Buch lesen: «Gespalten»
Gespalten
Vorwort
Ich bin Nils und mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zur Welt gekommen. Ich werde in diesem Buch meine Erfahrungen, überwiegend im zwischenmenschlichen Bereich, schildern. Meine Aufzeichnungen sollen dazu dienen, die für mich prägenden Erlebnisse besser verarbeiten und mich und mein Umfeld klarer sehen zu können sowie Menschen in ähnlichen Situationen aufzuzeigen, dass das Leben zwar grausam sein kann, aber auch für jeden ein Fenster offen hält.
Ich bin 1982 per Kaiserschnitt zur Welt gekommen. Meiner Mutter hat es sicherlich einen gehörigen Schreck eingejagt, als sie mich das erste Mal in die Arme geschlossen hat.
Wie der Name der Behinderung schon sagt, hatte ich eine Spalte durch Oberlippe, Kiefer und Gaumen. Im früheren Sprachgebrauch nannte man diesen Geburtsfehler Hasenscharte, wegen der Ähnlichkeit mit der Y-förmigen Spalte von Oberlippe zu Nasenlöchern bei Hasen. Ebenso hieß es, die Mutter habe sich während der Schwangerschaft sehr heftig erschrocken, was zu diesem Fehler geführt hätte. Das ist natürlich Unsinn. Damals meinten die Ärzte, ein Vitaminmangel oder auch Vitaminüberschuss könnte der Grund für die Fehlbildung sein.
Leider gab es fast so viele unterschiedliche Meinungen, wie die Zahl der Ärzte, die meine Eltern mit mir konsultierten.
Dass meine Eltern Zahntechniker waren, war ein großer Vorteil. So fertigte mein Vater eine Schnabeltasse für mich an, da ich nicht an der Brust meiner Mutter trinken konnte. Außerdem studierte er jede zur damaligen Zeit vorhandene Literatur, die mein Problem behandelte. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie vom ersten Tag an nur das Bestmögliche für mich wollten.
Frühe Kindheit
Meine Eltern erzählten mir, ich sei stets ein fröhliches Kind gewesen und habe alle Operationen willig über mich ergehen lassen. Auf die Frage, wie ich auf andere Leute gewirkt habe, meinte mein Vater, dass es für einige nicht ganz einfach gewesen sei. Verständlich, wenn sich bei einem lachenden Kind plötzlich die Oberlippe spreizt.
Für meinen älteren Bruder wurde meine Behinderung rasch zur Normalität.
Für die ersten Operationen entschieden sich meine Eltern für einen Operateur, der gebürtig aus der ehemaligen DDR kam. Er hatte auf diesem Gebiet eine neue Operationstechnik entwickelt, die meinen Eltern am vernünftigsten erschien.
Mit einem halben Jahr hatte ich die ersten beiden Eingriffe hinter mir. Die Lippe war geschlossen, scheinbare Normalität kehrte ein.
Ich kann mich noch gut an einige Krankenhausaufenthalte erinnern. Insgesamt mögen es ungefähr fünfzehn gewesen sein. Als ich wieder einmal an der Nase operiert wurde, war mein Vater dabei. Er hatte mich danach gefragt, ob ich den Verband im Spiegel anschauen möchte. Dies habe ich natürlich bejaht. Als er mich dann auf einen Stuhl gestellt hatte und ich den riesigen Verband auf meiner Nase im Spiegel entdeckte, wurde mir ganz schwindlig. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich eine riesige weiße Knollennase im Gesicht.
Bei einer weiteren Operation wurden zum ersten Mal Knochen aus meinem Beckenkamm entnommen und im Oberkiefer eingesetzt. Der Verband mit dem vielen Draht im Gaumen war äußerst unangenehm und meine Mutter musste mich im Krankenzimmer regelrecht einfangen, bevor sie mich in das kleine Untersuchungszimmer bringen konnte. Ich mochte den Arzt nicht, der den Verband prüfte und schmerzhaft in meinem Mund herumfuhrwerkte. Der Narkosearzt hingegen war sehr nett. Er besuchte mich öfter und spielte mit mir Tischkicker. Später erfuhr ich, dass das Personal gedacht hatte, ich wäre Privatpatient.
Allerdings war ich kein Privatpatient, somit mussten meine Eltern einen Teil der Kosten decken, da die Krankenkasse nicht für alle Behandlungen aufkam.
Meine Kindergartenzeit verlief recht entspannt. Die Erzieherin hieß Elli und war meine erste große Liebe. Sie war eine ausgesprochen liebenswerte Person. Besonders liebte ich ihre langen dunkelblonden Haare und ihr freundliches Lächeln, mit dem sie mich jeden Morgen empfangen hat. Dass ich kein großer Maler werden würde, hat sich schon damals abgezeichnet. Meine Stärken lagen in anderen Bereichen. Ich war gerne in Bewegung, hatte Freude beim Fangen spielen oder anderen Action-Spielen.
Erste Schuljahre
1988 wurde ich eingeschult. Bereits nach einigen Tagen hatte ich ein negatives Erlebnis mit dem Hausmeister. Kann sein, dass ich gerannt bin. Ich weiß es nicht mehr so genau. Auf jeden Fall bin ich mit meiner Jacke an einem Blumenstrauß im Flur hängen geblieben. Eh ich mich versah, lag die bunte Pracht samt zersplitterter Vase auf dem Boden, Herr Weimer, der Hausmeister, hat getobt. Am nächsten Tag habe mich nicht mehr in die Schule getraut. Schließlich habe ich meiner Mutter von meinem Missgeschick erzählt. Sie hat sich furchtbar darüber aufgeregt, wie man gegenüber einem Sechsjährigen derart überreagieren konnte. Kurz entschlossen brachte sie mich zur Schule. Dort gab es wohl ein klärendes Gespräch zwischen ihr und Herrn Weimer. Von da an hat er mich erst mal in Ruhe gelassen.
Die Grundschule stellte sich im Großen und Ganzen als sehr angenehm dar. In meiner Straße wohnten meine besten Freunde, Markus und Jan, mit denen ich jeden Morgen den Schulweg antrat.
Bei drei Jungs war es natürlich oftmals auch der Fall, dass beim Spielen einer von uns das fünfte Rad am Wagen war. Markus war immer der Dreiste von uns dreien, egal wo wir waren, er hat sich immer auf die Couch geschmissen und sich wie zu Hause gefühlt. Jan war immer etwas zurückhaltender und ruhiger. Ich war eher der Clown in unserer Truppe.
Oft sind wir mit unseren großen Brüdern zum Fußball spielen gegangen. Ich kann mich noch gut an den löchrigen Bolzplatz am Friedhof erinnern.
Manchmal haben wir mit unseren Kettcars kleine Crashtests durchgeführt. Ich fuhr von unserem Grundstück auf den Gehweg, Jan fuhr bei sich Zuhause los und kam mir frontal entgegen. Bei einem dieser Frontal-Crashs hat mein Modell leider einen Achsbruch erlitten.
Später bin ich noch mal negativ mit Herrn Weimer in Kontakt gekommen, es stand die Fahrradprüfung an. Diese wurde immer mit den Kindern der dritten Schulklasse durchgeführt. Auf jeden Fall hatte ich das Pech, dass ich als Letzter auf die Strecke gehen musste. Laut Hausmeister musste der Letzte der Gruppe immer ein orangefarbenes Cappy aufsetzen, damit alle wussten, dass der letzte Fahrer kam. Aufgrund meines blumigen Erlebnisses mit Herrn Weimer, war ich ihm so gut es ging aus dem Weg gegangen. Aus meinem Verhalten schloss er wohl, dass ich nicht gern im Mittelpunkt stand. Er hat das mit dem Cappy vor allen anderen zelebriert, als wäre ich der Prinz of Wales, dem die Krone verliehen wird. Ich hätte im Boden versinken können.
Eigentlich war ich ein fröhliches Kind, oft habe ich meine Familie durch meine Art aufgeheitert. An ein Weihnachtsfest bei meinen Großeltern kann ich mich noch gut erinnern, damals gab es einen Hit namens “Hier kommt Kurt”.
Mit der Sonnenbrille meines Onkels und dem Hut von meinem Opa habe ich das Lied zum Besten gegeben. Mit einem Kamm als Mikrofon und einer Decke als Mantel bewaffnet, bin ich durchs Wohnzimmer gewirbelt, habe getanzt und gesungen. Meine Großeltern, Onkel und Tanten waren von meinem Auftritt begeistert und haben herzhaft gelacht.
Es war eine schöne Zeit damals in der ich nie wirklich mit meiner Behinderung konfrontiert wurde. Nur Timo, ein Bekannter meines Cousins, äußerte sich ab und zu abfällig und nannte mich „Elefant“, wenn er mich sah. Natürlich war mir das unangenehm, dennoch kam ich im Prinzip gut mit ihm zurecht.
Außerdem war ja meine Nase tatsächlich nicht so wie die anderer Kinder, was mir dadurch immer wieder verdeutlicht wurde.
Durch die Spalte auf der rechten Seite fehlte dort der Knorpel in der Nase, was im Verlauf meines Wachstums immer deutlicher wurde. Obwohl Timo mich öfter „Elefant“ nannte, gehörte er nie zu den Menschen, über die ich eine negative Meinung hatte.
Mit ungefähr acht Jahren musste ich zum ersten Mal zum Kieferorthopäden. Die Orthopädin meinte, dass sie diesen schweren Fall nicht übernehmen könne, und empfahl meiner Mutter die Uniklinik in Münster.
So kam es, dass meine Mutter und ich einmal im Monat nach Münster in die Universitätsklinik fuhren. Sie hat sich nie über diese zusätzliche Belastung neben Haushalt und Beruf beklagt.
Dort machte Dr. Rehmer zum ersten Mal einen Abdruck von meinem Kiefer. Leider ist es so, dass es dort viele junge Ärzte gibt, die sich über kurz oder lang selbstständig machen. So kam es, dass sich viele unterschiedliche Ärzte um mich bemühten.
Eines Tages kam uns in einem der schmalen Gänge, die die einzelnen Gebäudekomplexe miteinander verbanden, ein Kind mit einem Wasserkopf entgegen. Ich spürte, dass meine Mutter genauso erschrak wie ich. Ich wollte ihn nicht anstarren, konnte aber den Blick nicht abwenden. Gleichzeitig empfand ich ein tiefes Mitleid mit dem Jungen. Dieses Mitleid sollte mir in meinem Leben, beim Umgang mit Menschen mit Behinderung, noch oft begegnen. Im Laufe der Jahre entwickelte ich ein ganz besonderes Einfühlungsvermögen für benachteiligte Menschen.
Eines Tages war ich zum 9. Geburtstag von meinem Klassenkameraden Pierre eingeladen. Dessen Vater lag zu diesem Zeitpunkt nach vielen Krankenhausaufenthalten querschnittsgelähmt zu Hause im Bett.
Ich saß mit den anderen Jungs auf der Terrasse und ließ mir die Pommes schmecken, als ein Bruder von Pierre zu mir kam und meinte, dass sein Vater mich kurz sprechen wolle. Erstaunt folgte ich ihm ins Zimmer des Vaters, der fern sah. Als wir eintraten, schaute er mich an und meinte, dass er mich durchs Fenster gesehen habe und ich wie Mike Krüger aussehen würde. Dann lachte er herzhaft und wandte sich wieder dem Fernseher zu.
Ich habe damals nicht wirklich verstanden, was er mir damit sagen wollte. Heute denke ich, wenn es ihm was gebracht hat und er in dieser schlechten letzten Zeit seines Lebens noch ein wenig Spaß gehabt hat, warum nicht.
Ich habe nie mit jemandem über diese Begegnung gesprochen, wie ich all meine Negativ-Erlebnisse gegenüber meinen Eltern verschwiegen habe. Heute weiß ich, dass das falsch war.
Eines Tages hat es an der Tür geklingelt, als ich in meinem Zimmer spielte. Meine Mutter öffnete und sah sich jemandem gegenüber, der Geld für Menschen mit Behinderung sammelte. Meine Mutter erklärte dem Mann, dass sie selbst ein Kind mit Behinderung hätten und dadurch finanziell stark belastet seien. Diese Worte haben sich bis heute tief in mein Bewusstsein eingegraben. Auch darüber habe ich nie gesprochen.
Mit zehn, die Grundschulzeit neigte sich ihrem Ende zu, begannen meine ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Markus, Jan und ich spielten immer mit drei Mädchen aus unserer Klasse. Wir spielten Vater, Mutter, Kind, bauten einen Staudamm oder sahen zusammen Videokassetten an. Irgendwann war es so, dass ich beim Fangen lieber von Esther gefangen werden wollte als von Julia. Damals begannen meine Probleme mit Markus, von denen er bis heute nichts erfahren hat.
Wir verliebten uns beide, wie wir damals zu empfinden glaubten, in dasselbe Mädchen. Ich habe jedoch meine Gefühle für mich behalten.
Eines Tages hatten mein Cousin Karsten und ich die Idee, dass wir jeder eine Kiste vergraben wollten, in die wir ganz persönliche Dinge legen wollten. Erst viele Jahre später würden wir unsere Schätze wieder ausgraben. Gesagt, getan. In meine Schatzkiste wanderte auch ein Zettel, auf den ich geschrieben hatte, dass ich Esther liebe.
Es kam, wie es kommen musste. Mein Cousin, der es scheinbar nicht mehr aushalten konnte, buddelte nach kurzer Zeit beide Kisten wieder aus. Natürlich ohne mich! Als Markus und ich auf dem Heimweg von der Schule waren, rief Karsten: „Nils liebt Esther, Nils liebt Esther …“ Ich dachte, ich müsste im Erdboden versinken. Selbstverständlich habe ich heftig widersprochen. Bestimmt war ich knallrot angelaufen. Zu Hause habe ich mich aufs Bett geworfen und vor Scham und Enttäuschung bitterlich geweint.
Ich war als Kind im Gegensatz zu meinem Bruder noch in keinem Sportverein. Bjarne gehörte der Leichtathletik-Gruppe an. Auf diese Weise kam ich zum Waldlauf und habe ein paar Wettkämpfe gewonnen. Trotzdem war es nicht das Richtige für mich. Recht schnell wechselte ich zum Fußball. Zu Beginn als Torwart und später als Verteidiger. Ich war ziemlich gut, doch dann konnte ich mich nicht mehr aufraffen, hinzugehen, was mich im Nachhinein doch sehr ärgert.
Heute sage ich meinen Eltern immer, dass sie mich doch besser hätten fördern müssen, was ich natürlich nicht böse meine. Meinen Eltern war es ein Dorn im Auge gewesen, dass ich Fußball gespielt habe, da sie es viel zu gefährlich für mich fanden. Ich bin ihnen dankbar, dass sie mich trotz ihrer Bedenken spielen ließen.
Mit dem Ende der Grundschulzeit meldeten mich meine Eltern in der Realschule an.
Hänseleien – das andere Geschlecht – Freundschaft – Alkohol
In der Realschule hatte ich das Glück, dass ich einige Kameraden wiedertraf. Dazu gehörten mein bester Freund Jan, außerdem Mark und Manuel. Wir fuhren gemeinsam mit dem Bus nach Oelde. Zunächst war mein Bruder noch dabei, was den Vorteil hatte, dass ich mich als Fünftklässler zu ein paar Zehntklässlern stellen konnte.
Natürlich waren wir Stromberger an der neuen Schule in Oelde erst mal Außenseiter. Die anderen haben über uns getuschelt. Durch die eine oder andere nicht allzu ernst gemeinte Keilerei fanden wir aber bald unseren Platz in der Klasse. Trotzdem gab es schwierige Situationen für mich.
Eines Tages auf der Heimfahrt saß ich mit meinem Bruder vorn im Bus, als aus den hinteren Reihen, wo sich meist die Hauptschüler aufhielten, verletzende Bemerkungen zu meinem Aussehen kamen. „Komm mal zu uns nach hinten Behindi“ oder „Spasti, willst du mich heute Abend mal besuchen?“ Plötzlich stand ein Mädchen neben mir, kicherte blöd und sagte dann: „Hey Plattnase hörst du mich nicht? Schau mich mal an.“
Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken. Mein Bruder stieß mich in die Seite und zischte: „Hör nicht auf den Scheiß“. Mühsam unterdrückte ich meine Tränen. Zu Hause verkroch ich mich in mein Zimmer und gab mich meinem Schmerz hin. Auch über diesen Vorfall habe ich nie mit meinen Eltern gesprochen.
An einem anderen Tag, mein Bruder und ich waren wieder auf dem Heimweg, stiegen wir aus dem Bus und überquerten den Schulhof der Grundschule, als ein Junge auf mich zugerannt kam und mir meine Tasche entriss.
Bjarne wurde stinksauer und holte sie für mich zurück. Diese ersten erniedrigenden Erlebnisse nahmen mir jegliche Lust auf die Schule. Vielleicht war das bereits der Anfang vom Ende.
Der Spott der anderen bezog sich natürlich auf mein Aussehen. Durch die kieferorthopädische Behandlung sollten meine verdrehten Schneidezähne in die richtige Stellung gebracht werden. Leider war es so, dass sie sich durch die Korrektur lockerten. Einen konnten wir ohne Betäubung herausziehen.
In der Parallelklasse gab es einen behinderten Jungen. Er hieß David, hatte einen verstümmelten Arm und nur ein halbes Bein. Er war total schräg drauf und hat ständig irgendwelche Leute angemacht. Auch ich war ein Opfer seines Spotts, was ich überhaupt nicht verstehen konnte. Schließlich war er doch selbst behindert.
Wahrscheinlich wollte er durch sein Verhalten seine Schwäche ausgleichen. Ich habe nie dieses vermeintliche Selbstvertrauen besessen und auch nie den Mut gefunden, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen.
Mein mangelndes Selbstbewusstsein zeigt sich auch in folgender Szene. Wir standen nach der Schule wieder einmal am Busparkplatz. Irgend so ein Volltrottel aus der Hauptschule rempelte mich auf einmal an und rief: „Hey du Vollassi, aus welcher Tonne haben sie dich denn geholt?“ Ich habe mich nicht gewehrt und bin einfach in den Bus gestiegen. Da hat er an die Scheibe geklopft, dumm gelacht und eine Fratze gezogen, die wohl mein Äußeres widerspiegeln sollte.
Sein Gesicht habe ich bis heute nicht vergessen. Später sah ich ihn auf der einen oder anderen Party. Ich hab ihn aber nie angesprochen. Außerdem gehörte er zu denen, die mir nur einmal dumm kamen.
Von anderen wurde ich dagegen meist täglich schikaniert. Während der Pausen haben wir auf dem Schulhof oft mit einem Tennisball Tischtennis gespielt. Meist kamen drei Jungs aus den oberen Klassen hinzu und sahen uns zu. Dabei haben sie dämlich gelacht und sich über mein Aussehen lustig gemacht. Wenn wir uns dann verzogen haben, sind sie hinter uns her und haben weiter dumme Sprüche, wie „Plattnase, Spasti, Behindi, Spachtelnase etc.“ losgelassen. Es war einfach nur grausam, dies fast täglich erleben zu müssen. Bei diesen erniedrigenden Aktionen habe ich mich oft gefragt, wie es wohl an der Hauptschule gewesen wäre.
Aufgrund dieser Vorkommnisse habe ich mit der Zeit genau darauf geachtet, wem ich wann über den Weg laufen könnte, um solch peinliche Situationen zu vermeiden. Mein „Gefahrenscanner“ funktionierte, zumindest außerhalb der Schule, recht gut. Jedoch hatte ich fast immer das Gefühl, die Leute würden hinter meinem Rücken tuscheln.
Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich meine Eltern oder Lehrer über die Geschehnisse informiert hätte. Vielleicht wäre ja alles noch schlimmer geworden. Damals hatte ich das Gefühl, meine Probleme selbst lösen zu müssen.
Manchmal fühlte ich mich so mies, dass ich partout nicht zur Schule wollte. Dann habe ich das Fieberthermometer an die brennende Nachttischlampe gehalten, um Fieber vorzutäuschen, damit mich meine Mutter von der Schule abmeldete.
Einmal hatte ich so schlimme Bauchschmerzen, dass meine Mutter mit mir in einer Nacht- und Nebelaktion zum nächsten Notarzt gefahren ist. Er konnte nichts feststellen und meinte, die Schmerzen könnten psychosomatisch bedingt sein. Ich habe beteuert, dass es keine Probleme gäbe. Das war im Nachhinein gesehen ein Fehler.
Neben mir gab es ein weiteres Mobbingopfer in unserer Klasse. Es war Manuel aus Stromberg, er war ein sehr schüchterner Junge mit lockigen Haaren. Wir haben ihn als „Römer-Löckchen“ aufgezogen. Ich habe mich damals an den Hänseleien beteiligt, was mir heute sehr unangenehm ist. Aber es tat einfach nur gut, mal nicht der Depp der Nation zu sein. Ich wusste, dass ich mich dadurch nicht von den Idioten, die mir das Leben schwer machten, unterschied. Dennoch konnte ich nicht anders und schäme mich heute dafür.
In einer relativ frühen Phase der kieferorthopädischen Behandlung ist es uns einmal gelungen, einen Überbiss (Oberkiefer vor dem Unterkiefer) hinzubekommen, doch das war das letzte Mal denn dann begann der Unterkiefer zu wachsen. Durch dieses Wachstum war der zurückgebliebene Oberkiefer immer deutlicher zu erkennen und machte mir das Leben nicht einfacher.
Die Anfeindungen wurden leider nicht weniger, es gab noch eine zweite Gruppe von Tyrannen. In den Fünfminutenpausen beschimpften sie mich immer aus dem dritten Stock, während wir unten Tischtennis spielten. An einem Tag wurde mir alles zu viel. Als meine Mitschüler zum Unterricht in die Klasse liefen, setzte ich mich abseits auf eine Treppe und weinte mir die Augen aus dem Kopf. An diesem Tag beschloss ich, in den kleinen Pausen nicht mehr nach draußen zu gehen.
Ich war dreizehn, als ich mich erstmals ernsthaft für ein Mädchen interessierte. Sie hieß Christina, war das süßeste Mädchen, das ich jemals kennengelernt hatte, und veranlasste mich zu einem erneuten „Anfang“, dem Beginn der unglücklichen Lieben. Das Verliebtsein war doch recht einseitig. Christina hat sich nie wirklich für mich interessiert, obwohl sie mich nett fand, wie sie mir versicherte. Ich war sogar einmal bei ihr zu Hause, als ihre Eltern nicht da waren. Christina hat mir auf der Gitarre vorgespielt. Mehr ist nicht passiert. Wenn wir auf dem einen oder anderen Geburtstag, bei dem auch Christina war, „Wahrheit oder Pflicht“ spielten, verspürte ich den großen Wunsch, sie zu küssen. Es blieb allerdings beim Wunsch.
Während eines Sommers ist Ulrike, eine Klassenkameradin von mir, nach Stromberg gezogen. Sie war ein unglaublich niedliches Mädchen mit ihren roten Haaren. Ich habe sie des Öfteren begleitet, wenn sie zum Reitunterricht musste, oder wir haben zusammen Radtouren unternommen. Die Zeit mit ihr war immer wunderschön. Es kam, wie es kommen musste. Ich verliebte mich in sie. Wieder einmal unglücklich. Dieser Zustand hat lange angedauert und kam später immer wieder auf.
Zu dieser Zeit habe ich außerdem meine beste Freundin Katja kennengelernt. Sie ist zur gleichen Zeit in die Landjugend eingetreten wie ich und in die Parallelklasse gegangen. Ich habe sie immer sehr gemocht, aber verliebt habe ich mich nie in sie, eine Zeit lang war sie mit Markus zusammen. Katja war immer für mich da, sie war verdammt tough und hat mich in etlichen unangenehmen Situationen verteidigt. Oft eckte sie mit ihrer rebellischen Art an, aber wir verstanden uns sehr gut und wussten immer, wie’s dem anderen ging. Während des Unterrichts schrieben wir uns lange Briefe, in denen wir unsere Wünsche und Sehnsüchte austauschten. Es war so vertraut mir ihr, sie war wie eine Schwester, die ich nie hatte.
In unseren Briefen schworen wir uns, immer füreinander da zu sein. Meine Mutter sagt immer, es gibt für jeden Topf den richtigen Deckel, schrieb Katja mir in einem ihrer Briefe. Diese Hoffnung hatte ich immer.
An meinem vierzehnten Geburtstag hielt der Alkohol Einzug in mein Leben, wenn ich mich an diesem Tag auch noch nicht betrunken habe. Anlässlich meines „Freudentages“ veranstalteten wir unsere erste richtige Mai-Tour. Jemand hatte Zigaretten und Bier mitgebracht. Ich habe nur mal probiert und mich mit meiner Mutter später darüber unterhalten. Sie meinte, dass es schon etwas früh sei in unserem Alter.
Einige Monate später kam es zu meinem ersten Besäufnis. Wir zelteten auf einer abgelegenen Wiese. Mein Bruder besorgte uns eine Palette Bier. In der Garage fand die geheime Übergabe statt. Wir mussten ihm schwören, ihn nicht zu verraten. Aufgrund unserer Verschwiegenheit war dies nicht das letzte Mal, dass wir seine Unterstützung in Anspruch nehmen durften.
Freitags, während des Kunstunterrichts, vereinbarten wir unseren nächsten Treffpunkt, wo wir wieder einen draufmachen wollten. Natürlich waren zu Beginn die Abstände zwischen den Saufgelagen noch größer, was sich allerdings rasch änderte. Oft fuhren Jan und ich mit dem Fahrrad nach Oelde zu Klassenkameraden und betranken uns dort. Meist war es so, dass ich dann der Vollste war. Wenigstens erlangte ich auf diese Weise die Anerkennung und den Respekt der anderen.
Selbst wenn wir uns zum Lernen trafen, fehlte nie der Alkohol, auch wenn wir am nächsten Tag in die Schule mussten. Einmal hatte ich mir im Suff das Knie an einer Tischtennisplatte demoliert und heftige Schmerzen. Zum Glück hatte mein Vater, der mich später abholte, offensichtlich weder meine Schmerzen noch meine Fahne bemerkt.
An einem Abend, als ich sturmfreie Bude hatte, hat Mark bei mir gepennt. Während des Zockens am Computer haben wir eine Flasche Roten (Schnaps) getrunken. Ich habe mich vollkommen abgeschossen und fand mich irgendwann in meinem Bett wieder. Ich kotzte in den Eimer, der danebenstand. Meinen Eltern, die inzwischen wieder zu Hause waren, konnte ich weismachen, dass ich wohl etwas Schlechtes gegessen haben musste.
In unserem Ort gab es einen Getränkehändler, der abends privat Getränke an der Haustür verkaufte. Da wir noch keine sechzehn waren, haben wir eine schriftliche Erlaubnis unserer Eltern verfasst, wonach wir in ihrem Auftrag Bier kaufen sollten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mann das damals geglaubt hat, er wollte sich wohl eher das Geschäft nicht entgehen lassen.
Wenn wir wieder einmal eine Kiste Bier ergattert hatten, sind wir zu einer alten Kapelle gefahren und haben sie dort einträchtig geleert. Des Öfteren waren auch zwei schräge Typen dabei, die laut unserer Eltern ein schlechter Umgang für uns waren. Obwohl meine Eltern wussten, dass ich zwischendurch mit diesen Jungs unterwegs war, haben sie es mir nicht verboten. Das beweist ihr Vertrauen, das sie schon früh in mich gesetzt haben. Damals kam es zu meiner ersten und letzten Straftat. Einer der beiden schrägen Typen hatte Geburtstag. Auf unserer Tour kamen wir bei einem anderen Getränkehändler vorbei, der seinen Kühlwagen auf der Straße geparkt hatte. Leicht angetrunken probierten wir, ob er offen war. Das Glück war auf unserer Seite. Wir nahmen ein paar Flaschen und ließen uns im hell erleuchteten Vorraum einer Bank nieder.
Plötzlich stand der Händler vor uns. Wir hatten es ihm ja wahrlich leicht gemacht. Unser Glück war, dass er von einer Anzeige absehen wollte, wenn wir ihm am nächsten Tag eine Kiste Bier bringen würden. Es lag wohl an unserem jugendlichen Alter, dass wir uns darüber aufregten. Der Mann wollte eine ganze Kiste, obwohl wir doch nur ein paar Flaschen genommen hatten. Die Erleichterung, dass er uns nicht mit der Polizei konfrontiert hatte, überwog schließlich.
Mein Bruder lehrte mich, auf öffentlichen Partys möglichst wenig zu trinken, damit ich eventuellen Auseinandersetzungen gewachsen war. Da mein „Gefahrenscanner“ recht gut funktionierte, kam es selten zu Konfrontationen. Weniger trinken dagegen, war da schon ein größeres Problem. Nach einer solchen Party wollte aus unerklärlichen Gründen mein Haustürschlüssel nicht so wie ich. Kurzerhand machte ich es mir auf der Bank vor unserem Haus bequem. Mein Vater hat mich am Morgen gefunden. Meine Mutter war gerade mit ihrem Kartenklub verreist und Oma hatte sie vertreten. Sie konnte gar nicht verstehen, dass ich vor Müdigkeit kaum die Augen offenhalten konnte. Der Grund dafür blieb ein ewiges Geheimnis zwischen meinem Vater und mir.
Unser übermäßiger Alkoholkonsum blieb natürlich nicht verborgen. An der Schule wurde aus diesem Grund eine Klassenkonferenz einberufen, wie mir meine Mutter später erzählt hat.
Das Ergebnis war, dass wir nicht mehr gegenseitig übernachten durften. Unsere Eltern haben an einem Strang gezogen. Wir wussten nichts von dieser Konferenz und mussten uns auf die abendlichen Veranstaltungen beschränken.
Meine nächste heimliche große Liebe galt Marie. Wir feierten im Keller ihren fünfzehnten Geburtstag. Markus war ebenfalls da. Zwischen den beiden hatte es gefunkt und ich stand wieder im Abseits. In meinem Kummer setzte ich mich vor die Tür des Partyraums und ließ meine Tränen zu. Später fragte mich Marie, ob mit mir alles In Ordnung sei. Natürlich habe ich meine Gefühle für sie für mich behalten.
Die vielen Partys, die Nebenkriegsschauplätze im zwischenmenschlichen Bereich, mein Liebeskummer und nicht zuletzt meine Faulheit, haben mich zu einer Nachprüfung gezwungen. Biologie! Wie habe ich dieses Fach gehasst. Trotzdem lernte ich das ganze Heft auswendig und war relativ fit. Dennoch, die Prüfung war ein einziger Reinfall. Sie ließen mich bestehen, weil es bei mir eine besondere Situation sei. Der Versetzung in die Abschlussklasse stand nichts mehr im Wege.
Das letzte Schuljahr war geprägt von den Vorbereitungen auf die letzten Klausuren und den Überlegungen, was ich nach der Schule machen wollte. Meine schulischen Leistungen waren ja nicht so besonders. Viele meiner Mitschüler wollten nach ihrem Abschluss eine weiterführende Schule besuchen und das Abitur machen. Diesen Weg hätten sich meine Eltern auch für mich gewünscht, doch das erschien mir zum damaligen Zeitpunkt nicht realistisch. Also bewarb ich mich für alle möglichen Ausbildungsstellen. Da meine Noten für den kaufmännischen Bereich nicht ausreichten, blieb mir nur das Handwerk.
Daniel und ich waren bald die Einzigen, die noch keine Stelle gefunden hatten. In der Zeit der letzten Klausuren hatte ich mich nach vielen Absagen dazu entschlossen, zu einem Installationsbetrieb in unserem Ort zu gehen, um mich dort vorzustellen. In diesem Betrieb hatte mein Onkel schon seine Ausbildung absolviert. Vielleicht war dies mein entscheidender Vorteil gegenüber den Mitbewerbern gewesen. Nach ein paar Tagen Probearbeit wurde ich eingestellt. Ich war froh, diese Lehrstelle bekommen zu haben, wenn sie auch nicht meine erste Wahl war.