Die Efeufrau

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Ninas Miene, wie sie so neben Eva her zum Auto trottete, war die eines verdrossenen, der Erwachsenenwelt überdrüssigen Teenagers, der jegliche Einsichtnahme in sein Innenleben verweigert. Während Eva den Wagen anließ, sprach Nina mit tonloser Stimme wie zu sich selbst:

„Er hat sich so gut wie keine Notizen gemacht.“

„Das macht er, wenn er für sich ist, da bin ich mir sicher!“, sagte Eva schnell und warf ihrer Tochter einen aufmunternden Seitenblick zu.

„Macht er nicht, Mama!“

Ninas Kopf flog in den Nacken.

„Der denkt doch, der Papa ist abgehauen!“

DREI

„Bist du fertig mit essen?“

Eva rang sich ein Lächeln ab. Sie erhob sich vom Küchentisch, tat die wenigen Schritte zur Terrassentür und wuchtete das mächtige Schiebeelement auf. Achtzehn Quadratmeter nicht überdacht, aufgrund der Hanglage ruhten die äußeren Ecken ihres Balkons auf Stockwerk hohen Pfeilern - wie eine Plattform schwebte er über Hortensienbüschen und Rasen. Jetzt, gegen Abend, lag er im Schatten des Nussbaums. Eine leichte Brise fuhr in seine Krone, Blattwerk raschelte, gierig sog Eva die frische Luft ein. Kopfschmerzen bahnten sich an, Nervenenden im Hirn lagen bloß, bei der geringsten Bewegung klickten sie aneinander wie die an Drähten baumelnde Stahlkugelriege auf dem eichenen Schreibtisch von Ernst.

Klack – klack - klack ... fünf glänzende Kugeln, glatzköpfig, stahlhart. Plötzlich war Eva wieder ein Kind, sie musste die Finger zur Hilfe nehmen. Vater und Großvater, kleiner und Ringfinger, mit ihrer Umklammerung verbannte sie die Erinnerung. Der Mittelfinger kam dazu: Paul, der aus England stammte und sich wegen der großen Entfernung und einer quirligen Engländerin verabschiedet hatte, sie waren Freunde geblieben. Vor ihm und nach ihm und immerzu Till, viele lange Jahre. Evas Zeigefinger ragt aus der Hand wie ein Mahnmal - oh Gott, nur nicht gerade jetzt daran denken! Und mit Abstand zu allen Ernst, ihr abgespreizter Daumen und angetrauter Ehemann in guten wie in schlechten Zeiten. Zufällig kam die Anzahl der Kugeln der Männerriege in Evas Lebenslauf gleich. Ihre Augen hefteten sich auf den wabernden Efeu über der schmiedeeisernen Brüstung. Wer aus der Stahlkugelreihe, fragte sie sich beklommen, wer hatte den Anfang gemacht, den Anstoß gegeben und alles in Bewegung gebracht?

Eva führte den Kopf auf die Brust und zurück in den Nacken, um Ordnung zu schaffen im konfusen Verstand. Sofort jagten Stiche vom Hinterkopf in ihre Augäpfel, als hätte eine der bleischwer agierenden Kugeln sie voll am Kopf erwischt. Ihr war, als wolle er bersten.

Seit ihrer Rückkehr vom Polizeirevier hatten Nina und Eva einsilbig in der Küche gehockt. Die Kluft am Küchentisch war unüberbrückbar. Der leere Platz zwischen Mutter und Tochter gaffte sie an, Nina schien weder Appetit auf Pasta noch auf Salat zu haben. Lustlos stocherte sie in ihrem Teller. Es war ein Geduldsspiel gewesen, aber sie hatte es geschafft, die langen Möhren- und Zucchinistreifen fein säuberlich von den dünnen Spaghetti zu trennen. Wie ein ausgewürgtes gelbgrünes Vogelnest lagerten sie auf dem Tellerrand, Eva seufzte. Sie stand auf und holte für beide ein Stück Tiramisu aus dem Kühlfach.

Der Oktober war nicht mehr weit, dann wurde Nina fünfzehn. In Evas Augen ein großes Kind. Sie senkte den Blick und löffelte angelegentlich ihren Nachtisch. Denn ausgerechnet dann, wenn sie es keinesfalls sollte, pflegte Nina urplötzlich Gedanken lesen, und den mit dem Kind würde sie ätzend finden und kränkend ... halt wieder mal typisch Mutter! Kuscheltiere im Bett, ja und, was hatte das schon zu bedeuten? Sie war längst erwachsen und Punkt!

Eva sah auf und entdeckte tiefe Schatten unter Ninas Augen. Machte die Abwesenheit der großen Schwester ihr stärker zu schaffen, als ihr bewusst war? Die Tierhandlung fiel Eva ein, sie hatte sich heimlich nach einer jungen Katze umgesehen, weil Ninas Herz daran hing, seit sie denken konnte. Aber so ein Tier war nicht unproblematisch. Es wurde größer und wühlte wahrscheinlich im Kompost. Oder es scharrte im Garten an Stellen, wo es nicht scharren durfte. Grub so ein Tier nicht wie Hunde das Erdreich um?

Ob Hund, Katze oder anderes frei laufendes Getier - seit Ernst weg war, hatte Eva Angst vor Eindringlingen. Sie war heilfroh über die lückenlose Einfassung ihres Grundstücks, drei Seiten umspannte der Maschendrahtzaun, die vierte zur Straße hin war begrenzt von einer mannshohen Mauer. Ernst hatte den Schutzwall der Wildschweine wegen hoch gezogen, die gegen Ende ihrer Bauzeit die Gärten der Nachbarschaft verwüstet hatten. Das schmiedeeiserne Tor in der Mauer schnappte automatisch zu.

Ob allerdings ausgerechnet eine junge Katze Nina von ihrem Kummer ablenken und über die schwierige Zeit hinweghelfen würde? Das Beste war, die Entscheidung zu vertagen, Eva presste die Handflächen gegen die pochenden Schläfen. Da hockten sie beide wortkarg am Tisch, und jede für sich hing ihren ureignen Gedanken nach. Anna in Melbourne ... sie musste sie unbedingt informieren, bevor sie das mit ihrem Papa aus anderer Quelle erfuhr.

Nina, am kurzen Ende der Eckbank, pickte gedankenverloren an ihrem Dessert. Plötzlich hob sie den Kopf, ihre Augen weiteten sich, sie fragte mit piepsiger Stimme: „Ob sie den Papa womöglich gar nicht suchen wollen? Was meinst du, wie es jetzt weiter geht?“ Ein Stoßseufzer entrang sich ihrer Brust, sie rief, als wäre das jetzt die Lösung: „Wenn wenigstens Anna hier bei uns wäre!“

Also doch, mit einem Mal brach es aus ihr heraus, sie vermisste die ältere Schwester! Annas springlebendiges Temperament, das musste Eva zugeben, hätte ein Sichgehenlassen niemals gestattet. Sie würde die Mutter zu Taten antreiben, würde keinesfalls wie gelähmt herumhängen, wie Eva es wohl in Ninas Augen tat. Dabei waren Anna und Nina über lange Strecken nicht unbedingt ein Herz und eine Seele gewesen - sechs Jahre Altersunterschied, sie hatten nicht selten gestritten.

„Was weiß ich, was jetzt kommt.“ Eva sah zu, wie Nina ihr kaum angerührtes Tiramisu auf dem Glasteller hin und her schob. Ihr fiel nichts Tröstliches ein. „Du hast ja gehört, es gilt abzuwarten.“ Ihre Schultern hoben sich, unschlüssig schlug sie vor: „Vielleicht sollten wir erst einmal Oma anrufen?“

„Wenn du meinst, das bringt was“, kam es schnippisch von Nina zurück. Mit verzogenem Mund warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und stand auf. „Und außerdem: Darum geht es doch gar nicht!“

Eva kratzte die kalten Reste der Pasta-Mahlzeit zusammen. Der abgestandene Geruch verursachte ihr Übelkeit, sie stand ganz schnell auf. „Noch zwei Tage Geduld“, mahnte sie und riss den Unterschrank zum Komposteimer auf, „du hast es doch selbst gehört!“

Wie gewohnt ließ sie heißes Wasser über die Essteller laufen, bevor sie sie in die Spülmaschine räumte.

„Sowie die Küche wieder in Schuss ist, werde ich nachfragen, ob Oma nicht doch eine Nachricht von Papa gekriegt hat. – Ich mach Tee, willst du auch eine Tasse?“

Nina, schon auf halber Treppe nach oben, drehte sich um.

„Nein, will ich nicht! Und das mit der Nachricht, das glaubst du doch selbst nicht - Oma hätte längst angerufen! Aber jetzt hab ich’s eilig, Martin kommt gleich.“

Eva sah Nina hinterher, die wie üblich zwei Stufen auf einmal nahm. Angesichts des unausweichlichen Telefonats unterdrückte sie einen Seufzer. Es war ganz schön schlimm, dass sie handeln musste, wo sie nicht wollte. Ein Stapel Briefe lag in der Schale neben dem Telefon. An Ernst gerichtet und wie es aussah, waren auch Rechnungen darunter, die eine oder andere Überweisung wäre erforderlich. Das war üblicherweise sein Revier und jetzt konnte sie ihn nicht fragen.

Der Rand der gläsernen Spaghettischüssel war zu hoch, sie passte nicht in die Spülmaschine. Wäre Eva beinahe aus der Hand gerutscht, denn ein Ohren betäubender, brunftiger Ruf drang aus dem Kinderzimmer, dehnte sich aus, erschütterte jede Mauer des Hauses. Kehlige, dumpfe Laute, Eva stellte die Glasschüssel ab. Fingerübungen auf dem Saxophon, Nina spielte sich warm.

Negermusik. Eva zog die Tür zum Windfang zu. Mutter hatte sich noch getraut, das Wort in den Mund zu nehmen. Aber Mutter - unwillkürlich griff sie sich an den Kopf und massierte Stirn und Schläfen - Mutter lebte schon lange nicht mehr im Haus. Ende April war sie gestorben, und seither - Evas Blick blieb auf den unersättlichen Greifarmen der jungen Efeutriebe rund um das Küchenfenster haften - seither schien das Leben ihrer einzigen Tochter aus den Fugen zu geraten.

Im Flur schlug die Türklingel an, die ersten Takte der Marseillaise erklangen, Evas Herz fing an zu flattern.

Die Türklingel schlug ein zweites Mal an. Nina sollte aufmachen gehen, Evas Füße schienen mit dem Boden verwachsen, denn dort, in kurzen Hosen und T-Shirt, saß Ernst am runden Küchentisch. Das Gesicht zum Fenster gewandt, blickte er in den Garten. Wie so oft in der Vergangenheit, der Ausdruck seiner tief liegenden, grauen Augen blieb Eva verborgen. Sie hielt den Atem an, gern hätte sie über den seidigen Haarpelz seiner Unterarme gestrichen, um zu sehen, ob er wirklich wirklich war. Ob er sich winden und ihm das immer ein wenig verdrießlich klingende Jetzt nicht! entschlüpfen würde, das ihr Verlangen nach Nähe zumeist im Keim erstickt hatte? Zärtlichkeiten, die nicht unmittelbar zum Sex führten, waren vergebliche Liebesmüh geblieben.

Allons enfants de la patrie - auf, auf, ihr Kinder des Vaterlands, den Aufstand geprobt, die Zeit ist reif! Wieder erklang die Marseillaise, länger und nachdrücklicher diesmal. Die rauchigen Töne im oberen Stockwerk brachen ab, Eva konnte sich regen. Sie war fast an der Haustür, verhielt dann aber den Schritt. Das Saxophon noch am Gurt um den Hals, im langen Flatterrock, die überlangen Bänder der Joggingschuhe mehrfach um ihre mageren Knöchel gewunden, polterte Nina die Treppe herab. Der junge Mann auf der Schwelle lächelte verlegen. Er trug Jeans und ein frisch gewaschenes, blendend weißes T-Shirt.

 

„Das ist Martin, Mama.“

Für einen Moment verharrten Nina und ihr Freund zögerlich unter der Haustür, liefen dann aber in stummer Übereinkunft nebeneinander die Treppe hinauf. Verstohlen zog Eva die ausgestreckte Hand zurück und sah ihnen hinterher. Ninas Zimmertür wurde nachdrücklich zugeknallt.

Als etwas später die Haustür zufiel, horchte Eva auf. Schnell griff sie zur Creme, rieb etwas davon auf die Hände und eilte die Treppe hinauf zum Ausguck am Gästezimmerfenster, wo sie schlief. Martin musste schon achtzehn sein, Nina stieg in einen roten Golf, sie fuhren davon. Eva kehrte zurück in die Küche und füllte den Wasserkessel. Dann lief sie zum Wohnzimmerschrank, hob eine der zarten Porzellantassen heraus und setzte sie behutsam zu der Zuckerschale aus rubinrotem Bleikristall. Die ausgespülte Teekanne kam zum Anwärmen in die Mikrowelle, Eva beobachtete sich. Das feinste Kristall und Porzellan, das Beste, was ihr Haushalt hergab. Brauchte sie diese Äußerlichkeiten, weil innerlich alles in Unordnung war? Bis Nina aus dem Kino zurück war, blieb sie allein, konnte bei einer Tasse Tee die drückende Last des Anrufs bei ihrer Schwiegermutter hinter sich bringen. Der Gespräch mit Anna musste noch warten, in Melbourne herrschte die Nacht.

Das Teewasser summte leise. Was Nina wohl tat? Knutschereien im schummrigen Kino, damit war zu rechnen, aber darüber hinaus?

„Was du immer denkst!“

Wenn Nina nur einen Schimmer von Evas schlimmster Befürchtung erhaschte, stellte sie sämtliche Stacheln auf und ergriff die Flucht. So wie Eva vor Jahren die Flucht ergriffen hatte.

„Bring mir bloß kein Kind nach Haus!“ hatte Mutter ihr mit auf den Weg gegeben und „Männer wollen nur das Eine!“

Gut, die Zeit damals war anders gewesen, aber Mutters Warnung hatte Eva verunsichert, ja zutiefst misstrauisch gemacht. Auch wenn sie nicht an den Klapperstorch glaubte, hatte sie doch nicht die blasseste Ahnung von Männern gehabt, geschweige denn, wie ein Baby zustande kam.

Nina war beinahe fünfzehn, das betonte sie oft und gern. Evas Meinung nach viel zu jung für Sex, ihre Mutter war dreiundzwanzig gewesen. So lange brauchte das Kind nun auch wieder nicht zu warten, und im Gegensatz zu ihr in dem Alter war sie längst aufgeklärt, aber dennoch stellte sich die Frage: Wie ging Nina mit ihrer Aufgeklärtheit um?

Evas Handflächen umspannten den vorgewärmten Bauch der Kanne, sie setzte sie zum Teegeschirr und goss simmerndes Wasser auf rotbraune Teeblätter. Wie süchtig inhalierte sie den aromatischen Duft des Australian Outback Tea, von dem Anna eine bemalte Halbpfunddose geschickt hatte. Auch wenn die bodenständige Teemischung nicht zum besten Geschirr und dem vergoldeten Holztablett passte, sie würde vielleicht den bohrenden Kopfschmerz lindern und ihr für Ernsts Mutter die passenden Worte eingeben.

Die angrenzenden Gärten waren noch immer verwaist, kein Nachbar in Sicht, doch bevor Eva das Telefon zu sich an den Küchentisch holte, schloss sie die Schiebetür zum Balkon, als gälte es, sich vor Lauschangriffen zu schützen.

VIER

Der Teerest in Evas Tasse war kalt geworden. Auf seiner Oberfläche schillerten bunte Schlieren wie Teerlachen nach einem Regen. Angestrengt lauschte sie dem Rufzeichen des Telefons. Einmal, zweimal, dreimal ... bei fünf hörte Eva auf zu zählen. Sie runzelte die Stirn und suchte die Zeiger der Armbanduhr zu entziffern. Die Geschäfte längst zu, Schwiegermutters Wohnung überschaubar - auch wenn es nicht allzu oft vorkam, war sie vielleicht außer Haus? Doch dann knackte die Leitung, ein Schnaufen drang an Evas Ohr.

„Hier Brandner.“

„Hallo Muttchen, ich bin's - Eva! Was treibst du, dass du so abgekämpft klingst?“

„Ach du bist's ...“

Ein deutliches Zögern, sie schien nach Worten zu suchen, bekundete dann spitz: „Was ich treibe? Ich liege - wie meistens übrigens, wenn du anrufst - gerade in der Badewanne!“

„Oh, das tut mir aber Leid! Ich kann mich ja später noch einmal melden!“

Eva wollte schon einhängen, da rief ihre Schwiegermutter schnell: „Nein, nein, bleib dran! Jetzt, wo ich schon mal draußen bin ...“

Sie ächzte und stöhnte, als würde sie einen ihrer mit Büchern gespickten Glasschränke über das Parkett schieben, brachte dann heraus: „Na, endlich – geschafft, die Hausschuhe sind an! Ist bei euch alles in Ordnung?“

„Das wollte ich gerade dich fragen - sag, geht es dir gut?“

„Danke für die Nachfrage, jetzt nach dem heißen Bad ... Na, du weißt ja, der Rücken, jeder Schritt tut weh, aber ich kann doch den ganzen Tag nicht nur liegen! Dienstag bin ich beim Doktor, mal sehen, was er mir diesmal Unnützes verschreibt!“

Das Leder des auberginefarbenen Sofas knarzte, Schwiegermutter legte wohl wie üblich die Beine hoch, thronte jetzt halb liegend, halb sitzend inmitten üppiger Seidenkissen.

„Wie geht es meiner Enkelin in Australien“, begann sie im Plauderton, „was macht ihr Heimweh?“ Ehe Eva antworten konnte, fuhr sie fort: „Seit Tagen versuche ich, das Kind zu erreichen, aber es ist wie verhext: Immer wenn ich richtig wach bin, scheint sie zu schlafen ... oder sie ist gerade außer Haus!“

Evas presste die bebenden Knie zusammen. Nach all den Wochen der Trennung spürte sie immer noch den schier unbezähmbaren Drang, in unbeherrschte Schluchzer auszubrechen, sich durchschütteln zu lassen, bis jeder einzelne Muskel schmerzte. Annas Abflug, die Faust in der Magengrube, so schmerzhaft hatte sie sich die Trennung nicht vorgestellt. Nach einem Seitenblick hatte Ernst gesagt: „Mein Gott, das Kind ist doch nicht aus der Welt!“

Ein Summen im Hörer, ein Knacken, Schwiegermutters: „Bist du noch da?“ ganz weit weg. Dann kam die Stimme wieder.

„Auf jeden Fall bin ich froh, dass du hinfliegst! Meinst du, Ernst wird es sich noch einmal überlegen?“

„Muttchen, Ninas und seine Ferien gehen dann dem Ende zu. Außerdem will er nur wandern, wandern, du kennst ihn ja, er ...“

„Entschuldige wenn ich dich unterbreche, aber mir fällt ein ... Habe ich richtig gerechnet, ist er schon gut eine Woche unterwegs?“

„Ja, genau deshalb rufe ich an ... “

„Wie seltsam ... bisher kein Lebenszeichen im Briefkasten. Sonst hat er mir doch auch ab und zu eine Karte geschickt!“

Ab und zu entsprach keineswegs den Tatsachen, von seinen Wanderungen pflegte er ihr täglich einen Etappengruß zu schicken. Ob er es tat, weil er nach Anerkennung lechzte? War er auf Bewunderung aus für eine Leistung, die daheim nicht genügend gewürdigt wurde? Oder war diese Handlung ein bloßer Akt der Pflichterfüllung, weil er seine Mutter so selten anrief? Auch wenn Eva sich über den Grund nicht klar werden konnte, der Stoß Ansichtskarten in Schwiegermutters Bücherschrank war nicht wegzuleugnen. Jede einzelne Karte hatte sie ihr vorgeführt, Ernsts schwungvolle Handschrift stand Eva deutlich vor Augen:

Viele Grüße aus ..., wo ich zu Fuß hingegangen bin.

Ohne Anrede, aber: Dein Ernst.

Der Text immer gleichbleibend, nur die geschönten Ortsansichten mit den Schneekuppen im Hintergrund und die Briefmarken wechselten mit dem Datum.

„Du also auch nicht!“ So etwas wie ein Schluchzer entrang sich Evas Kehle. „Dabei hatten wir so auf dich gehofft! Wenn nicht du, wer außer uns sollte von ihm gehört haben!“ Sie stöhnte auf. „Nina und ich, wir machen uns ziemliche Sorgen!“

Versehentlich führte Eva die Tasse zum Mund. Bitter wie Galle rann die abgestandene Teepfütze ihre Kehle hinunter, sie würgte und rang nach Luft. Dann sagte sie mit halb erstickter Stimme: „Ehrlich gesagt, allein wegen Ernst rufe ich an. Letztlich die alte Leier ... seine Einstellung zur Unabhängigkeit beim Wandern ist dir ja nicht fremd. Wir mussten uns notgedrungen daran gewöhnen, dass er uns auf die Folter spannt, aber diesmal ... diesmal hat er die Grenze überschritten“. Evas Stimme wollte brechen, sie fing sich aber und brachte ein hässliches Krächzen zustande. „Muttchen, hör zu, es ist nicht zu fassen! Acht Tage sind vergangen, und bisher nicht das kleinste Lebenszeichen!“

Eva zählte die Schweigesekunden, nach einer schier endlosen Spanne hörte sie ihre Schwiegermutter gepresst sagen: „Das ist ja wirklich seltsam ...“

„Ich will dir nicht umsonst schlaflose Nächte bereiten ...“, fiel Eva ihr ins Wort, „aber eins musst du wissen: Nina und ich, wir machen uns mehr als nur Sorgen. Wir haben uns zu einer Vermisstenmeldung durchgerungen ... wir waren sogar schon bei der Polizei.“

„Was sagst du da? Vermisstenmeldung? Bei der Polizei?“

Zweifellos saß Schwiegermutter kerzengerade in ihren Seidenkissen. „Du denkst doch nicht ernsthaft, dass Ernst was passiert ist? Nein, unvorstellbar, er ist doch nicht dumm ... er hätte doch Hilfe geholt!“

„Wie denn, wenn er verletzt ist!“

Die Fernsehsendung neulich, ein Wanderer in der Abgeschiedenheit der Pyrenäen. Er war abgerutscht, hatte sich beim Sturz die Hüfte gebrochen. Den rettenden Rinnsal knapp außer Reichweite, war er rein zufällig entdeckt worden, sonst wäre er verdurstet.

„Für die dämlichen Bullen hier sind wir Routine“, erklärte Eva ihrer Schwiegermutter, „sie wollen vorerst nichts unternehmen. Ich soll mich umhören, ja, ansonsten aber das Wochenende abwarten. Fast glaube ich, es war ein Fehler zu erwähnen, dass Ernst uns schon immer gern auf die Folter gespannt hat. Vermutlich hat man uns deshalb auf Montag vertröstet! Wenn er bis dahin nicht anruft ...“. Ein Schluchzen brach aus ihr heraus. „Du warst meine heimliche Hoffnung! Wen sonst würde Ernst anrufen, so ungern, wie er den Hörer in die Hand nimmt!“

„Mag sein, jaja ... aber das ist doch alles ...“, Evas Schwiegermutter unterbrach sich nur kurz, „... wirklich, mir fehlen die Worte.“ Eva am anderen Ende der Leitung hörte sie stoßweise atmen. „Abwarten ... umhören ...“, höhnte sie dann, „als ob das nicht leichter gesagt als getan ist! Sturköpfe allesamt, träge dazu - wie stellen die sich das nur vor!“

Eva schluckte und schwieg.

„Dabei sollte man meinen“, die Stimme am anderen Ende der Leitung wurde schrill, „wenn die nicht die nötige Erfahrung haben, wer dann? Bestimmt machen wir uns ganz umsonst Sorgen! Ernst wird eine Erschöpfungspause einlegen, wenn es ihm besser geht, meldet er sich!“ Ihre Stimme blieb weg, sie räusperte sich ausgiebig. „Mein Gott, Kind, wenn du was erfahren solltest, ruf mich sofort an! Und auch, wenn es nur um euch beide geht - halte mich bloß auf dem Laufenden, hörst du!“

Eva versprach es. Sie wischte die feuchtkalten Hände und die schweißnasse Hörmuschel an ihrer leichten Baumwollhose ab und blickte sich um.

Da stand sie nun in ihrem gottverlassenen Haus. Mutters Hinfälligkeit war der Auslöser gewesen, nur wegen ihr hatten sie gebaut. Viel zu groß mit der Einliegerwohnung, Haus und Garten verursachten stets eine Menge Arbeit.

Aber das war es nicht allein. Wie viel Planung hatte sie in den Besitz gesteckt, wie viel Hoffnung! Dazu die Illusion der Harmonie! Die Illusion hatte ihren Nährboden gefunden, nicht so die Harmonie. Mit dem Hausbau war sie still und leise verkümmert. Finanzielle Engpässe fielen Eva ein, ihre andauernde Müdigkeit, ihre Vertrauensseligkeit. Und Edda mit den roten Haaren, die zum falschen Zeitpunkt den Fuß in ihr Efeu umwobenes Wolkenkuckucksheim gesetzt hatte. Die im Moment in Italien weilte, aber an einem der nächsten Tage wie üblich aufkreuzen würde.

Unangemeldet, wie es ihre Art war.

Und ganz gegen Evas Willen.

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