moment schwieriger als gedacht, aber sie spürte trotzdem die innere Unbeschwertheit, Geborgenheit und Liebe. Ihre kostbaren Erinnerungen an ihre Familie konnte niemand vernichten, fortwährend waren sie da, halfen ihr das Grausame zu ertragen.

„Begleitest du mich?“, hoffte Nela, den schmerzlichen Weg durch den Garten nicht alleine zu beschreiten. Zustimmend flatterte Winifred mit ihren Schwingen. Wo lag Jaricks Armschutz? Schließlich entdeckte sie ihn auf der Holzbank. Während sie sich den Armschutz überstreifte, stieg Winifred in die Luft. Ihren Blick auf den Kauz gerichtet, trat sie auf die verwilderte Rasenfläche hinter dem Laubhain.

Der Klang aufeinander treffender Holzstäbe erfüllte den Garten, doch Nela achtete nur auf Winifred, der sie ihren geschützten Arm entgegenhielt. Mit wenigen Flügelschlägen schwebte Winifred über Nela.

„Lass dich nie ablenken, Tristan! Immer muss deine Konzentration auf deinem Gegner liegen. Noch einmal“, forderte Jarick seinen zukünftigen Schüler auf, mit dem Stockkampf fortzufahren.

Begeistert begrüßte Nela Winifred auf ihrem Arm. „Meine Freundin, da bist du ja. Schön, dass du mich begleitest.“ Kurz darauf wanderte ihr Blick zu Jarick, der sie und vor allem Winifred erstaunt anstarrte. Just traf Tristans Stab Jarick unvorbereitet am Bein, daraufhin fluchte er schmerzerfüllt.

„Wie war das noch mit dem Ablenken?“, stichelte Tristan belustigt.

„Pass auf, was du sagst“, ermahnte Jarick den vorwitzigen Walkür, doch dieser lachte nur amüsiert.

„Ein Treffer ist noch kein Sieg“, fuhr Jarick erheitert fort, während er erneut seine Position einnahm. Um eine Kopflänge überragte Jarick den Elhazen bedrohlich, jedoch ließ Tristan sich davon nicht einschüchtern. Mit Freude erkannte Nela, dass sich eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden, ihrem Wächter und ihrem Wikinger, entwickelte.

Seitdem sie Asgard verlassen hatten, beschäftigte Jarick zusehends etwas, doch bisher öffnete er sich seiner Minamia nicht. Nela gab ihm Zeit, sich aus eigenem Willen ihr anzuvertrauen.

Nachdenklich schaute Nela zu den beiden Kämpfenden, die bei diesen sommerlichen Temperaturen nur naturfarbene Leinenhosen trugen. Fortwährend zierten Tristans athletischen Oberkörper heilende Schürfwunden vom Kampf auf Helgoland. Ein beginnender Sonnenbrand verfärbte seine helle Haut leicht rötlich. Seine straffen Armmuskeln spannten sich merklich, während er den Stab verteidigungsbereit in seinen langgliedrigen Händen festhielt. Im Vergleich zu seinem Meister wirkte Tristan wie ein junger Bursche, dessen kriegerische Stärke erst noch wachsen musste. Jaricks breite, sehnige Kriegerbrust hingegen besaß keine sichtbare Erinnerung an die Schussverletzungen. Das Kampftraining der Jahrhunderte verlieh Jaricks Körper natürlich geformte Muskeln, die seine unbändige Kraft nur erahnen ließen. Eine leichte Bräune zog sich über seine makellose, sehnige Haut, die sich unter Nelas Finger seidig weich angefühlt hatte. Seine Hände umfassten den Stab grob, Nela allerdings kannte die Zärtlichkeit, zu der seine rauen Hände fähig waren.

Unverhohlen musterte Nela ihren Wikinger, beginnend bei seinem markanten Gesicht über seinen Waschbrettbauch zu seinem gut verhüllten Schritt. Just wandte Jarick ihr den Rücken zu und präsentierte ihr seinen ebenmäßigen, stählernen Jeans-Hintern.

Lauernd umrundeten die Kämpfenden einander, stets darauf bedacht, den Angriff des anderen abzuwehren. Dabei drückten sie das Gras mit ihren nackten Füßen flach auf den Erdboden. Längst war die unnatürliche rote Färbung verschwunden, und die unzähligen Grashalme gaukelten eine grüne Decke vor, die sich schützend über das Vergangene legte. Doch die Erinnerung war schmerzhaft. Ihr Blick fiel zu der wildgewachsenen Hecke des Gartens, durch die die Mörder gekommen waren und Tristan mit ihr floh. Nun versperrte dahinter ein hoher, eiserner Zaun den Weg auf die Straße.

Gleich, nachdem Tristan und Till zur Villa zurückgekehrt waren, widmeten sie sich dem Projekt, dieses Anwesen gegen Feinde zu sichern. Die Umzäunung des Grundstückes bot Schutz gegen Eindringlinge, aber rief auch in Nela das Gefühl des Eingesperrtseins wach.

 

Die Stäbe krachten aufeinander, sofort erlangten die Kämpfenden Nelas Aufmerksamkeit. „Wann erlerne ich die Kampfkunst?“, stieß sie bewegt aus. Endlich musste sie lernen, sich selbst zu schützen. Augenblicklich hielten Jarick und Tristan in ihrer Bewegung inne, während Winifred zu ihrem Lieblingsplatz auf die Linde flog.

„Das wirst du“, versprach Jarick. „Aber zunächst muss Tristan lernen, ein richtiger Wächter zu sein.“

Als Nelas Augen auf Tristan ruhten, erschien er ihr wie eine schützende Mauer, die die furchtbaren Bilder hinter sich verbarg und die aufkeimende Furcht aufsog. Erleichtert atmete Nela durch.

Tristan musste sich in seiner neuen Rolle als anerkannter Wächter und angehender Alvare zurechtfinden. Aber auch Nela musste ihre Bestimmung als zukünftige Großpriorin annehmen. Gerne hätte sie zunächst einfach nur erfahren, was es bedeutete, eine einfache Walküre zu sein. Doch das Schicksal entschied es anders. Nicht nur ihre Freunde halfen ihr bei der Orientierung in der neuen Welt, sondern auch die alten Bücher ihres Vaters.

„Ist Amala noch da?“, wechselte Tristan das Thema.

„Nein, sie betreut im Ordenshaus eine neue Schicksalsreisende“, antwortete Nela ihrem Wächter.

Momentan ging Jarick voll und ganz in seiner Aufgabe des Meisters auf, aber für einen kurzen Augenblick vernachlässigte er sie, um sich in den Augen seiner Minamia zu verlieren. Die unsichtbaren Schnüre zogen Jarick magisch zu Nela. Nicht nur tiefe Zuneigung lag in seinem Blick, sondern auch Sorge.

„Setzen wir unsere Übungsstunde fort?“, wollte Tristan eifrig wissen.

„Ja“, kam es verzögert über Jaricks Lippen, während Winifred aufgebracht in die Luft stieg.

Doch bevor es zum Übungskampf kam, ertönte ein schriller Alarm. Erschrocken blickte Nela sich um, suchte nach dem Störenfried, aber konnte niemanden entdecken. Verteidigungsbereit umkreiste der Kauz die Walküre.

Als das Warnzeichen verstummt war, legte sich eine unheilvolle Stille über den geplagten Garten. Nelas Gedanken überschlugen sich. Wer löste den Alarm aus? Von wo kam der Eindringling, weshalb war er hier?

„Zwei Eindringlinge gingen durchs eiserne Schmiedetor der Auffahrt“, stieß Jarick alarmiert aus, während er und Tristan sich kampfbereit mit ihren Waffen in Bewegung setzten. „Nela, du bleibst hier!“, forderte er sie unnachgiebig auf, als sie den beiden Kämpfern folgte.

Hastig eilte Till ihnen entgegen. „Herr Diepolt und Herr Lorenz wünschen mit Nela zu sprechen.“

„Ich empfange sie“, ging Nela erleichtert zum Haus, während sie sich fragte, welche neuen Informationen die Polizei herausgefunden hatte.

Nachdem Nela durch die Terrassentür das Wohnzimmer betreten hatte, erläuterte Hauptkommissar Diepolt eilends den Grund seines Besuches. „Frau Vanadis, vor ein paar Nächten verschwand Armin Falk aus seiner Zelle.“

Verdutzt schaute Nela zu dem Beamten, dessen zerknittertes Hemd erste gelbe Schweißflecke aufwies. Tief schwarze Augenränder erweckten den Eindruck, dass Herr Diepolt in den letzen Tagen sehr wenig Schlaf bekommen hatte. Gleiches traf auf seinen Kollegen zu. „Was meinen Sie mit verschwand?“

„Es gibt keine sichtbaren Spuren für einen Ausbruch. Die Zellentür war verschlossen, das vergitterte Fenster noch in Takt, aber Herr Falk befand sich nicht mehr in seiner Zelle. Auch die Überwachungskameras zeichneten nichts Verdächtiges auf.“

„Er kann sich aber nicht in Luft aufgelöst haben“, äußerte Nela ihren spontanen Gedanken.

„Nein, gewiss half ihm ein Komplize. Wie dem auch sei, wir sind hier, um Sie zu warnen. Wir hätten es Ihnen schon früher mitgeteilt, aber wir konnten Sie leider nicht erreichen.“

Nachdem Till, Tristan und Amala das Versteck auf Helgoland verlassen hatten, übergaben sie Max Tormayer, den Anführer der Birgergruppe, den Alvaren, weil er und seine Männer die Familie Vanadis ermordet hatten. Die Alvaren setzten sich mit der Polizei in Lüneburg in Verbindung. Noch in derselben Nacht wurde Armin Falk, der mutmaßliche Auftraggeber, verhaftet. Die Gesellschaft brauchte einen Täter für die Morde, also war es ganz einfach, die zweifelhaften Hinweise des Mordauftrages rasch zu handfesten Beweisen zu erklären. Armins rätselhaftes Verschwinden erhärtete seine angebliche Schuld nur noch.

„Danke für die Information, allerdings bleibe ich dabei: Herr Falk ist für mich keine Gefahr.“

„Frau Vanadis, bitte. Alles deutet darauf hin, dass Armin Falk Ihre Familie auf dem Gewissen hat und auch Sie töten will“, mahnte Herr Diepolt sie eindringlich. Vehement schüttelte Nela ihren Kopf, und für einen kurzen Moment blieb ihre Kehle verschnürt.

„Armin war der beste Freund meines Vaters. Er ist mit Leib und Seele Journalist, ein Verfechter der Menschenrechte... Er...“

„Es ist nicht leicht, wenn man herausfindet, dass man sich in einem Menschen getäuscht hat, vor allem nicht, wenn dieser ein Freund der Familie ist. Bitte seien Sie auf der Hut, Frau Vanadis.“

„Das bin ich, denn immerhin läuft der Mörder meiner Familie frei herum“, erwiderte Nela ernst. „Meine Villa hat sich in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt. Da fragt man sich wirklich, wer am Ende die eingesperrte Person ist.“

„Es ist traurig, dass Sie solche einschneidenden Maßnahmen ergreifen mussten, um in Sicherheit leben zu können“, fühlte Herr Lorenz mit Nela, bevor sich die Kriminalbeamten verabschiedeten.

„Was wollten sie?“, betrat Jarick neugierig das Wohnzimmer.

In der Zwischenzeit hatte er sich die gängige Alltagskleidung der Midgardbewohner übergestreift. Fortwährend ein ungewohntes Bild für Nela, ihren Wikinger in Jeans und Shirt zu sehen. Sie schmeichelte seiner männlichen Figur genauso gut wie seine Asgardgewandung.

„Armin Falk ist aus seiner Zelle verschwunden“, antwortete sie gedankenversunken. Wer entführte Armin aus seiner Zelle? Schwebt er in Lebensgefahr? Wird er mich um Hilfe bitten?

„Gewiss wird er zuerst hier nach dir suchen, deshalb werden wir so schnell wie möglich an einen sicheren Ort gehen“, entschied der Lysane übereilt.

„Nein! Verdammt noch mal, Armin wird mich nicht suchen, er wird mich brauchen. Er ist kein Mörder, und er trachtet nicht nach meinem Leben“, gab Nela eindringlich zurück.

„Dieser Ort ist keine gute Wahl, Nela. Dein Feind, egal, wer er auch sein mag, weiß, wo du bist. Jederzeit kann er dich angreifen“, überdachte Jarick ihren Aufenthaltsort.

„Dies ist mein Zuhause. Außerdem sind die Bücher meines Vaters hier.“ Was für eine erbärmliche Argumentation. Jarick hatte mit jedem Wort Recht, doch sie ließ sich nicht von ihrem Feind vertreiben.

„Es gibt den Ordensmitgliedern Hoffnung, wenn sie wissen, dass Nela in Lüneburg ist. Ihre Anwesenheit gibt ihnen die Kraft auszuharren, bis der Tag gekommen ist, an dem eine Vanadis wieder die Großpriorin wird“, nannte Tristan, der soeben das Wohnzimmer betrat, einen Grund, weshalb die zukünftige Großpriorin in dieser Villa verweilen sollte. Allerdings stimmte sein vielsagender Blick Jaricks Ansicht zu. Am liebsten sähe er seine Walküre an einem geheimen Ort.

„Ehrlich gesagt, ist mir die Hoffnung der Elhazen gleichgültig. Für mich zählt nur die Sicherheit meiner Minamia“, entgegnete Jarick mit einer rücksichtslosen Konsequenz, die Nela zwar erschrak, aber auch schmeichelte. Lysane verhielten sich sehr besitzergreifend ihren Lieben gegenüber. Auch Jarick fiel es sehr schwer, diesen Anspruch zu zügeln oder gar aufzugeben. Für ihn zählte im Moment nur die Sicherheit seiner Liebe, obwohl ihm Nelas Verpflichtung durchaus bewusst war.

„Wenn ich mich verstecke, wirke ich wie eine verängstigte Unwissende, die nicht die Kraft hat, ihr Geburtsrecht einzufordern. Ansgar Ferdinand soll wissen, dass ich mir zurückhole, was er meinem Vater gestohlen hat. Die Elhazen sollen wissen, dass ich gegen diese Tyrannei vorgehen werde. Deshalb bleibe ich hier!“, beschloss Nela erhaben, aber mit einem unguten Gefühl. Zwar wollte Nela ihrem toten Vater Gerechtigkeit widerfahren lassen, aber sie wollte keine Gefangene der aufopfernden Pflichten ihres Geburtsrechts werden.

„Natürlich, Priorin Vanadis“, stimmte Jarick ihr zu, während sein Blick ihr unmissverständlich zu verstehen gab, dass er ihre Bestimmung respektierte, aber sie ihm in Bezug auf ihre Sicherheit vertrauen musste.

„Für mich ist es nicht leicht, hier zu sein“, gestand Nela.

Winifred hockte sich zufrieden auf ihren Ast der Linde, drehte ihren Kopf nach links, schaute mit ihren schwarzen Knopfaugen über ihre Schulter und behielt Nela im Blick.

Von Falken und Gauklern

Sich Nelas Willen vorläufig beugend, verschaffte Jarick sich einen Überblick über die Sicherheit der Villa.

Besonders die Nachricht über Armin Falks Flucht beunruhigte ihn sehr. Selbst wenn Nela Recht hatte und Armin das Opfer einer perfiden Intrige war, gab es dennoch Grund zur Sorge. Wer verbarg sich hinter den Initialen A. F.? Möglichst bald musste er eine Antwort finden, denn die Unwissenheit war ein starker Verbündeter des Feindes.

Jedoch bedeuteten ein massiver Zaun, der in Windeseile um das Anwesen errichtet wurde, und nur ein vertrauenswürdiger Huscarl, der diese Einfriedung bewachte, keine ausreichende Sicherheit. Nicht für seine Minamia!

Gerade demonstrierte Till ihm in dem neu eingerichteten Überwachungsraum das aktuelle Sicherheitssystem.

Aufmerksam schaute der Lysane auf einen Monitor, auf dem die Auffahrt des Anwesens erschien. Ein befestigter Weg bahnte sich durch die Rasenfläche zum Haus. Davor parkte Tills Sportwagen neben Tristans Scirocco.

„Jeder Winkel des Grundstückes kann eingesehen werden“, erklärte Till monoton, während er die Tastatur betätigte. Die einzelnen Bereiche des Anwesens tauchten auf den Bildschirmen auf: der Hauseingang, die Garage, verschiedene Blickwinkel des Gartens.

Plötzlich erschien Nela im Bild, die mit zügigen Schritten die Auffahrt Richtung Straße entlangging.

„Und im Gebäude?“, fragte Jarick abwesend, als sein Blick sich starr auf seine Nela richtete. Genau nahmen seine lysanischen Augen sie unter die Lupe. Ihr weißes Sommerkleid mit einem dezenten Blümchenaufdruck schmeichelte ihrer Figur, ihre zarten Füße steckten in weißen Ballerinas, und ihre langen dunkelblonden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. Ihr aufrechter Gang war beschwingt, strahlte Zuversicht aus, ihre Arme schwangen locker mit. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er den verführerischen Schwung ihrer Hüften bemerkte. Im nächsten Moment fiel sein Blick auf ihre geraden Schultern, dann auf ihren entblößten Hals, der ein ungewohnt heftiges Verlangen nach ihrem Lebenssaft weckte. Unweigerlich bahnten sich die magischen Eindrücke ihres letzten Zusammenseins ihren Weg zurück in seine Gedanken, immer noch ihren unverwechselbar, köstlichen Lebenssaft auf der Zunge schmeckend. Sein lysanisches Ich schwelgte in süßen Erinnerungen, während er sich doch eigentlich auf das Gespräch mit Till einlassen sollte.

„Nein. Nela bestand darauf, dass es innerhalb des Hauses keine Videoüberwachung gibt“, antwortete Till kaum Verständnis aufbringend, der eine längere Diskussion mit der Herrin dieser Villa geführt hatte. „Sie legt sehr viel Wert auf ihre Privatsphäre.“

„Mmh“, stimmte Jarick wortkarg zu. Die Erinnerung an Nelas süßen Lebenssaft beherrschte fortwährend seine Aufmerksamkeit.

„Aber in den gemeinschaftlichen Räumen wäre es sehr hilfreich“, warf Till beharrend ein.

„Mmh.“ Am Tor angelangt, stellte Nela sich neben den rustikalen Briefkasten, um ihn mit dem Schlüssel zu öffnen. Jaricks Gedanken wanderten zu seinem unverzeihlichen Kontrollverlust, obwohl er sich zwang, seine Konzentration im Hier und Jetzt zu halten. Unerklärlich war sein triebhaftes Verhalten während ihrer Zweisamkeit. Wie ein drauganischer Jüngling hatte er sich benommen, der noch lernte, seine unterschiedlichen Seiten in Einklang zu bringen; sein lysanisches Ich zu beherrschen. Unverantwortlich gegenüber seiner Nela, zumal die Erinnerung und die Wunde des schmerzhaften Bisses des frevlerischen Draugers noch nicht verblasst waren. Rücksichtslos, seinen egoistischen Gefühlen folgend, nutzte er ihr unschuldiges Vertrauen in einer äußerst intimen Situation aus.

„Vielleicht ändert sie ihre Meinung, wenn du mit ihr redest.“

„Mmh“, brummte Jarick, als Nela einen Stapel Briefe aus dem Kasten hervorholte. Sein schlechtes Gewissen nagte an ihm, während der Lysane in ihm stolz seine Minamia beobachtete. Der Lysane holte sich, wen er begehrte. Jaricks menschliche Seite konnte dieses Begehren nicht leugnen, auch er verlangte nach Nela, aber nicht auf diese unehrenhafte Weise.

 

„Hörst du mir überhaupt zu?“

„Mmh.“ Langsam, den Blick auf die Briefumschläge gerichtet, kehrte Nela zurück zur Villa.

„Ich habe Nela geküsst!“, forderte Till seinen Freund heraus, dabei lag ein schelmisches Grinsen auf seinen Lippen.

„Mmh.“ Immer noch in Nelas Bann gefangen, realisierte Jarick erst verzögert Tills unverschämte Behauptung. „Wie bitte?“, entfuhr es dem Lysanen, sogleich sprang er unbeherrscht von seinem Stuhl auf, doch Till lachte herzhaft.

„Endlich hörst du mir zu! Was ist los mit dir?“

Tills Frage traf den Nagel auf den Kopf. Welcher verhexten Macht war er unterlegen, dass er die Kontrolle über sich verlor? Verdammt, er war ein Ase, ein Gott! Wieso verhielt er sich so... so menschlich?

„Nichts!“, stieß er fahrig aus.

„Nichts?! So wirkst du aber nicht, Jarick!“

„Verdammt, Till, das geht dich nichts an!“, fuhr Jarick ihn verdrossen an, als Nela den Raum betrat.

„Für dich“, streckte sie ihm einen Umschlag entgegen, dabei sah sie ihn fragend an. Die angespannte Stimmung war regelrecht greifbar.

„Danke“, sagte er tonlos, während er den Brief entgegennahm. Tunlichst vermied er, sie direkt anzusehen, denn er wollte nicht, dass sie sein Verlangen bemerkte. Daher wanderte sein Blick über den gedruckten Absender des Briefes in seinen Händen. Wigald Rabe. Erst seit gestern verweilte Jarick wieder in Lüneburg, deshalb verwunderte es ihn, Post vom hiesigen Obermeister der Alvaren zu erhalten.

Jarick schaute von Nela zu dem Brief in seiner Hand. Zögernd verließ seine Minamia den Raum. Vorerst zog er es vor, das Gespräch mit Nela über den Biss noch ein wenig hinauszuschieben, sich selbst eine Galgenfirst gebend. Eilends öffnete er den Umschlag.

Fassungslos starrte Jarick auf die wenigen maschinell geschriebenen Zeilen. Langsam stieg Zorn in ihm auf, als er den Sinn realisierte. Ihm, Gervarus Balderson von Asgard, wurde befohlen, schon heute Abend das Twinning-Bündnis der Alvaren mit Tristan Paladin einzugehen. Bei Zuwiderhandlung erfolgte unverzüglich die Bestrafung für die Missachtung des Befehls: der Tod seines zukünftigen Schülers.

Was bildeten sich diese Midgardbewohner eigentlich ein?

Jarick holte tief Luft, um seine Wut und Empörung im Zaum zu halten. Es war schwer vorstellbar, dass Wigald Rabe dieses Schreiben aus eigenem Antrieb aufgesetzt hatte. Dringend musste Jarick sich mit den derzeitigen gesellschaftlichen Regeln und Machtverhältnissen in seiner einstigen Heimat beschäftigen, denn das Machtgefüge war doch sehr aus den Fugen geraten. Nicht nur die unwissende Gesellschaft veränderte sich in den letzten Jahrhunderten sehr, sondern auch die eingeweihte.

„Ich muss umgehend mit Wigald Rabe sprechen“, ließ Jarick seinen Freund wissen, während er sich schon auf dem Weg nach draußen befand.

„Weshalb?“, rannte Till ihm alarmiert nach.

„Weil diese Midgardbewohner sich anmaßen, mir Befehle zu erteilen“, stieß Jarick verärgert aus.

„Wie lautet der Befehl?“

„Heute Abend soll ich das Bündnis mit Tristan eingehen.“ Jarick erreichte die Haustür.

„Vielleicht ist es ratsam, wenn du Tristan mitnimmst. Immerhin betrifft es auch ihn“, schlug Till vor.

Trotz dieser Anmaßung wollte Jarick den Alvaren sowie dem Großprior Ansgar Ferdinand seine Absicht demonstrieren, mit Tristan das Twinning-Bündnis einzugehen. Aber Jarick entschied zusammen mit Tristan, wann das Ritual stattfand. „Dann könnt ihr auch das Auto nehmen“, meinte Till belustigt, flüchtig schenkte Jarick ihm einen nicht ernst gemeinten bösen Blick.

Sobald wie möglich musste er lernen, dieses beliebte Gefährt zu lenken. Seine Unkenntnis machte ihn abhängig von einer Person, die diese Kunst beherrschte. Jarick verabscheute diese Art von Abhängigkeit. Natürlich blieb ihm stets die Möglichkeit, auf die Bequemlichkeit eines Autos zu verzichten und den Weg zu Fuß zu beschreiten. Leider fiel es auf, wenn er sich hoch zu Ross in Lüneburg fortbewegte.

Ungeduldig wartete Jarick mit seinem zukünftigen Schüler in dem kargen Arbeitszimmer des Obermeisters Wigald Rabe. Immer wieder musste er sich selbst an seine derzeitige Identität erinnern. Zurzeit war er Jarick Richter, ein niederer Jarl aus Asgard und nicht Forseti, der Gott des Rechts, den kein Gesetzeshüter warten ließ.

„Wigald Rabe lässt sich unverschämt viel Zeit“, brummte Jarick verstimmt, dabei sich in dem spartanisch eingerichteten Raum umblickend.

„Sicherlich hat er viel um die Ohren“, versuchte Tristan, ihn zu besänftigen. „Außerdem haben wir keinen Termin.“

„Trotzdem...“, stieß Jarick verärgert aus, aber schluckte den Rest des Satzes herunter. Wenn er sich schon erdreistete, einen Termin für die Bündniszeromonie festzulegen, dann muss er gefälligst auch pünktlich zu einem kurzfristigen Treffen erscheinen.

„Er kommt bestimmt bald“, versicherte der Walkür.

„Woher nimmst du nur diese Geduld?“, seufzte Jarick, als er sich ungalant in seinen Stuhl setzte.

„Wir warten noch nicht lange“, zuckte Tristan mit seinen Schultern.

„Nicht lange?“, wiederholte Jarick heftig. Unbedingt musste er seine Rage zügeln, denn nur sachliche Argumente behoben dieses unnötige Problem. Zumindest hoffte er, eine gewalttätige Auseinandersetzung zu vermeiden.

„Jarick, seit einer Viertelstunde sitzen wir in diesem Raum. Sonst warte ich stundenlang.“

Du vielleicht, aber ich nicht, schoss es Jarick ungehalten durch den Kopf. Die Vorstellung, stundenlang nutzlos herumzusitzen, gefangen in seinem Gefühlschaos, erschien ihm unerträglich.

„Entschuldigen Sie die lange Wartezeit“, kam Wigald Rabe in sein Büro. Zügig begab er sich zu seinem Schreibtischstuhl.

Endlich, atmete der Lysane auf, während Tristan sich höflich von seinem Stuhl erhob. Jarick hingegen nicht. Das wäre ja noch schöner, wenn er, Forseti Gervarus Balderson von Asgard, diesem unverschämten Drauger eine göttliche Ehre zuteilkommen ließe. Abermals vergaß er seine Midgardidentität. Natürlich bemerkte Wigald Rabe Jaricks unhöfliches Verhalten, er überging jedoch diese Respektlosigkeit.

„Neuerdings benötigen die Alvaren andauernd meinen Rat. Was kann ich für Sie tun?“, setzte sich der Obermeister.

„Ihr Brief“, antwortete Jarick mit hochgezogenen Augenbrauen, obwohl der Alvare die Antwort kennen müsste. Höflicherweise verkniff der Lysane sich das Attribut anmaßend.

„Mein Brief?“, erwiderte Wigald Rabe verständnislos.

„Ja, in dem Sie mir befehlen, heute Nacht Tristan Paladin zu meinem Schüler zu erheben“, half Jarick ihm auf die Sprünge, woraufhin Wigald Rabe seine Stirn runzelte.

„Darf ich den Brief sehen?“ Der Alvare streckte seine Hand aus. Ohne Zögern übergab Jarick ihm das Schreiben. Schweigend studierte Wigald die wenigen Zeilen.

„Weder habe ich diesen Brief verfasst noch diesen dreisten Termin festgesetzt. Jemand hat sich meiner Identität bemächtigt“, empörte der Obermeister sich nach einer Weile verärgert.

Während Jarick in seinen Gedanken mögliche Kandidaten in Erwägung zog, warf Tristan einen Namen in den Raum. „Ansgar Ferdinand?“

„Ich denke nicht“, widersprach Wigald ihm. „Der Großprior der Elhazen möchte Ihren Tod, Herr Paladin. Es liegt ihm also fern, dass Sie das Bündnis mit Herrn Richter eingehen.“

„Bei Zuwiderhandlung wird abermals mit meinem Tod gedroht.“

„Ja, allerdings glaube ich, dass das nur ein Druckmittel ist, um dem Befehl nachzukommen“, überlegte der Obermeister.

„Demnach scheidet Ansgar Ferdinand aus“, stimmte Jarick zu.